Er stieg in den eisigen Februarwind, der den Perron von der Ostsee
her bestrich. Der Himmel war grau und wolkenverhangen. Von Zeit zu Zeit
riß die schwarze Masse auf und ein Sonnenstrahl schoß gleißend
daraus hervor und ritzte einen Flecken Erde aus der Dunkelheit. Bevor der
Zug für die Fahrt durch den Korridor plombiert worden war, hatte er
sich eine Schachtel Zigaretten gekauft, die er in dem dunstigen Abteil
die letzten Kilometer in der Manteltasche gehalten hatte. Nun rochen seine
Finger wohlig und aromatisch nach dem frischen Tabak.
Er schlug den Mantelkragen hoch, schob den Hut weiter in die Stirn,
griff den Koffer fester und stampfte gegen den Wind in die Ankunftshalle.
Der hohe Bau war fast menschenleer. Seine Schritte hallten auf dem gefliesten
Boden wider, als er zum Ausgang ging. Draußen empfing ihn ein leichter
Nieselregen, der von der Danziger Bucht in Böen durch die Luft gepeitscht
wurde. Das wellenartige Rauschen des Regens schlug gegen die wilhelminischen
Bauten des Bahnhofsplatzes. Unter den Arkaden wartete er lange auf ein
Taxi. Ein Bettler war die einzige Gesellschaft und dessen Blicke bohrten
sich tief in seinen Rücken.
Im Automobil ließ er sich im Fond auf einer rissigen Lederbank
nieder. Die feuchte Stadt flog in Schattierungen an den Fenstern vorbei.
Dunkle Gestalten drückten sich an den Hauswänden von Nische zu
Nische, schutzsuchend vor dem stärker werdenden Niederschlag. Und
als er sie so laufen sah, erinnerten sie ihn an Menschen auf der Flucht.
Nur selten glänzte eine Straßenlaterne hinein.
Im Stadtgraben 9 stieg er im Reichshof ab. Er trug einen falschen Namen
ins Gästebuch ein, hinterlegte einen falschen Paß, bezahlte
eine Nacht im voraus und begab sich auf sein Zimmer.
Das helle Mondlicht fiel schräg durch die dreckigen Fenster und
traf halb auf einen erblindeten Spiegel. Er legte seinen Koffer auf das
angelaufene Messingbett. Es war so durchgelegen, daß er froh war,
keine Nacht darauf verbringen zu müssen. Er legte ab und stellte sich
ans Fenster. Sein Blick fiel auf die Dächer der Stadt, die sich wie
ein finsteres Meer vor ihm ausbreiteten. Er zerriß die Banderole
der Zigarettenschachtel und fingerte durch das Silberpapier eine Zigarette
heraus. Er rauchte stark, aber wenn er ‘draußen’ war, war es noch
mehr. Die rote Glut war das einzig Warme in diesem trostlosen Zimmer.
Es war noch früh, und so schloß er sein Zimmer ab und folgten
den ausgetretenen Stufen mit dem hochflorigem Teppich hinunter ins Foyer.
Beim schläfrigen Nachtportier gab er seinen Schlüssel ab. Er
schlenderte links durch die Glastür, auf der sich ein Jugendstilmuster
auffächerte, in die Bar. Nur wenige Gäste saßen an den
runden Tischen oder dem gleißendem Tresen. In ihr eigenes Leben vergraben
starrten sie wie Flüchtling in die Gläser. Mehrere alte Gummibäume
kauerten in ihren Messingkübeln in den Ecken und das Parkett gestand
dem Kritallüster nur dumpf seinen Widerschein zu, während er
in der Spiegelwand hinter der Bar tausendfach glänzte. Schwungvoll
nahm er einen Barhocker und bestellte einen Old Fashioned. Das Grammophon
leierte Yes, we have no Bananas und Ain’t She Sweet.
Geruhlich zog er eine Zigarette aus der verknitterten Schachtel und
inhalierte bald darauf den aromatischen Rauch. Er beobachtete die anderen.
Niemand sah zu ihm hinüber. An einem Tisch gegenüber unterhielt
sich ein älterer Mann mit weißem Haar und hohen Geheimratsecken
mit einer jungen Dame im grünen Trägerkleid. Der Herr trug einen
Smoking, der an den Ärmeln zu kurz war und einen ausgewaschenen Fleck
auf der rechten Tasche hatte. Die Frau hörte ihm gelangweilt zu. Ihre
Blicke tasteten das Cocktailglas vor sich ab, während sie ihre Perlenkette
durch die zarten Finger gleiten ließ.
Er vermied es in den großen Spiegel mit goldenem Brokatrahmen
zu sehen, der sich ihm wie ein Feind gegenüber aufgebaut hatte. Doch
einmal, nur einmal hatte er sich seine Vorsicht vergessen lassen, und er
sah in zwei müde Augen. Müde durch all die Dinge, die sie gesehen
hatten, die Gesichter, das Flehen. Sein Gesicht wirkte eingefallen und
hohlwangig. Er machte die Drecksarbeit. Anfangs hatte er sich damit arrangiert
und unbeschwert gelebt. Doch jetzt sehnte er sich nach einem anderen Leben.
In dieser Einsamkeit holte er ein verblaßtes Photo aus der Brieftasche.
Zwei Männer in kurzen Hosen saßen inmitten von Kabelrollen an
einem Funkgerät. Dichte Vegetation wucherte um sie herum. Beide hatten
den Tropenhelm in den Nacken geschoben und lächelten den Photographen
ausgelassen an. „Im Busch. Februar 1917. Für meinen treuen Gefährten,“
stand in blauer Tinte auf der Rückseite. Unterschrieben war die Note
in einer aristokratischen Handschrift: „Hptm. von Kys.“ Als seine Augen
die Unterschrift trafen, lächelte er leise und ehrlich.
Die Dame hatte den Herrn nun zu einem Tanz überreden können.
Zu den peitschenden Rhythmen von Salty Dog hechelte die alte Gestalt auf
dem Parkett und war bald am Ende ihrer Kräfte. Die Dame schien dies
nicht stören. Sie wirbelte ihre Perlenkette durch die Luft und verbog
ihren Körper in wilder Ekstase. Mit Trauer beobachtete er das ungleiche
Paar.
*
Die letzte Stunde war er rastlos umhergegangen, hatte immer wieder auf
die Uhr geschaut. Die Zeiger schlichen durch die Zeit. Seit er wieder hier
war hatte er kein Licht gemacht. So lag der Raum im trüben Dunkel,
und er war erleichtert, dadurch die Leere um ihn herum verdecken zu können.
Der Aschenbecher hatte sich gefüllt und die Luft war dick und dunstig
geworden, so daß er das Fenster öffnen mußte. Die kühle
Nachtluft fuhr stechend in sein träges Gesicht und vertrieb die dumpfen
Gedanken. Es hatte stark angefangen zu regnen. Der Wolkenbruch hämmerte
in Myriaden gegen die Scheiben. Dicke Tropfen fielen auf das Sims und den
Teppich.
Manchmal nahm er einen Schluck aus seiner Taschenflasche. Der importierte
Whiskey brannte im Magen. Gegen zwölf Uhr ging er zum Koffer, die
Polen hatten ihn nicht geöffnet. Sein Diplomatenausweis hinderte sie
daran. Natürlich war sein Dokument echt, aber auf der Lohnliste des
Auswärtigen Amtes würde man ihn vergebens suchen. Er nahm eine
Mauserpistole, eine Lederjacke, einen Schlagring und ein Amulett heraus.
Alle persönlichen Gegenstände steckte er in die Taschen. Schließlich
kniete er vor dem Bett nieder und bekreuzigte sich. Noch auf den Knien
besah er sich eine Photographie seiner Frau, die ihn verführerisch
von unten herauf durch die kinnlangen Haare anlächelte. Er küßte
es, bevor er es zurück in seine Jacke schob.
An der Tür blickte er sich noch einmal um. Niemand könnte
ihn aus den hinterbliebenen Sachen identifizieren. Allesamt stammen sie
aus der Asservatenkammer der Berliner Polizei. Er würde nicht
zurückkommen, um sie abzuholen.
Seine Lederjacke wehrte sich heftig gegen den Regen, der alles durchnäßte.
Der Hut welkte auf seinem Kopf. Das Wasser, welches vom Trottoir in den
Rinnstein rann, schluckte seine Schritte. Er brauchte nur zwei Blocks bis
in die Gasse Am Sande, die verloren in der Nacht lag. Dort lag der kleine
Buchladen von Jeremiah Vermi. Seit er den Namen bei der Befehlsausgabe
gehört hatte, hatte er ihn gehaßt.
Als er durch die Straßen schlich war er der Erzengel, der das
Leben dieses Mannes vernichten sollte. Er wußte nicht warum, aber
sein Vorgesetzter hatte ihm gesagt, daß es nötig war. Dies bedeutete,
daß Jeremiah Vermi Grenzen überschritten hatte, Grenzen, die
kein Mensch überschreiten durfte. Grenzen, die jenseits der Vorstellungskraft
lagen, Grenzen, die sich durch die unergründliche Tiefe der Sterne
zogen.
Vermis Haus kauerte sich windschief zwischen zwei stolze Bürgerhäuser
aus der Gründerzeit. Es war alles andere als furchteinflößend,
sondern machte einen erbärmlichen Eindruck. Die Farbe an den Fensterrahmen
splitterte, und der Putz gab langsam das Mauerwerk frei. Im Erdgeschoß
gähnte die schwarze Höhle der Schaufensterscheibe. Er blieb einen
Moment im strömenden Regen stehen, die Tropfen rannen ihm übers
Gesicht und fielen vom Kinn hinab. Der Wind hatte wieder zugenommen und
wehte durch die dunkle Gasse, trieb den Regen vor sich her und verfing
sich geräuschvoll im Kopfsteinpflaster. Die Finsternis der Nacht schien
sich zu verdichten, als er langsam auf das Haus zuschritt.
Die verrottete Holztür zum Hinterhof war unverschlossen. Er bewegte
sich mit der Sicherheit eines Menschen, der weiß, was er will. Den
Grundriß des Grundstücks hatte er im Kopf, er hätte hier
aufgewachsen sein können. Gegen Vorlage eines Polizeiausweises hatte
eine verstörte Sekretärin des Bauamtes die Pläne ausgehändigt.
Der Hinterhof war dreckig und vom ständigen Niederschlag aufgeweicht.
Die häßlichen Rückseiten der Mietshäuser umstanden
den Platz. Alle Fensterläden waren geschlossen, kaum ein Licht drang
in die Nacht. Das Geräusch des Regens war überall. Es kroch in
jeder Ritze des Mauerwerks und grub sich in seinem Kopf fest. Das Mondlicht
malte die wilden Schatten einer toten Ulme gegen die Hauswände. Er
hatte keine Angst.
Leise wandte er sich nach links, stieg ein paar ausgetretene Stufen
hinauf und öffnete geschickt das Schloß der Tür. Ohne ein
Geräusch schwang sie auf und gab einen dunklen Flur preis. Links und
rechts stapelten sich Bücher vom Boden bis fast zur Decke. Alte Bücher.
Er zog die Mauser aus dem Halfter und schraubte einen Schalldämpfer
auf. Seine Taschenlampe tastete sich über den ergrauten Teppich. Flackernd
kam eine Tür und ein Treppenabsatz in Sicht. Die Tür führte
zum Laden. Er beachtete sie nicht und schlich die Treppe hinauf. Alles
war still. Oben roch es nach altem Schweiß und Zigaretten. In einer
kleinen Küche türmte sich Geschirr im Spülstein. Alte Essensreste
lagen auf dem Tisch. Im Schlafzimmer feuerte er sofort zwei Schüsse
in die Decken und Kissen des Holzbettes, aber es war leer. Enttäuschung
befiel ihn. Das Zimmer muß seit Tagen nicht benutzt worden sein.
Eine Staubschicht hatte sich über alles gelegt. Es war länger
nicht gelüftet worden. Verwunderung.
Er schlich hinab und warf einen Blick in das Kontor. Im Halbdunkel
erkannte er nur Konturen. Der Regen trommelte melodisch gegen die Scheiben.
Bücher, Folianten, Atlanten und Werke vergessener Schriftsteller
lagen überall; auf dem Boden, in Regalen quer durcheinander, in Kisten.
Er hatte keine Angst. Er war schon öfter ‘draußen im Felde’
gewesen, wie sie es nannten.
Er erinnerte sich an den Verschlag unter der Treppe. Mit ruhiger Hand
stieß er ihn auf. Schwarz wie der Styx floß der Abgrund vor
ihm in die Tiefe. Modrige Luft stieg ihm in die Nase und ein Geruch, den
er seit den Schützengräben Flanderns nicht mehr gespürt
hatte: Leichengeruch. Eine Betontreppe machte kein Geräusch, als er
seinen Fuß auf ihre Stufen setzte. Die Stille begann bedrohlich zu
werden. Gedämpft hörte er den Wolkenbruch aus einer anderen Welt.
Seine Kinnmuskeln spannten sich. Er umklammerte den runden Griff der Pistole.
Die Knöchel traten weiß hervor.
Der Keller bestand nur aus einem großen Raum. Die verwesenden
Leichen von zwei Männern und einer Frau lagen auf dem Boden oder vielmehr
die Überreste davon. Er würgte den Schrecken schnell hinunter.
Alles, was in den Akten stand, war wahr. Er war zu recht hier.
Im milchigen Licht tat sich ein Loch in der Wand auf. Ziegelbrocken
breiteten sich auf dem Boden aus. Ein Stollen erstreckte sich ins Erdreich.
Er zögerte eine schreckliche Sekunde, dann knirschte der Schutt unter
seinen Stiefeln. Gebückt schlich er den ovalen Gang hinunter. Das
Geräusch des Regens war endgültig verstummt. Die toten Wurzeln
längst gefällter Bäume bildeten einen skurrilen Wandschmuck,
der im zuckenden Kegel der Lampe zum Leben erwachte.
Nach ein paar Metern mündete der Stollen in eine unübersichtliche
Höhle, deren Wände von schleimigen, unnatürlichen
Formen überzogen waren. Schwefelgeruch biß in der Nase. Auf
unheilige Weise schien das Geflecht zu leben. Es warf dumpf platzende Blasen
und erhellte den Raum matt mit phosphoreszierendem Licht. Das Glühen
war am stärksten in Halbkugeln, die in dem erstarrten Sekret eingebettet
waren. Wie ein Herzschlag pulsierten sie. Kleine, echsenartige Kreaturen
wanden sich wie Embryos in diesen Zellen. Der Anblick raubte ihm den Atem.
Dies überstieg alles, was er bis jetzt gesehen hatte. Erstarrt blieb
er stehen. Das Ende der Höhle entzog sich seinem Blick, sie mußte
gigantisch sein.
Unweit von ihm kauerte eine Gestalt vor einem rechteckigen Steinblock,
der mit seltsamen Zeichen übersät war. Noch bevor er handeln
konnte, fuhr das Wesen herum. Sein Anblick ließ ihn erzittern und
ein stummer Schrei würgte sich die Kehle hinauf. Was ihn da fixierte
war ein grauenhaftes Ding. Eine abscheuliche Mischung aus Mensch und Fledermaus,
das Gesicht eine verzerrte Karikatur einer menschlichen Fratze, die ihn
hämisch anzugrinsen schien. Dunkle Augen blitzten ghulisch. Vermis
Gesicht. Lederartige Drachenflügel spannten sich vom Rücken zu
vollem Umfang, als das Grauen auf ihn zu schwebte. Die Haut war braun und
in Folge mannigfacher Metamorphosen tief vernarbt. Klauenhände hingen
von dem unförmigen Körper herab. In rascher Folge verschoß
er sein ganzes Magazin in den aufgeblähten Torso. Die Kugeln rissen
ohne Wirkung große Stücke aus dem unheimlichen Fleisch. Er wirbelte
herum, hetzte den Gang entlang. Das Röcheln seines Verfolgers dröhnte
ihm in den Ohren. Er konnte den Regen nicht mehr hören. Er betete
darum, endlich den Regen hören zu können. Oh Gott, dachte er,
sei meiner armen Seele gnädig.
Plötzlich fühlte er warme Flammen von hinten durch seinen
Körper dringen. Kurz hochgehoben sackte er zu Boden. Blut schmeckte
er im ganzen Mund. Seine Augenlider flackerten, Kraft verließ seine
Muskeln. Kurz bevor eine schwarze Woge des unendlichen Ozeanes über
ihm zusammenbrach, sah er noch einmal seine Frau, wie sie ihn verführerisch
von unten herauf durch die kinnlangen Haare anlächelte. Und er glaubte,
den vertrauten Duft ihrer warmen Haut zu spüren.