Ein braver Soldat

von Sebastian ‘Steiner’ Weitkamp


Er stieg in den eisigen Februarwind, der den Perron von der Ostsee her bestrich. Der Himmel war grau und wolkenverhangen. Von Zeit zu Zeit riß die schwarze Masse auf und ein Sonnenstrahl schoß gleißend daraus hervor und ritzte einen Flecken Erde aus der Dunkelheit. Bevor der Zug für die Fahrt durch den Korridor plombiert worden war, hatte er sich eine Schachtel Zigaretten gekauft, die er in dem dunstigen Abteil die letzten Kilometer in der Manteltasche gehalten hatte. Nun rochen seine Finger wohlig und aromatisch nach dem frischen Tabak.
Er schlug den Mantelkragen hoch, schob den Hut weiter in die Stirn, griff den Koffer fester und stampfte gegen den Wind in die Ankunftshalle. Der hohe Bau war fast menschenleer. Seine Schritte hallten auf dem gefliesten Boden wider, als er zum Ausgang ging. Draußen empfing ihn ein leichter Nieselregen, der von der Danziger Bucht in Böen durch die Luft gepeitscht wurde. Das wellenartige Rauschen des Regens schlug gegen die wilhelminischen Bauten des Bahnhofsplatzes. Unter den Arkaden wartete er lange auf ein Taxi. Ein Bettler war die einzige Gesellschaft und dessen Blicke bohrten sich tief in seinen Rücken.
Im Automobil ließ er sich im Fond auf einer rissigen Lederbank nieder. Die feuchte Stadt flog in Schattierungen an den Fenstern vorbei. Dunkle Gestalten drückten sich an den Hauswänden von Nische zu Nische, schutzsuchend vor dem stärker werdenden Niederschlag. Und als er sie so laufen sah, erinnerten sie ihn an Menschen auf der Flucht. Nur selten glänzte eine Straßenlaterne hinein.
Im Stadtgraben 9 stieg er im Reichshof ab. Er trug einen falschen Namen ins Gästebuch ein, hinterlegte einen falschen Paß, bezahlte eine Nacht im voraus und begab sich auf sein Zimmer.
Das helle Mondlicht fiel schräg durch die dreckigen Fenster und traf halb auf einen erblindeten Spiegel. Er legte seinen Koffer auf das angelaufene Messingbett. Es war so durchgelegen, daß er froh war, keine Nacht darauf verbringen zu müssen. Er legte ab und stellte sich ans Fenster. Sein Blick fiel auf die Dächer der Stadt, die sich wie ein finsteres Meer vor ihm ausbreiteten. Er zerriß die Banderole der Zigarettenschachtel und fingerte durch das Silberpapier eine Zigarette heraus. Er rauchte stark, aber wenn er ‘draußen’ war, war es noch mehr. Die rote Glut war das einzig Warme in diesem trostlosen Zimmer.
Es war noch früh, und so schloß er sein Zimmer ab und folgten den ausgetretenen Stufen mit dem hochflorigem Teppich hinunter ins Foyer. Beim schläfrigen Nachtportier gab er seinen Schlüssel ab. Er schlenderte links durch die Glastür, auf der sich ein Jugendstilmuster auffächerte, in die Bar. Nur wenige Gäste saßen an den runden Tischen oder dem gleißendem Tresen. In ihr eigenes Leben vergraben starrten sie wie Flüchtling in die Gläser. Mehrere alte Gummibäume kauerten in ihren Messingkübeln in den Ecken und das Parkett gestand dem Kritallüster nur dumpf seinen Widerschein zu, während er in der Spiegelwand hinter der Bar tausendfach glänzte. Schwungvoll nahm er einen Barhocker und bestellte einen Old Fashioned. Das Grammophon leierte Yes, we have no Bananas und Ain’t She Sweet.
Geruhlich zog er eine Zigarette aus der verknitterten Schachtel und inhalierte bald darauf den aromatischen Rauch. Er beobachtete die anderen. Niemand sah zu ihm hinüber. An einem Tisch gegenüber unterhielt sich ein älterer Mann mit weißem Haar und hohen Geheimratsecken mit einer jungen Dame im grünen Trägerkleid. Der Herr trug einen Smoking, der an den Ärmeln zu kurz war und einen ausgewaschenen Fleck auf der rechten Tasche hatte. Die Frau hörte ihm gelangweilt zu. Ihre Blicke tasteten das Cocktailglas vor sich ab, während sie ihre Perlenkette durch die zarten Finger gleiten ließ.
Er vermied es in den großen Spiegel mit goldenem Brokatrahmen zu sehen, der sich ihm wie ein Feind gegenüber aufgebaut hatte. Doch einmal, nur einmal hatte er sich seine Vorsicht vergessen lassen, und er sah in zwei müde Augen. Müde durch all die Dinge, die sie gesehen hatten, die Gesichter, das Flehen. Sein Gesicht wirkte eingefallen und hohlwangig. Er machte die Drecksarbeit. Anfangs hatte er sich damit arrangiert und unbeschwert gelebt. Doch jetzt sehnte er sich nach einem anderen Leben.
In dieser Einsamkeit holte er ein verblaßtes Photo aus der Brieftasche. Zwei Männer in kurzen Hosen saßen inmitten von Kabelrollen an einem Funkgerät. Dichte Vegetation wucherte um sie herum. Beide hatten den Tropenhelm in den Nacken geschoben und lächelten den Photographen ausgelassen an. „Im Busch. Februar 1917. Für meinen treuen Gefährten,“ stand in blauer Tinte auf der Rückseite. Unterschrieben war die Note in einer aristokratischen Handschrift: „Hptm. von Kys.“ Als seine Augen die Unterschrift trafen, lächelte er leise und ehrlich.
Die Dame hatte den Herrn nun zu einem Tanz überreden können. Zu den peitschenden Rhythmen von Salty Dog hechelte die alte Gestalt auf dem Parkett und war bald am Ende ihrer Kräfte. Die Dame schien dies nicht stören. Sie wirbelte ihre Perlenkette durch die Luft und verbog ihren Körper in wilder Ekstase. Mit Trauer beobachtete er das ungleiche Paar.

*

Die letzte Stunde war er rastlos umhergegangen, hatte immer wieder auf die Uhr geschaut. Die Zeiger schlichen durch die Zeit. Seit er wieder hier war hatte er kein Licht gemacht. So lag der Raum im trüben Dunkel, und er war erleichtert, dadurch die Leere um ihn herum verdecken zu können. Der Aschenbecher hatte sich gefüllt und die Luft war dick und dunstig geworden, so daß er das Fenster öffnen mußte. Die kühle Nachtluft fuhr stechend in sein träges Gesicht und vertrieb die dumpfen Gedanken. Es hatte stark angefangen zu regnen. Der Wolkenbruch hämmerte in Myriaden gegen die Scheiben. Dicke Tropfen fielen auf das Sims und den Teppich.
Manchmal nahm er einen Schluck aus seiner Taschenflasche. Der importierte Whiskey brannte im Magen. Gegen zwölf Uhr ging er zum Koffer, die Polen hatten ihn nicht geöffnet. Sein Diplomatenausweis hinderte sie daran. Natürlich war sein Dokument echt, aber auf der Lohnliste des Auswärtigen Amtes würde man ihn vergebens suchen. Er nahm eine Mauserpistole, eine Lederjacke, einen Schlagring und ein Amulett heraus. Alle persönlichen Gegenstände steckte er in die Taschen. Schließlich kniete er vor dem Bett nieder und bekreuzigte sich. Noch auf den Knien besah er sich eine Photographie seiner Frau, die ihn verführerisch von unten herauf durch die kinnlangen Haare anlächelte. Er küßte es, bevor er es zurück in seine Jacke schob.
An der Tür blickte er sich noch einmal um. Niemand könnte ihn aus den hinterbliebenen Sachen identifizieren. Allesamt stammen sie aus der Asservatenkammer der Berliner Polizei. Er würde  nicht zurückkommen, um sie abzuholen.
Seine Lederjacke wehrte sich heftig gegen den Regen, der alles durchnäßte. Der Hut welkte auf seinem Kopf. Das Wasser, welches vom Trottoir in den Rinnstein rann, schluckte seine Schritte. Er brauchte nur zwei Blocks bis in die Gasse Am Sande, die verloren in der Nacht lag. Dort lag der kleine Buchladen von Jeremiah Vermi. Seit er den Namen bei der Befehlsausgabe gehört hatte, hatte er ihn gehaßt.
Als er durch die Straßen schlich war er der Erzengel, der das Leben dieses Mannes vernichten sollte. Er wußte nicht warum, aber sein Vorgesetzter hatte ihm gesagt, daß es nötig war. Dies bedeutete, daß Jeremiah Vermi Grenzen überschritten hatte, Grenzen, die kein Mensch überschreiten durfte. Grenzen, die jenseits der Vorstellungskraft lagen, Grenzen, die sich durch die unergründliche Tiefe der Sterne zogen.
Vermis Haus kauerte sich windschief zwischen zwei stolze Bürgerhäuser aus der Gründerzeit. Es war alles andere als furchteinflößend, sondern machte einen erbärmlichen Eindruck. Die Farbe an den Fensterrahmen splitterte, und der Putz gab langsam das Mauerwerk frei. Im Erdgeschoß gähnte die schwarze Höhle der Schaufensterscheibe. Er blieb einen Moment im strömenden Regen stehen, die Tropfen rannen ihm übers Gesicht und fielen vom Kinn hinab. Der Wind hatte wieder zugenommen und wehte durch die dunkle Gasse, trieb den Regen vor sich her und verfing sich geräuschvoll im Kopfsteinpflaster. Die Finsternis der Nacht schien sich zu verdichten, als er langsam auf das Haus zuschritt.
Die verrottete Holztür zum Hinterhof war unverschlossen. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines Menschen, der weiß, was er will. Den Grundriß des Grundstücks hatte er im Kopf, er hätte hier aufgewachsen sein können. Gegen Vorlage eines Polizeiausweises hatte eine verstörte Sekretärin des Bauamtes die Pläne ausgehändigt.
Der Hinterhof war dreckig und vom ständigen Niederschlag aufgeweicht. Die häßlichen Rückseiten der Mietshäuser umstanden den Platz. Alle Fensterläden waren geschlossen, kaum ein Licht drang in die Nacht. Das Geräusch des Regens war überall. Es kroch in jeder Ritze des Mauerwerks und grub sich in seinem Kopf fest. Das Mondlicht malte die wilden Schatten einer toten Ulme gegen die Hauswände. Er hatte keine Angst.
Leise wandte er sich nach links, stieg ein paar ausgetretene Stufen hinauf und öffnete geschickt das Schloß der Tür. Ohne ein Geräusch schwang sie auf und gab einen dunklen Flur preis. Links und rechts stapelten sich Bücher vom Boden bis fast zur Decke. Alte Bücher. Er zog die Mauser aus dem Halfter und schraubte einen Schalldämpfer auf. Seine Taschenlampe tastete sich über den ergrauten Teppich. Flackernd kam eine Tür und ein Treppenabsatz in Sicht. Die Tür führte zum Laden. Er beachtete sie nicht und schlich die Treppe hinauf. Alles war still. Oben roch es nach altem Schweiß und Zigaretten. In einer kleinen Küche türmte sich Geschirr im Spülstein. Alte Essensreste lagen auf dem Tisch. Im Schlafzimmer feuerte er sofort zwei Schüsse in die Decken und Kissen des Holzbettes, aber es war leer. Enttäuschung befiel ihn. Das Zimmer muß seit Tagen nicht benutzt worden sein. Eine Staubschicht hatte sich über alles gelegt. Es war länger nicht gelüftet worden. Verwunderung.
Er schlich hinab und warf einen Blick in das Kontor. Im Halbdunkel erkannte er nur Konturen. Der Regen trommelte melodisch gegen die Scheiben. Bücher, Folianten, Atlanten und Werke vergessener  Schriftsteller lagen überall; auf dem Boden, in Regalen quer durcheinander, in Kisten. Er hatte keine Angst. Er war schon öfter ‘draußen im Felde’ gewesen, wie sie es nannten.
Er erinnerte sich an den Verschlag unter der Treppe. Mit ruhiger Hand stieß er ihn auf. Schwarz wie der Styx floß der Abgrund vor ihm in die Tiefe. Modrige Luft stieg ihm in die Nase und ein Geruch, den er seit den Schützengräben Flanderns nicht mehr gespürt hatte: Leichengeruch. Eine Betontreppe machte kein Geräusch, als er seinen Fuß auf ihre Stufen setzte. Die Stille begann bedrohlich zu werden. Gedämpft hörte er den Wolkenbruch aus einer anderen Welt. Seine Kinnmuskeln spannten sich. Er umklammerte den runden Griff der Pistole. Die Knöchel traten weiß hervor.
Der Keller bestand nur aus einem großen Raum. Die verwesenden Leichen von zwei Männern und einer Frau lagen auf dem Boden oder vielmehr die Überreste davon. Er würgte den Schrecken schnell hinunter. Alles, was in den Akten stand, war wahr. Er war zu recht hier.
Im milchigen Licht tat sich ein Loch in der Wand auf. Ziegelbrocken breiteten sich auf dem Boden aus. Ein Stollen erstreckte sich ins Erdreich. Er zögerte eine schreckliche Sekunde, dann knirschte der Schutt unter seinen Stiefeln. Gebückt schlich er den ovalen Gang hinunter. Das Geräusch des Regens war endgültig verstummt. Die toten Wurzeln längst gefällter Bäume bildeten einen skurrilen Wandschmuck, der im zuckenden Kegel der Lampe zum Leben erwachte.
Nach ein paar Metern mündete der Stollen in eine unübersichtliche Höhle, deren Wände von  schleimigen, unnatürlichen Formen überzogen waren. Schwefelgeruch biß in der Nase. Auf unheilige Weise schien das Geflecht zu leben. Es warf dumpf platzende Blasen und erhellte den Raum matt mit phosphoreszierendem Licht. Das Glühen war am stärksten in Halbkugeln, die in dem erstarrten Sekret eingebettet waren. Wie ein Herzschlag pulsierten sie. Kleine, echsenartige Kreaturen wanden sich wie Embryos in diesen Zellen. Der Anblick raubte ihm den Atem. Dies überstieg alles, was er bis jetzt gesehen hatte. Erstarrt blieb er stehen. Das Ende der Höhle entzog sich seinem Blick, sie mußte gigantisch sein.
Unweit von ihm kauerte eine Gestalt vor einem rechteckigen Steinblock, der mit seltsamen Zeichen übersät war. Noch bevor er handeln konnte, fuhr das Wesen herum. Sein Anblick ließ ihn erzittern und ein stummer Schrei würgte sich die Kehle hinauf. Was ihn da fixierte war ein grauenhaftes Ding. Eine abscheuliche Mischung aus Mensch und Fledermaus, das Gesicht eine verzerrte Karikatur einer menschlichen Fratze, die ihn hämisch anzugrinsen schien. Dunkle Augen blitzten ghulisch. Vermis Gesicht. Lederartige Drachenflügel spannten sich vom Rücken zu vollem Umfang, als das Grauen auf ihn zu schwebte. Die Haut war braun und in Folge mannigfacher Metamorphosen tief vernarbt. Klauenhände hingen von dem unförmigen Körper herab. In rascher Folge verschoß er sein ganzes Magazin in den aufgeblähten Torso. Die Kugeln rissen ohne Wirkung große Stücke aus dem unheimlichen Fleisch. Er wirbelte herum, hetzte den Gang entlang. Das Röcheln seines Verfolgers dröhnte ihm in den Ohren. Er konnte den Regen nicht mehr hören. Er betete darum, endlich den Regen hören zu können. Oh Gott, dachte er, sei meiner armen Seele gnädig.
Plötzlich fühlte er warme Flammen von hinten durch seinen Körper dringen. Kurz hochgehoben sackte er zu Boden. Blut schmeckte er im ganzen Mund. Seine Augenlider flackerten, Kraft verließ seine Muskeln. Kurz bevor eine schwarze Woge des unendlichen Ozeanes über ihm zusammenbrach, sah er noch einmal seine Frau, wie sie ihn verführerisch von unten herauf durch die kinnlangen Haare anlächelte. Und er glaubte, den vertrauten Duft ihrer warmen Haut zu spüren.
 


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