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Für Goethe begannen alle Naturbetrachtungen und alles
Naturverständnis mit dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck; also nicht
mit einer durch Apparaturen ausgefilterten, der Natur gewissermassen
abgezwungenen Einzelerscheinung, sondern mit dem unmittelbar unseren Sinnen
offenen, freien Naturgeschehen. Greifen wir eine beliebige Stelle aus dem
Abschnitt »Physiologische Farben« der Goetheschen Farbenlehre
heraus. Der Abstieg vom beschneiten Brocken an einem Winterabend gibt
Anlass zu folgender Beobachtung: »Waren den Tag über bei dem
gelblichen Ton des Schnees schon leise violette Schatten bemerklich
gewesen, so musste man sie nun für hochblau ansprechen, als ein
gesteigertes Gelb von den beleuchteten Teilen widerschien. Als aber die
Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte und ihre durch die
stärkeren Dünste höchstgemässigten Strahlen die ganze
mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da
verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner
Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem
Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer
lebhafter. Man glaubte, sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles
hatte sich in die zwei lebhaften und so schön über einstimmenden
Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung
sich in eine graue Dämmerung und nach und nach in eine mond- und
sternhelle Nacht verlor.«
Aber Goethe blieb bei der unmittelbaren Beobachtung nicht stehen. Er wusste
sehr wohl, dass erst mit dem Leitfaden eines zunächst nur vermuteten,
dann aber im Erfolg zur Gewissheit werdenden Zusammenhangs aus dem
unmittelbaren Eindruck auch Erkenntnis werden kann. Ich zitiere eine Stelle
aus dem Vorwort zur Farbenlehre: »Denn das blosse Anblicken einer
Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein
Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein
Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem
aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewusstsein,
mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes zu
bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist
nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten,
unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig
und nützlich werden soll.«
»Die Abstraktion, vor der wir uns fürchten.« An dieser
Stelle ist nun schon genau bezeichnet, wo Goethes Weg sich von dem der
geltenden Naturwissenschaft trennen muss. Goethe weiss, alle Erkenntnis
bedarf der Bilder, der Verknüpfung, der sinngebenden Strukturen. Ohne
sie wäre Erkenntnis unmöglich. Aber der Weg zu diesen Strukturen
führt unweigerlich später in die Abstraktion. Das hatte Goethe
schon bei seinen Untersuchungen zur Morphologie der Pflanzen erlebt. In den
so verschiedenartigen Gestalten der Pflanzen, die er besonders auf seiner
italienischen Reise beobachtete, glaubte er bei eingehenderem Studium immer
deutlicher ein zugrundeliegendes, einheitliches Prinzip zu erkennen. Er
sprach von der »wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur
immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt«, und
von hier gelangt er zur Vorstellung eines Urphänomens, der Urpflanze.
»Mit diesem Modell«, sagt Goethe, »und dem Schlüssel
dazu, kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die, wenn sie
auch nicht existieren, doch existieren könnten und eine innere
Wahrheit und Notwendigkeit haben.« Hier steht Goethe an der Grenze
der Abstraktion, vor der er sich fürchtete. Goethe hat sich selbst
versagt, diese Grenze zu überschreiten. Er hat auch gewarnt und
gemeint, die Physiker und die Philosophen sollten es ebenso halten.
»Wäre denn auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt
immer noch das Übel, dass man es nicht als solches anerkennen will,
dass wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir
doch hier die Grenzen des Schauens eingestehen sollten. Der Naturforscher
lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit
bestehen.« Die Grenze zum Abstrakten soll also nicht
überschritten werden. Dort, wo die Grenze des Schauens erreicht ist,
soll der Weg nicht fortgesetzt werden, indem man das Schauen durch
abstraktes Denken ersetzt. Goethe war überzeugt, dass das Lösen
von der sinnlich wirklichen Welt, das Betreten dieses grenzenlosen Bereichs
der Abstraktion, zu mehr Schlechtem als Gutem führen müsse.
Aber die Naturwissenschaft war schon seit Newton andere Wege gegangen. Sie
hat die Abstraktion von Anfang an nicht gefürchtet, und ihre Erfolge
bei der Erklärung des Planetensystems, bei der praktischen Anwendung
der Mechanik, bei der Konstruktion optischer Apparate und vielem anderen
haben ihr scheinbar recht gegeben, und sie haben schnell dazu geführt,
dass die Warnungen Goethes überhört wurden. Diese
Naturwissenschaft hat sich als eigentlich von Newtons grossem Werk, den
»Philosophiae naturalis principia mathematica«, bis zum
heutigen Tage völlig geradlinig und folgerichtig entwickelt. Ihre
Auswirkungen in der Technik haben das Bild der Erde umgestaltet.
In dieser landläufigen Naturwissenschaft wird die Abstraktion an zwei
etwas verschiedenen Stellen vollzogen. Die Aufgabe lautet ja, in der bunten
Vielfalt der Erscheinungen das Einfache zu erkennen. Das Bestreben der
Physiker musste also darauf gerichtet sein, aus der verwirrenden
Kompliziertheit der Phänomene einfache Vorgänge
herauszuschälen. Aber was ist einfach? Seit Galilei und Newton lautet
die Antwort: Einfach ist ein Vorgang, dessen gesetzmässiger Ablauf
quantitativ, in allen Einzelheiten, mathematisch ohne Schwierigkeiten
dargestellt werden kann. Der einfache Vorgang ist also nicht jener, den uns
die Natur unmittelbar darbietet; sondern der Physiker muss durch manchmal
recht komplizierte Apparate das bunte Gemisch der Phänomene erst
trennen, das Wichtige von allem unnötigen Beiwerk reinigen, bis der
eine »einfache« Vorgang allein und deutlich hervortritt, so
dass man eben von allen Nebenerscheinungen absehen, das heisst,
abstrahieren kann. Das ist die eine Form der Abstraktion, und Goethe meint
dazu, dass man damit eigentlich schon die Natur selbst vertrieben habe. Er
sagt: »Nur begegnen wir der kühnen Behauptung, das sei nun auch
noch Natur, wenigstens mit einem stillen Lächeln, einem leisen
Kopfschütteln; kommt es doch dem Architekten nicht in den Sinn, seine
Paläste für Gebirgslagen und Wälder auszugeben.«
Die andere Form der Abstraktion besteht im Gebrauch der Mathematik zu
Darstellung der Phänomene. In der Mechanik Newtons hat sich zum
erstenmal gezeigt - und das war der Grund für ihren enormen Erfolg -,
dass in der mathematischen Beschreibung riesige Erfahrungsbereiche
einheitlich zusammengefasst und damit einfach verstanden werden
können. Die Fallgesetze Galileis, die Bewegungen des Mondes um die
Erde, die der Planeten um die Sonne, die Schwingungen eines Pendels, die
Bahn eines geworfenen Steins, alle diese Erscheinungen konnten aus der
einen Grundannahme der Newtonschen Mechanik, aus der Gleichung: Masse x
Beschleunigung = Kraft, zusammen mit dem Gravitationsgesetz, mathematisch
hergeleitet werden. Die abbildende mathematische Gleichung war also der
abstrakte Schlüssel zum einheitlichen Verständnis sehr weiter
Naturbereiche; und gegen das Vertrauen in die öffnende Kraft dieses
Schlüssels hat Goethe vergeblich angekämpft. In einem Brief an
Zelter steht: »Und das ist eben das grösste Unheil der neueren
Physik, das man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und
bloss in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen,
ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will. Ebenso
ist es mit dem Berechnen. Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen
lässt, sowie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen
Experiment bringen lässt.«
Hat Goethe die ordnende Kraft, die Erkenntnisleistung der
naturwissenschaftlichen Methode, Experiment und Mathematik, wirklich nicht
erkannt? Hat er den Gegner unterschätzt, gegen den er in der
Farbenlehre und an vielen anderen Stellen so unermüdlich gekämpft
hat? Oder hat er diese Kraft nicht erkennen wollen, weil für ihn Werte
auf dem Spiel standen, die er nicht zu opfern bereit war? Man wird wohl
antworten müssen, dass Goethe diesen abstrakten Weg zum einheitlichen
Verständnis nicht beschreiten wollte, weil er ihm zu gefährlich
schien.
Die Gefahren, vor denen Goethe sich hier fürchtete, hat er wohl
nirgends genau bezeichnet. Aber die berühmteste Gestalt aus Goethes
Dichtung, sein Faust, lässt uns ahnen, worum es sich handelt. Faust
ist neben vielem anderen auch ein enttäuschter Physiker. Er hat sich
in seiner Studierstube mit Apparaten umgeben. Doch er sagt: »Ihr
Instrumente freilich spottet mein, mit Rad und Kämmen, Walz und
Bügel: Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein; zwar euer
Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.« Die geheimnisvollen
Zeichen, die er im Buch des Nostradamus aufsucht, sind vielleicht den
Chiffren der Mathematik irgendwie verwandt. Und diese ganze Welt der
Chiffren und der Instrumente, jener unersättliche Drang nach immer
weiterer, immer tieferer, immer abstrakterer Erkenntnis veranlasst ihn, den
Verzweifelnden, den Pakt mit dem Teufel zu schliessen. Der Weg, der aus dem
natürlichen Leben heraus in die abstrakte Erkenntnis führt, kann
also beim Teufel enden. Das war die Gefahr, die Goethes Haltung der
naturwissenschaftlichen-technischen Welt gegenüber bestimmte. Goethe
spürte die dämonischen Kräfte, die in dieser Entwicklung
wirksam werden, und er glaubte ihnen ausweichen zu sollen. Aber, so wird
man vielleicht antworten müssen, so leicht kann man dem Teufel nicht
ausweichen.
Goethe selbst hat schon früh Kompromisse schliessen müssen. Der
wichtigste war wohl die Zustimmung zum kopernikanischen Weltbild, dessen
Überzeugungskraft auch er nicht widerstehen konnte. Aber auch hier
wusste Goethe, wieviel dabei geopfert werden muss. Ich zitiere wieder aus
der Farbenlehre: »Doch unter allen Entdeckungen und
Überzeugungen möchte nichts eine grössere Wirkung auf den
menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus. Kaum
war die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte
sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls
zu sein. Vielleicht ist noch nie eine grössere Forderung an die
Menschheit geschehen; denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in
Dunst und Rauch auf, ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld,
Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die
Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, dass
man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise
einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu
einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Grossheit der
Gesinnung berechtigte und aufforderte.«
Diese Stelle wird man auch allen jenen entgegenhalten müssen, die, um
den von Goethe gefürchteten Gefahren zu entgehen, selbst in unserer
Zeit versuchen, die Richtigkeit, die Verbindlichkeit der neuzeitlichen
Naturwissenschaft in Zweifel zu ziehen. Da wird etwa darauf hingewiesen,
dass auch diese Naturwissenschaft ihre Ansichten im Laufe der Zeit
ändere oder modifiziere, dass zum Beispiel die Newtonsche Mechanik
heute nicht mehr als richtig anerkannt werde und durch die
Relativitätstheorie und die Quantentheorie ersetzt worden sei, dass
man also allen Grund habe, den Ansprüchen dieser Naturwissenschaft
gegenüber skeptisch zu sein. Dieser Einwand beruht aber auf einem
Missverständnis, wie man zum Beispiel gerade an der Frage nach der
Stellung der Erde im Planetensystem erkennen kann. Es ist zwar richtig,
dass die Einsteinsche Relativitätstheorie die Möglichkeit
offenlässt, die Erde als ruhend, die Sonne als um die Erde bewegt
anzusehen. Aber dadurch ändert sich gar nichts an der entscheidenden
Behauptung der Newtonschen Theorie, dass die Sonne mit ihrer starken
Gravitationswirkung die Bahn der Planeten bestimme. Dass man also das
Planetensystem nur wirklich verstehen könne, wenn man von der Sonne
als Mittelpunkt, als Zentrum der Gravitationskräfte ausgeht. Man kann,
das sei hier besonders betont, den Ergebnissen der modernen
Naturwissenschaft sicher nicht entgehen, wenn man ihre Methodik zugibt; und
ihre Methodik lautet: Beobachtung, die zum Experiment verfeinert wird, und
rationale Analyse, die in mathematischer Darstellung ihre präzise
Gestalt annimmt. Die Richtigkeit der Ergebnisse kann man nicht ernstlich in
Zweifel ziehen, wenn man Experiment und rationale Analyse zulässt. Man
kann ihr aber vielleicht die Wertfrage entgegenstellen: Ist die so
gewonnene Erkenntnis wertvoll?
Wenn man diese Frage zunächst nicht im Goetheschen Sinne zu
beantworten sucht, sondern, dem Geist unserer Zeit entsprechend, auch ohne
viel Skrupel das Nützlichkeitsargument zulässt, so kann man hier
auf die Errungenschaften der modernen Wissenschaft und Technik hinweisen;
auf die wirksame Beseitigung mancherlei Mangels, auf die Linderung der Not
des Kranken durch die moderne Medizin, auf die Bequemlichkeit des Verkehrs
und vieles andere. Sicher hätte Goethe, der ja tätig im Leben
stehen wollte, solchen Argumenten viel Verständnis entgegengebracht.
Gerade wenn man von der Situation des Menschen in dieser Welt ausgeht, von
den Schwierigkeiten, die ihn bedrängen, von den Forderungen, die von
anderen an ihn gestellt werden, so wird man die Möglichkeit, hier
praktisch und wirksam tätig zu werden, anderen helfen zu können
und die Lebensverhältnisse allgemein zu bessern, sehr hoch
einschätzen. Man braucht bei Goethe nur grosse Teile der Wanderjahre
oder die letzten Abschnitte des Faust nachzulesen, um zu erkennen, wie
ernst der Dichter gerade diese Seite unseres Problems genommen hat. Von den
verschiedenen Aspekten der technisch-naturwissenschaftlichen Welt war ihm
der pragmatische sicher am verständlichsten. Aber Goethe hat auch hier
die Furcht nicht loswerden können, dass der Teufel dabei seine Hand im
Spiel habe. Im letzten Akt des Faust wird der Erfolg, der Reichtum des
tätigen Lebens, mit dem Mord an Philemon und Baucis ins Absurde
verkehrt. Aber auch dort, wo die Hand des Teufels nicht so unmittelbar
sichtbar wird, bleibt das Geschehen von seiner Wirksamkeit bedroht. Goethe
hat erkannt, dass die fortschreitende Umgestaltung der Welt durch die
Verbindung von Technik und Naturwissenschaft nicht aufzuhalten war. Er hat
es in den Wanderjahren mit Sorge ausgesprochen: »Das
überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich. Es
wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam. Aber es hat seine
Richtung genommen, es wird kommen und treffen.« Goethe wusste also,
was bevorstand, und er hat sich Gedanken darüber gemacht, wie dieses
Geschehen auf das Verhalten der Menschen zurückwirken würde. Im
Briefwechsel mit Zelter steht: »Reichtum und Schnelligkeit ist, was
die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahn, Schnellpost,
Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Kommunikation
sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu
überbilden und dadurch in der Mittelmässigkeit zu verharren.
Eigentlich ist es ein Jahrhundert für die fähigen Köpfe,
für leicht fassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen
Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge
fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum höchsten begabt
sind.« Oder auch in den Wanderjahren: »Es ist jetzt die Zeit
der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in
diesem Sinne wirkt.« Goethe hat also ein erhebliches Stück Weges
vorausschauen können, und er hat das, was bevorstand, mit
grösster Sorge betrachtet.
Inzwischen sind wieder fast anderthalb Jahrhunderte vergangen, und wir
wissen, wohin dieser Weg bis heute geführt hat. Düsenflugzeuge,
elektronische Rechenmaschinen, Mondraketen, Atombomben, das sind etwa die
letzten Meilensteine, denen wir am Wegrand begegnet sind. Die von der
Newtonschen Naturwissenschaft bestimmte Welt, von der Goethe hoffte, dass
er ihr ausweichen könnte, ist also unsere Wirklichkeit geworden, und es
hilft uns gar nichts, daran zu denken, dass in ihr auch Fausts Partner
seine Hand im Spiele hat. Man muss es hinnehmen, so wie man es zu allen
Zeiten hingenommen hat. Dabei sind wir noch lange nicht am Ende dieses Weges
angelangt. Wahrscheinlich ist die Zeit nicht mehr fern, in der auch die
Biologie in diesen Entwicklungsprozess der Technik voll einbezogen wird.
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Dass sich dann die Gefahren vervielfachen, selbst gegenüber der Bedrohung
durch die Atomwaffen, ist schon gelegentlich ausgesprochen worden. Am
schärfsten vielleicht in jener mitleidlosen Karikatur einer zukünftigen
Welt, die Huxley unter dem Titel »Brave new world« , eine
»herrliche, neue Welt« , gezeichnet hat. Die Möglichkeit,
Menschen für die ihnen zugewiesenen Zwecke zu züchten, das ganze Leben auf
der Erde rationell, das heisst durch das Streben nach Zweckmässigkeit zu ordnen
und damit allen Sinnes zu entleeren, ist hier mit schauerlicher Konsequenz
ad absurdum geführt worden. Aber man braucht gar nicht so weit zu gehen, um
zu erkennen, dass Zweckmässigkeit überhaupt kein Wert ist, sondern die
Wertfrage nur um eine Stelle verschiebt; nämlich zu der anderen Frage: ist
der Zweck wertvoll, dem die betreffenden Erkenntnisse und Möglichkeiten
gemäss sind, dem sie dienen sollen?
Die moderne Medizin hat die grossen Seuchen auf der Erde weitgehend
ausgerottet. Sie hat das Leben vieler Kranker gerettet, unzähligen Menschen
schreckliche Leiden erspart, aber sie hat auch zu jener Bevölkerungsexplosion
auf der Erde geführt, die dann, wenn sie nicht in relativ naher Zukunft
durch friedliche organisatorische Massnahmen gebremst werden kann, in
entsetzlichen Katastrophen enden muss. Wer kann wissen, ob die moderne
Medizin ihre Ziele überall richtig setzt?
Die moderne Naturwissenschaft vermittelt Erkenntnisse, deren Richtigkeit im
ganzen nicht bezweifelt werden kann; und die aus ihr entspringende Technik
gestattet, diese Erkenntnisse zur Verwirklichung auch weitgesteckter Ziele
einzusetzen. Aber ob der so erreichte Fortschritt wertvoll sei, wird damit
überhaupt nicht entschieden. Das entscheidet sich erst mit den
Wertvorstellungen, von denen sich die Menschen beim Setzen der Ziele leiten
lassen. Diese Wertvorstellungen aber können nicht aus der Wissenschaft
selbst kommen; jedenfalls kommen sie einstweilen nicht daher. Der
entscheidende Einwand Goethes gegen die seit Newton angewandte Methodik der
Naturwissenschaft richtet sich also wohl gegen das Auseinanderfallen der
Begriffe »Richtigkeit« und »Wahrheit« in dieser
Methodik. Wahrheit war für Goethe vom Wertbegriff nicht zu trennen.
Das »unum, bonum, verum«, das »Eine, Gute, Wahre«,
war für ihn wie für die alten Philosophen der einzig
mögliche Kompass, nach dem die Menschheit sich beim Suchen ihres Weges
durch die Jahrhunderte richten konnte. Eine Wissenschaft aber, die nur noch
richtig ist, in der sich die Begriffe »Richtigkeit« und
»Wahrheit« getrennt haben, in der also die göttliche
Ordnung nicht mehr von selbst die Richtung bestimmt, ist zu sehr
gefährdet, sie ist, um wieder an Goethes Faust zu denken, dem Zugriff
des Teufels ausgesetzt. Daher wollte Goethe sie nicht akzeptieren. In einer
verdunkelten Welt, die vom Licht dieser Mitte, des unum, bonum, verum nicht
mehr erhellt wird, sind, wie Erich Heller es in diesem Zusammenhang einmal
ausgedrückt hat, die technischen Fortschritte kaum etwas anderes als
verzweifelte Versuche, die Hölle zu einem angenehmeren Aufenthaltsraum
zu machen. Das muss besonders jenen gegenüber betont werden, die
glauben, mit der Verbreitung der technisch-naturwissenschaftlichen
Zivilisation auch auf die entlegensten Gebiet der Erde alle wesentlichen
Voraussetzungen für ein goldenes Zeitalter schaffen zu können. So
leicht kann man dem Teufel nicht entgehen.
Bevor wir untersuchen, ob Richtigkeit und Wahrheit in der modernen
Naturwissenschaft wirklich so vollständig getrennt sind, wie es bisher
den Anschein hat, müssen wir nun die Gegenfrage stellen:
Hat Goethe mit seiner Naturwissenschaft, mit seiner Art, die Natur
anzusehen, der in der Nachfolge Newtons entstandenen
technisch-naturwissenschaftlichen Welt etwas Wirksames entgegenzusetzen?
Wir wissen, trotz der enormen Wirkung, die Goethes Dichtung im 19.
Jahrhundert ausgeübt hat, sind seine Gedanken zur Naturwissenschaft
nur einem verhältnismässig kleinen Kreis von Menschen bekannt und
fruchtbar geworden. Aber vielleicht enthalten sie einen Keim, der sich bei
sorgfältiger Pflege entwickeln kann, gerade wenn der etwas naive
Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts einer nüchternen Betrachtung
gewichen ist. Man wird hier noch einmal fragen müssen, was denn
eigentlich das Charakteristische dieser Goetheschen Naturbetrachtung sei,
wodurch sich seine Art, die Natur anzuschauen, von der Newtons und seiner
Nachfolger unterschieden habe. An dieser Stelle wird vor allem hervorgehoben, dass
Goethes Naturbetrachtung eben vom Menschen ausgehe, dass in ihr der Mensch
und sein unmittelbares Naturerlebnis den Mittelpunkt bilde, von dem aus
sich die Erscheinungen in eine sinnvolle Ordnung fügen. Eine solche
Formulierung ist zwar richtig, und sie macht den grossen Unterschied
zwischen der Goetheschen Naturbetrachtung und der Newtonschen besonders
deutlich.
Aber sie übersieht doch einen ganz wesentlichen Punkt, dass
nämlich nach Goethes Überzeugung dem Menschen in der Natur die
göttliche Ordnung sichtbar gegenübertritt. Nicht das
Naturerlebnis des einzelnen Menschen, sosehr es ihn als jungen Menschen
erfüllt hatte, war dem älteren Goethe wichtig, sondern die
göttliche Ordnung, die in diesem Erlebnis erkennbar wird. Es ist
für Goethe nicht nur dichterische Metapher, wenn etwa in dem Gedicht
»Vermächtnis altpersischen Glaubens« der Gläubige
durch den Anblick der über dem Gebirge aufgehenden Sonne dazu bewegt
wird, »Gott auf seinem Thron zu erkennen, ihn den Herrn des
Lebensquells zu nennen, jenes hohen Anblicks wert zu handeln und in seinem
Lichte fortzuwandeln.« Diesem Inhalt des Naturerlebnisses muss sich,
so glaubt Goethe, auch die wissenschaftliche Methode anpassen, und so ist
das Suchen nach dem Urphänomen aufzufassen als das Forschen nach jenen
der Erscheinung zugrunde liegenden, von Gott gesetzten Strukturen, die
nicht nur mit dem Verstande konstruiert, sondern unmittelbar geschaut,
erlebt, empfunden werden können.
»Ein Urphänomen«, erklärt Goethe, »ist nicht
einem Grundsatz gleichzusetzen, aus dem sich mannigfaltige Folgen ergeben,
sondern anzusehen als eine Grunderscheinung, innerhalb derer das
Mannigfaltige anzuschauen ist. Schauen, wissen, ahnen, glauben und wie die
Fühlhörner alle heissen, mit denen der Mensch ins Universum
tastet, müssen denn doch eigentlich zusammenwirken, wenn wir unseren
wichtigen, obgleich schweren Beruf erfüllen wollen.« Goethe
empfindet sehr deutlich, dass die Grundstrukturen von einer solchen Art
sein müssen, dass nicht mehr entschieden werden kann, ob sie der als
objektiv gedachten Welt oder der menschlichen Seele zugehören, da sie
für beide die Voraussetzung bilden. So hofft er, dass sie auch im
»Schauen, Wissen, Ahnen, Glauben« wirksam werden. Aber, so
müssen wir fragen, woher wissen wir oder woher weiss Goethe, dass die
eigentlichen, die tiefsten Zusammenhänge so unmittelbar sichtbar
werden können, dass sie so offen zutage liegen? Mag es nicht sein,
dass gerade das, was Goethe als die göttliche Ordnung der
Naturerscheinung empfindet, erst in der höheren Abstraktionsstufe in
voller Klarheit vor uns steht? Kann an dieser Stelle nicht vielleicht die
moderne Naturwissenschaft Antworten geben, die doch allen Goetheschen
Wertforderungen standhalten können?
Bevor wir dazu übergehen, solche schwierigen Fragen zu erörtern,
muss nun noch ein Wort zu Goethes Ablehnung der Romantik gesagt werden.
Goethe hat sich oft in Briefen, Aufsätzen, Gesprächen mit der
Romantik, die ja die Kunstrichtung seiner Zeit war, ausführlich
auseinandergesetzt. Immer wieder werden die gleichen Vorwürfe erhoben:
Subjektivismus, Schwärmerei, ein Ausschweifen ins Extreme, ins
Unendliche, krankhafte Sensibilität, Altertümelei,
schwächliche Versenkung, schliesslich Gefälligkeit und
Unehrlichkeit. Goethes Abneigung gegen das scheinbar Krankhafte in der
Romantik, seine Vorahnung der möglichen Fehlentwicklung, war so stark,
dass er es nur selten hat über sich gewinnen können, ihre
künstlerische Leistung zu sehen oder gar anzuerkennen. Alle Kunst, die
sich so wie die Romantik aus der Welt entfernt, die nicht mehr die
wirkliche Welt auszusprechen sucht sondern erst ihre Spiegelung in der
Seele des Künstlers, schien ihm genauso unbefriedigend wie eine
Wissenschaft, die nicht die freie Natur, sondern die durch Apparaturen
ausgesonderte, gewissermassen zubereitete Einzelerscheinung zum Gegenstand
nimmt. Die Romantik kann wohl, wenigstens zum Teil, aufgefasst werden als
die Reaktion auf eine Welt, die sich durch den Rationalismus,
Naturwissenschaft und Technik in eine nüchtern praktische
Vorbedingung des äusseren Lebens zu verwandeln anschickte, so dass sie
für die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit, für ihre
Wünsche, ihre Hoffnungen, ihre Schmerzen, keinen rechten Raum mehr
bot. Diese Persönlichkeit zog sich daher in ihr Inneres zurück;
und die Lösung von der unmittelbar wirklichen Welt, in der unser Tun
Folgen hat, denen wir uns stellen müssen, wurde zwar vielleicht als
Verlust empfunden; aber, so fürchtete Goethe, sie machte es doch auch
leichter, um nicht zu sagen bequemer, nun in eine Welt der Träume zu
entfliehen, sich dem Rausch der Leidenschaft hinzugeben, die Verantwortung
für sich und andere abzuwerfen und in der unendlichen Weite der
Gefühle zu schwelgen. Diesen Schritt von einer Kunst, die die Welt in
ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu gestalten sucht, zu einer
künstlerischen Darstellung und Übersteigung der Abgründe in
der menschlichen Seele konnte Goethe ebenso wenig gutheissen wie den
Schritt in die Abstraktion, zu dem sich die Naturwissenschaft genötigt
gesehen hatte. Die Verwandtschaft der Motive für Goethes Ablehnung
in beiden Fällen geht wohl noch etwas weiter. Wenn Goethe die
Abstraktion in der Naturwissenschaft fürchtete, wenn er vor ihrer
Grenzenlosigkeit zurückschreckte, so geschah es, weil er in ihr
dämonische Kräfte zu spüren glaubte, deren Bedrohung er sich
nicht aussetzen wollte. Er hatte sie in der Gestalt des Mephisto
personifiziert. In der Romantik spürte er Kräfte ähnlicher
Art wirksam. Wieder die Grenzenlosigkeit, die Ablösung von der
wirklichen Welt, von ihren gesunden festen Maßstäben, die Gefahr
der Entartung ins Krankhafte. Ferner mag es bei Goethes Haltung eine Rolle
gespielt haben, dass ihm jeweils die höchste Kunstform dieser
nächsten Stufe relativ fremd war. Die Mathematik, die man hier als
Kunstform der Abstraktion bezeichnen mag, hat Goethe nie fesseln oder
faszinieren können, obgleich er sie respektiert hat. Von der Musik,
die in der deutschen Romantik, wie mir scheint, die höchsten
künstlerischen Leistungen hervorgebracht hat, war Goethe wohl nie so
ergriffen wie etwa von Dichtung oder Malerei. Was Goethe über die
Romantik gedacht hätte, wenn ihn die Sprache, die etwa im
C-Dur-Streichquintett von Schubert gesprochen wird, wirklich hätte
erreichen können, wissen wir nicht. Aber er hätte wohl
spüren müssen, dass die Kräfte, die er fürchtete und
die in dieser Musik noch viel stärker wirken, als in fast jedem
anderen romantischen Kunstwerk, hier nicht mehr von Mephisto kommen, nicht
mehr seine Macht verkünden, sondern aus jener lichten Mitte, aus der
Luzifer zwar stammt, die ihn aber verworfen hatte. Es ist also doch nicht
so merkwürdig, dass auch hier, in der Beurteilung des Wertes der
Romantik, die Folgezeit nicht dem Rat des grössten deutschen Dichters
gefolgt ist, dass sich vielmehr die Kunst in hohem Masse den
Gegenständen und Aufgaben zugewandt hat, denen sich die Romantik zum
ersten Male gewidmet hatte. Die Geschichte der Musik, der Malerei, der
Literatur des 19. Jahrhunderts zeigt, wie fruchtbar die Ansätze der
Romantik geworden sind. Freilich zeigt diese Geschichte auch, besonders
wenn man sie in unser Jahrhundert hinein verfolgt, wie berechtigt die
Sorgen und Einwände Goethes gewesen sind, genauso wie im Falle von
Naturwissenschaft und Technik. Man wird wohl gewisse oft beklagte
Auflösungserscheinungen im Bereich der Kunst - ebenso wie in der
Technik etwa die Benutzung von Atomwaffen als die Folge des Verlustes
jener Mitte ansehen, um deren Erhaltung Goethe sein ganzes Leben hindurch
gerungen hat. Aber kehren wir zu der Frage zurück, ob die
Erkenntnis, die Goethe in seiner Naturwissenschaft gesucht hat,
nämlich die Erkenntnis der letzten von ihm als göttlich
empfundenen Gestaltungskräfte der Natur, aus der zunächst nur
»richtigen« modernen Naturwissenschaft so vollständig
verschwunden ist.
»Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält, schau
alle Wirkungskraft und Samen und tu' nicht mehr in Worten kramen», so
hatte die Forderung gelautet. Auf dem Wege dorthin war Goethe in seinen
Naturbetrachtungen zum Urphänomen, in seiner Morphologie der Pflanzen
zur Urpflanze gekommen. Aber obwohl dieses Urphänomen nicht ein
Grundsatz sein soll, aus dem man die verschiedenartigen Phänomene
herzuleiten hätte, sondern eine Grunderscheinung, innerhalb deren das
Mannigfache anzuschauen ist, so hat doch Schiller in jener ersten
berühmten Begegnung in Jena, die im Jahre 1794 die Freundschaft mit
Goethe begründete, dem Dichter klargemacht, dass sein Urphänomen
eigentlich nicht eine Erscheinung, sondern eine Idee sei; eine Idee im
Sinne der Philosophie Platos, wollen wir hinzufügen, und wir
würden in unserer Zeit, da das Wort »Idee« eine etwas zu
subjektive Färbung erhalten hat, vielleicht eher das Wort
»Struktur« als »Idee« an diese stelle setzen. Die
Urpflanze ist die Urform, die Grundstruktur, das gestaltende Prinzip der
Pflanze, das man freilich nicht nur mit dem Verstand konstruieren, sondern
dessen man im Anschauen unmittelbar gewiss werden kann. Der Unterschied,
auf den Goethe hier so grossen Wert legt, zwischen dem unmittelbaren
Anschauen und der nur rationalen Ableitung entspricht wohl ziemlich genau
dem Unterschied der beiden Erkenntnisarten »Episteme« und
»Dianoia« in der platonischen Philosophie. Episteme ist eben
dieses unmittelbare Gewisswerden, auf dem man ruhen kann, hinter dem man
nichts weiter zu suchen braucht. Dianoia ist das
Durchanalysierenkönnen, das Ergebnis des logischen Ableitens. Auch bei
Plato wird deutlich, dass nur die erste Art der Erkenntnis, die Episteme,
die Verbindung mit dem Eigentlichen, dem Wesentlichen, mit der Welt der
Werte vermittelt, während die Dianoia zwar Erkenntnis schafft, aber
eben nur wertfreie Erkenntnis. Was Schiller auf dem Heimweg vom gemeinsam
gehörten naturwissenschaftlichen Vortrag Goethe zu erklären
suchte, war nun freilich nicht platonische, sondern Kantsche Philosophie.
Hier hat das Wort »Idee« eine etwas andere, eine etwas mehr
subjektive Bedeutung; und jedenfalls ist die Idee eben von der Erscheinung
scharf geschieden, so dass Schillers Behauptung, die Urpflanze sei eine
Idee, Goethe zutiefst beunruhigte. Er antwortete: »Das kann mir sehr
lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit den
Augen sehe.« In der sich anschliessenden Diskussion, in der, wie
Goethe berichtete, viel gekämpft wurde, erwidert Schiller: «Wie
kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein
sollte; denn darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, dass
ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.« Im Lichte der
platonischen Philosophie aber handelt es sich bei dieser Diskussion wohl
nicht so sehr um einen Streit über das, was eine Idee sei, sondern
über das Erkenntnisorgan, mit dem sich uns die Idee erschliesst. Wenn
Goethe die Ideen mit den Augen sehen kann, so sind das eben andere Augen
als die, von denen heute gewöhnlich die Rede ist. Jedenfalls
könnte man die Augen an dieser Stelle nicht durch ein Mikroskop oder
eine photographische Platte ersetzen. Aber wie auch immer man in diesem
Streit entscheiden mag die Urpflanze ist also eine Idee, und sie
bewährt sich als solche, indem man mit ihr, mit dieser Grundstruktur
als Schlüssel, wie Goethe sagt, Pflanzen ins Unendliche erfinden kann.
Man hat mit ihr also den Bau der Pflanze verstanden; und
»verstehen« heisst: auf ein einfaches, einheitliches Prinzip
zurückführen.
Wie sieht das nun in der modernen Biologie aus? Auch hier gibt es eine
Grundstruktur, die nicht nur die Gestalt aller Pflanzen, sondern aller
Lebewesen überhaupt bestimmt. Es ist ein unsichtbar kleines Objekt,
ein Fadenmolekül, nämlich die berühmte Doppelkette der
Nukleinsäure, deren Struktur vor etwa 15 Jahren von Crick und Watson
in den Vereinigten Staaten von Amerika aufgeklärt worden ist und die
das ganze Erbgut der betreffenden Lebewesen trägt. Wir können auf
Grund zahlreicher Erfahrungen der modernen Biologie nicht mehr daran
zweifeln, dass eben von diesem Fadenmolekül die Struktur des
Lebewesens bestimmt wird, dass von ihm gewissermassen die ganze
Gestaltungskraft ausgeht, die den Bau des Organismus festlegt.
Über Einzelheiten kann hier natürlich nicht gesprochen werden.
Hinsichtlich der Richtigkeit dieser Aussage gilt, was vorher schon von der
Richtigkeit naturwissenschaftlicher Aussagen im allgemeinen gesagt wurde.
Die Richtigkeit beruht auf der naturwissenschaftlichen Methodik,
Beobachtung und rationaler Analyse. Wenn die Anfangsstadien der
Unsicherheit einer speziellen wissenschaftlichen Entwicklung
überwunden sind, so beruht die Richtigkeit auf dem Zusammenwirken
ausserordentlich vieler Einzeltatsachen, auf einem grossen und
komplizierten Gewebe von Erfahrungen, das der Aussage ihre unantastbare
Sicherheit gibt.
Kann nun die eben geschilderte Grundstruktur, die Doppelkette der
Nukleinsäure der Goetheschen Urpflanze
irgendwie verglichen werden? Die unsichtbare Kleinheit dieses Objekts
scheint einen solchen Vergleich zunächst auszuschliessen. Aber dass
dieses Molekül im Rahmen der Biologie die gleiche Funktion
erfüllt, die Goethes Urpflanze in der Botanik erfüllen sollte,
wird sich doch schwer bestreiten lassen. Es handelt sich ja in beiden
Fällen um das Verständnis der gestaltenden, formgebenden
Kräfte in der belebten Natur, um ihre Zurückführung auf
etwas Einfaches, allen lebendigen Gestalten Gemeinsames. Das eben leistet
das Urgebilde der heutigen Molekularbiologie das noch etwas zu primitiv
ist, um schon ein Urlebewesen genannt zu werden. Es besitzt noch keineswegs
alle Funktionen eines vollständigen Lebewesens; aber das braucht uns
vielleicht nicht daran zu hindern, es doch so oder irgendwie ähnlich
zu bezeichnen. Dieses Urgebilde hat auch dies mit der Goetheschen Urpflanze
gemeinsam, dass es nicht nur eine Grundstruktur, eine Idee, eine
Vorstellung, eine formgebende Kraft, sondern auch ein Objekt, eine
Erscheinung ist, wenn es
gleich nicht mit unseren gewöhnlich Augen gesehen, sondern nur indirekt
erschlossen werden kann. Es kann mit hochauflösenden Mikroskopen und
mit dem Mittel der rationalen Analyse erkannt werden, ist also durchaus
wirklich und nicht etwa nur ein Gedankengebilde. Insofern genügt es
fast allen von Goethe an das Urphänomen gestellten Forderungen. Ob wir
es allerdings im Goetheschen Sinne »schauen, fühlen,
ahnen« können, in anderen Worten, ob es zum Gegenstand der
»Episteme«, der reinen Erkenntnis in der Formulierung Platos
werden kann, das mag zweifelhaft scheinen. Normalerweise wird das
biologische Urgebilde jedenfalls nicht so gesehen. Man könnte sich nur
vorstellen, dass es vielleicht den Entdeckern zum ersten Male so erschienen
ist.
Wenn man also nach dem Verhältnis von Richtigkeit und Wahrheit in
modernen Naturwissenschaft fragt, so wird man zwar auf ihrer pragmatischen
Seite nur die völlige Trennung der beiden Begriffe konstatieren
müssen, man wird aber dort, wo es sich, wie einer Biologie, um das
Erkennen ganz grosser Zusammenhänge handelt, die in der Natur von
Anfang an vorhanden und nicht etwas von Menschen gemacht sind, eine gewisse
Annäherung feststellen können. Denn die ganz grossen
Zusammenhänge werden in den Grundstrukturen, in den so sich
manifestierenden platonischen Ideen sichtbar, und diese Ideen können,
da sie von der dahinterliegenden Gesamtordnung Kunde geben, vielleicht auch
von anderen Bereichen der menschlichen Psyche als nur von der Ratio
aufgenommen werden, von Bereichen, die eben selbst wieder in unmittelbarer
Beziehung zu jener Gesamtordnung und damit auch zur Welt der Werte
stehen.
Das wird besonders deutlich, wenn man zu den ganz allgemeinen
Gesetzmässigkeiten übergeht, die auf die Gebiete Biologie,
Chemie, Physik übergreifen und die erst in den letzten Jahrzehnten im
Zusammenhang mit der Physik der Elementarteilchen erkennbar geworden sind.
Hier handelt es sich also um Grundstrukturen der Natur oder der Welt im
ganzen, die noch tiefer liegen als die der Biologie und die deshalb noch
abstrakter, noch weniger unseren Sinnen unmittelbar zugänglich sind
als jene. Sie sind im gleichen Mass aber auch noch einfacher, da sie nur
noch das Allgemeine, gar nicht mehr das Besondere darzustellen haben.
Während das Urgebilde der Biologie nicht nur den lebendigen Organismus
an sich repräsentieren, sondern - durch die verschiedenen
möglichen Anordnungen einiger weniger chemischer Gruppen auf der Kette
- auch die unzähligen verschiedenen Orrganismen unterscheiden muss,
brauchen die Grundstrukturen der gesamten Natur nur noch die Existenz eben
dieser Natur darzustellen. In der modernen Physik wird dieser Gedanke in
folgender Weise verwirklicht: Es wird in mathematischer Sprache ein
grundlegendes Naturgesetz formuliert, eine »Weltformel«, wie es
gelegentlich genannt wurde, dem alle Naturerscheinungen genügen
müssen, das also gewissermassen nur die Möglichkeit, die Existenz
der Natur symbolisiert. Die einfachsten Lösungen dieser mathematischen
Gleichung repräsentieren die verschiedenen Elementarteilchen, die
genau in demselben Sinne Grundformen der Natur sind, wie Plato die
regulären Körper der Mathematik, Würfel, Tetraeder usw., als
die Grundformen der Natur aufgefasst hat. Auch sie sind, um wieder zu dem
Streitgespräch zwischen Schiller und Goethe zurückzukehren, so
wie Goethes Urpflanze »Ideen«, auch wenn sie nicht mit
gewöhnlichen Augen gesehen werden können. Ob sie im Goetheschen
Sinne angeschaut werden können, das hängt wohl einfach davon ab,
mit welchen Erkenntnisorganen wir der Natur gegenübertreten. Dass
diese Grundstrukturen unmittelbar mit der grossen Ordnung der Welt im
ganzen zusammenhängen, kann wohl kaum bestritten werden. Es bleibt
aber uns überlassen, ob wir nur den einen engen, rational fassbaren
Ausschnitt aus diesem grossen Zusammenhang ergreifen wollen.
Werfen wir noch einmal den Blick zurück auf die historische
Entwicklung. In der Naturwissenschaft, wie in der Kunst, ist die Welt seit
Goethe den Weg gegangen, vor dem Goethe gewarnt hat, den er für zu
gefährlich hielt. Die Kunst hat sich von der unmittelbaren
Wirklichkeit ins Innere der menschlichen Seele zurückgezogen,
die Naturwissenschaft hat den Schritt in die Abstraktion
getan, hat die riesige Weite der modernen Technik gewonnen.
Gleichzeitig sind die Gefahren so bedrohlich geworden, wie Goethe es
vorausgesehen hat. Wir denken etwa an die Entseelung, die
Entpersönlichung der Arbeit, an das Absurde der modernen Waffen oder
an die Flucht in den Wahn, der die Form einer politischen Bewegung
angenommen hat. Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber der lichte
Bereich, den Goethe überall durch die Natur hindurch erkennen konnte,
ist auch in der modernen Naturwissenschaft sichtbar geworden, dort wo sie
von der grossen einheitlichen Ordnung der Welt Kunde gibt. Wir werden von
Goethe auch heute noch lernen können, dass wir nicht zugunsten des
einen Organs, der rationalen Analyse, alle andern verkümmern lassen
dürfen; dass es vielmehr darauf ankommt, mit allen Organen, die uns
gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen und sich darauf zu verlassen,
dass diese Wirklichkeit dann auch das Wesentliche, das »Eine, Gute,
Wahre« spiegelt. Hoffen wir, dass dies der Zukunft besser gelingt, als
es unserer Zeit, als es meiner Generation gelungen ist.
1
Dieser Text war Vorlage für einen Vortrag, den Werner Heisenberg
auf der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar am
21. Mai 1967 gehalten hat.
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2
Francis Crick und James Watson haben die DNS 1953 entdeckt.
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Quelle: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft:
29ter Band, 1967
Herausgeber: Andreas B. Wachsmuth
Zusammenstellung und Bearbeitung: Theodor Zezza, , 9.5.99
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