Goethes Äußerungen über die Gattung Autobiographie und sein Programm für "Dichtung und Wahrheit"

(Stephan Reuthner)
 
"Die Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es thut, für den höflichsten aller Menschen. Wenn sich einer nur mittheilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es thut."
J.W.v. Goethe

1. Die Besonderheiten des autobiographischen Schreibens

Wie eine Autobiographie schreiben? Welche Probleme wirft das Abfassen einer Lebensbeschreibung auf? Günter de Bruyn 1), selbst Biograph Friedrich de la Motte Fouqués, Jean Pauls und von der Marwitz´ und Autobiograph seines Lebens im Nationalsozialismus ("Zwischenbilanz") und der DDR ("40 Jahre"), stellt in dem Essay "Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie" nicht nur vom Titel her eine kühne Parallele zu Goethes "Dichtung und Wahrheit" her, sondern reflektiert über genau die Grundfragen und Grundprobleme, denen sich jeder Biograph bei der Abfassung einer Lebensbeschreibung ausgesetzt sieht.
Eine erste Schwierigkeit wird schon durch die naturgemäß begrenzte Seitenzahl, die geschrieben werden kann oder darf, damit die Autobiographie nicht überbordet, aufgeworfen. Sie zieht eine notwendige Stoffauswahl aus der Gesamtheit des abgelaufenen Lebens nach sich. Allerdings kann ein jeder Verfasser einer Selbstbeschreibung deshalb nur Teilwahrheiten anbieten, weshalb, je nach gesetztem Schwerpunkt, fast beliebig viele, durchaus ehrliche Eigendarstellungen ausformulierbar werden. Auf einen Leser können sie wie unterschiedliche Erlebnisse und Schicksale verschiedenartiger Menschen wirken, bei denen alleine einige Rahmendaten gleich bleiben. Entziehen kann sich ein Autobiograph dem jedoch nicht,
"will er sein Leben erzählen, die großen und kleinen Teilchen desselben sondern und wägen, Wichtiges von Unwichtigem trennen, einen Aussonderungsprozeß also vollziehen. Die Kriterien dafür werden ihm ... seine Absichten und Zwecke liefern ..." 2)
Damit lenkt de Bruyn den Blick auf die Zielsetzungen des Schreibenden, denen eine Autobiographie immer unterworfen bleibt - ein zweiter wichtiger Aspekt. Welche Aufgaben, welchen Zweck soll die Lebensbeschreibung für ihren Autor erfüllen? De Bruyn nennt beispielsweise als immer wiederkehrende Motive, "dem Vergessen zu wehren, die Daseinsflüchtigkeit aufzuhalten"3), sich selbst zu vergewissern und zu bestätigen, eine Selbstauseinandersetzung, Selbsterforschung und Selbsterklärung voranzutreiben.
Sollte man nun den Entschluss gefasst haben, sich einmal dem Versuch auszusetzen, eine Autobiographie abzufassen, stellt sich sehr schnell ein gedächtnispsychologisches Problem ein. Jeder Versuch der Rekonstruktion des eigenen Lebenslaufes ist Gedächtnisarbeit, die auf Erinnerung basiert. Bald wird man der Grenze dessen gewahr, was überhaupt erinnert werden kann, da menschliche Wahrnehmung und die Speicherung von Gedächtnisinhalten einer Selektionsfunktion unterworfen sind, wodurch nur wenig "zum dauernd oder auf Zeit verfügbaren Besitz"4) wird. Die aus der Psychoanalyse bekannten Prozesse der Abwehr, Verschiebung und Verdrängung sind dabei noch gar nicht angesprochen. Und was garantiert uns, dass der Schreibende, der wir werden, "alles Erinnerte mitteilt, und besonders, daß er es genau in jener Gestalt vorlegt, in der es sein Gedächtnis speicherte und reproduzierte"?5)
Hinzu tritt noch ein erkenntnistheoretisches Problem als eine weitere Besonderheit autobiographischen Schreibens:
"Das Ich, das sich zur Selbstgestaltung aufgegeben ist, weiß vieles von sich, erkennt sich jedoch niemals ganz. Indem es sich mit sich selber auseinandersetzt, schafft es sich neu; wenn es vorsätzlich sich mit seiner Vergangenheit einläßt, gesellt sich zum Vergangenen immer etwas, was noch nie gewesen war. Man empfängt Aufschlüsse über seine Herkunft vom Künftigen her ..."6)
Wir können noch so selbstkritisch und analytisch mit uns umgehen, ein wesentlicher Teil des Selbst bleibt unserer Erkenntnis immer entzogen, weshalb, wie de Bruyn7) formuliert, eine Autobiographie nie Biographie ersetzen kann. Die Außenperspektive muss zu der Innenperspektive hinzukommen, um das Bild von uns zu komplettieren.8) Der autobiographische Schreibprozess verwandelt Persönlichkeit und Identität des Abfassenden, mit der Selbstauseinandersetzung geht, durchaus auch in einem therapeutischen Sinne, eine Selbstveränderung und -verwandlung einher. Und schließlich bestimmen noch die lebensgeschichtlichen Umstände der Gegenwart, aus welcher Perspektive heraus die eigene Vergangenheit und die Genese bis ins Jetzt gesehen werden.
Die letztgenannten Punkte leiten schon zu Goethes eigener Autobiographie über. Wie die unten folgenden Ausführungen über den Titel "Dichtung und Wahrheit" veranschaulichen werden, sah der geadelte Frankfurter Bürgersohn sich vor genau die angesprochenen Probleme gestellt. Allerdings konfrontierte er sich damit und setzte sich bewusst reflektierend mit ihnen auseinander, bevor er das Wagnis seiner Lebensbeschreibung begann. Goethe hatte als günstige Voraussetzung dafür nicht nur das Privileg, ein hohes Alter erreicht zu haben, das es ihm ermöglichte, aus der nötigen Distanz auf das eigene Leben zurückblicken zu dürfen.9) Dank seiner weitgefächerten Interessen und der verschiedene wissenschaftliche Gebiete übergreifenden Forschungen10) gelangte er zudem zu sehr differenzierten und komplexen Anschauungen über das Wesen der Autobiographie, die es ihm ermöglichten, die in der Aufklärung gepflegten Formen der Lebensbeschreibung zu überwinden und einen literarischen Neuansatz der Gattung zu begründen, der - wie de Bruyn oben zeigt - bis heute nachwirkt.
Die vorliegende Arbeit wird sich in einem ersten Schritt mit der biographischen und autobiographischen Praxis zu Goethes Zeit beschäftigen. Deutlich soll dadurch werden, warum Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt die Notwendigkeit sah, sich selbst Lebensbeschreibungen zuzuwenden. Eine genaue Analyse von Goethes Rezension der "Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten" (1806) versucht dann erste klare programmatische Aussagen und deren Implikationen für eine Autobiographie herauszustellen. In einem zweiten Teil der Untersuchung rückt das Programm von "Dichtung und Wahrheit", wie es in der Tagebuchaufzeichnung Goethes vom 18.05.1810, in dem Vorwort von Goethes Autobiographie und in ihrem Titel zum Ausdruck kommt, in den Mittelpunkt der Abhandlung. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird dabei versucht, den Akzent der Interpretation immer wieder ein wenig anders zu setzen. Einer kurzen, als Abstract gedachten Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse folgen dann als Exkurs noch zwei Kapitel zu der Umbruchssituation um 1800 und zu Goethes biographischen Schriften. Diese beiden Betrachtungen wurden bewusst aus der eigentlichen Arbeit ausgegliedert, um die Themenstellung nicht zu sehr auszuweiten und den Umfang der Untersuchung nicht anschwellen zu lassen. Die beiden Kapitel machen allerdings Goethes Motive und die Langfristigkeit seiner Vorarbeiten besser nachvollziehbar.
Die Kurzangaben der Literatur mit Jahreszahl und Seitenangaben in den Anmerkungen beziehen sich auf das Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit. Dort werden nur die zitierten Aufsätze und Monographien angeführt. Quellentexte werden nach der Münchner Ausgabe (MA; Hanser), der Züricher Gedenkausgabe (ZA; Artemis), der Weimarer Ausgabe (WA), der Hamburger Ausgabe (HA; Beck) oder der Bibliothek deutscher Klassiker (Deutscher Klassiker Verlag; DKV) angegeben. Aus "Dichtung und Wahrheit" wird nach der Münchner Ausgabe und der Reclam-Ausgabe zitiert.11)

2. Goethes Äußerungen über die Gattung "Autobiographie" vor dem Entstehen von "Dichtung und Wahrheit"

a) Die biographische und autobiographische Praxis zu Goethes Zeit
Als Sechzigjähriger sah sich Goethe einem sich beschleunigenden Prozess der Vereinsamung ausgesetzt.12) Das sich schärfende Bewusstsein eigener Vergänglichkeit warf zudem immer stärker die Fragen auf, welche Person seines Umfeldes überhaupt seine Biographie würde schreiben können und in welcher Weise sie ausgeführt werden sollte. Ein Biograph war - Eckermann stieß erst 1823 zu Goethe - weit und breit nicht in Sicht, Goethe wurde auf sich selbst zurückgeworfen.
Verschärfend kam hinzu, dass Goethe der biographischen Praxis seiner Zeit sehr skeptisch und kritisch gegenüber stand. So formuliert er etwa am 29.05.1801 in einem Brief an Zelter:
" Wie übel nehmen sich ... jene Nekrologen aus, die, indem sie das, was Gutes und Böses, durch das Leben eines bedeutenden Menschen, von der Menge gewähnt und geklatscht worden, gleich nach seinem Verscheiden emsig gegen einander stellen, seine sogenannten Tugenden und Fehler mit heuchlerischer Gerechtigkeit aufstutzen und dadurch, weit schlimmer als der Tod, eine Personalität zerstören, die nur in der lebendigen Vereinigung solcher entgegengesetzten Eigenschaften gedacht werden kann." (ZA Bd. 19, S. 408)
Identität und Individualität des Gewürdigten, so beklagt er, werden durch die Nekrologen vernichtet, da lediglich mit aufklärerisch-moralisierenden Kategorien (Tugenden - Laster) der Öffentlichkeit das äußere Verhalten bewertet werde, wodurch alleine eine Typisierung übrig bleibe, die der Eigenart und Leistung eines gelebten Lebens und einer bedeutenden Einzelpersönlichkeit nicht gerecht würden. Nicht das Aufrechnen, sondern eine Zusammenschau aller Persönlichkeitsteile im Sinne einer Integrität sind gefordert, eine differenzierte, abwägende Würdigung also, die sich eines vorschnellen Urteils enthebt. Erst dann können facettenreich die Unterschiede zwischen außergewöhnlichen Individuen ihrer Zeit aufgespürt und gegenübergestellt werden.13)
Goethe konnte sein eigenes Eingehen in die Lexika schon mitverfolgen (K.E.A. Schmid, Biographien berühmter und gelehrter Männer, 1797; Meusel, Gelehrtes Deutschland, 1796, ergänzt 1801 und 1808; K.H. Jördens, Lexicon deutscher Dichter, 1807), diese würden nach seinem Tod aus Nekrologen weitere wesentliche Informationen schöpfen und - so war zu befürchten - ein eher ungenaues Bild von ihm zeichnen.14)
Die Überlegung, sich durch eine Autobiographie, durch eine Selbststilisierung nach eigenen Vorstellungen, davor zu schützen, liegt nahe. So könnte die Rezeption Goethes, die Darstellung seines Werkes und seiner Person, vorwegbestimmt, in die von ihm bevorzugten Bahnen gelenkt werden. Dass Goethe dies letztlich auch glückte, wird beispielsweise an dem "Goethe"-Artikel im "Brockhaus´ Konversations-Lexikon" von 1817 deutlich, der lediglich eine Zusammenfassung von "Dichtung und "Wahrheit" darstellte.15) Auch gelingt es der gesamten folgenden Biographik des 19. Jahrhunderts nicht mehr, sich von dessen Selbstdarstellung zu lösen, sie bleibt vielmehr in dieser selbstbestimmten Rezeptionsgeschichte verfangen.16)
Eine Vorstellung davon, wie Lebensbeschreibungen gestaltet werden sollten, hat sich Goethe nicht nur am Beispiel eigener biographischer Arbeiten erworben17), sondern besonders auch über die Lektüre von Autobiographien gewonnen 18). Und seine eigenen biographischen Schriften (besonders die Hackerts) führten ihn dann letztlich zu der naheliegenden Erkenntnis:
"... ich hatte Ursache, mich zu fragen, warum ich dasjenige, was ich für einen anderen tue, nicht für mich selbst zu leisten unternehme? Ich wandte mich daher noch vor Vollendung jenes Bandes an meine eigene frühste Lebensgeschichte ..." (ZA Bd. 11, S. 846).
Die vielfältigen, durchaus in ganz unterschiedliche Richtungen gehenden theoretischen Überlegungen, die allerdings kein geschlossenes System bilden19), sollen nun im Folgenden textnah analysiert werden.
b) Die programmatische Besprechung der "Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten" (1806)
Bezeichnenderweise ist es gerade die Selbstbiographie eines Historikers, des Berliners Johannes von Müller, die für Goethe in der durchaus würdigenden Besprechung der von Lowe herausgegebenen Selbstbiographien "Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten" zum Anlass wird, erstmals klar eine Programmatik für Autobiographien zu entwickeln. Er gedenkt, "die Schwierigkeit einer Selbstbiographie fühlbarer zu machen", und greift dazu Überlegungen aus seinen biographischen Arbeiten auf. So begründet Goethe, in einem inneren Klärungsprozess deutlich voranschreitend, eine Position, nach deren Anforderungen einige Jahre später "Dichtung und Wahrheit" ausformuliert wird.
Zuerst ist es für Goethe wichtig, zwischen "zweierlei Arten die Geschichte zu schreiben, eine für die Wissenden, die andere für die Nichtwissenden" zu unterscheiden:
"Bei der ersten setzt man voraus, daß dem Leser das Einzelne bis zum Überdruß bekannt sei. Man denkt nur darauf, ihn auf eine geistreiche Weise, durch Zusammenstellung und Andeutungen an das zu erinnern, was er weiß, und ihm für das zerstreute Bekannte eine große Einheit der Ansicht zu überliefern oder einzuprägen. Die andere Art ist die, wo wir, selbst bei der Absicht eine große Einheit darzustellen, auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind." (ZA Bd. 14, S. 228)
Die erste ist für Gelehrte, Wissende, in die Zeitverhältnisse Eingeweihte gedacht. Deren Aufmerksamkeit und Interesse ist vor allem durch eine Darstellung mit Witz und Assoziationen anregenden Anspielungen zu fesseln oder durch ein die Zeitgeschehnisse erhellendes historisches Erklärungsmodell. Die zweite hingegen muss jenseits eines ordnenden und interpretierenden konzeptionellen Rahmens, vielleicht sogar einer durchgängig zugrundeliegenden Idee, den Einzelheiten verpflichtet sein. Für Goethe ist es notwendiges Zeichen seiner Zeit, in Autobiographien vermehrt Details auszubreiten.
Die Begründung dafür mutet modern an:
"Sollten zu unserer Zeit Männer, die über vierzig oder funfzig Jahre im Leben stehen und wirken, ihre Biographie schreiben, so würden wir ihnen raten, die letzte Art ins Auge zu fassen. Denn außerdem, daß man sich gerade um das Nächstvorhergehende am wenigsten bekümmert, so ist unsere Zeit so reich an Taten, so entschieden an besonderem Streben, daß die Jugend und das mittlere Alter, für die man denn doch eigentlich schreibt, kaum einen Begriff hat von dem, was vor dreißig oder vierzig Jahren eigentlich da gewesen ist. Alles, was sich also in eines Menschen Leben dorther schreibt oder dorthin bezieht, muß aufs neue gegeben werden." (ZA Bd. 14, S. 228)
Goethe wendet sich gegen einen - aus seiner Sicht - akut drohenden Verfall von Geschichtskenntnissen innerhalb der nachfolgenden Generationen, gegen einen einsetzenden Erinnerungsverlust.20) Die Ursache dafür sieht er in der gegenwärtig schnelllebigen und an bedeutsamen Geschehnissen sehr dichten Zeit, die er offenbar als Epoche des Umbruchs empfindet.21)Autobiographisches Schreiben, so die dahintersteckende Programmatik, ist nicht nur Teil der Geschichtsschreibung aus der Perspektive eines Einzelnen, es muss vielmehr gerade jetzt wichtiger Teil der geschichtlichen Überlieferung selbst sein, die die Vergangenheit bewahrt. Dem Autobiographen wird die Aufgabe des Historikers und Archivars zugeschrieben22), um so einem aktuellen Trend des Fortgerissen-Werdens mit dem Strom der Zeit und der persönlichen Verunsicherung Orientierung- und Haltepunkte, einen rettenden Anker entgegenzustellen. Damit wird der Lebensbeschreibung sowohl eine erzieherische wie eine therapeutische Zielsetzung zugeschrieben, besonders da Goethe eine persönliche Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen empfand, denen die Dimensionen der historischen Zeiten, die er selbst durchlebt hatte, notwendigerweise vermittelt werden mussten.23)
Dass "Dichtung und Wahrheit" von Zeitgenossen durchaus als sinnstiftend empfunden wurde, geht etwa aus einem Brief seines Freundes Schlosser vom 29.01.1813 an Goethe hervor:
"Die gegenwärtige immer näher heranrückende Krise, welche uns vielleicht in wenigen Jahren die Gegenwart so unverständlich machen könnte, als uns der rasch gesteigerte Gang des letzten Jahrzehends die unmittelbare Vergangenheit es werden ließ, läßt uns um so dankbarer fühlen, wie wichtig für das Verständnis der Zeit und unserer selbst Ihre Arbeit sei".
Leser können sich ihrer historischen Wurzeln, die gleichzeitig die Wurzeln ihrer Identität sind, bewusst werden, und sie können sich auf diese Wurzeln zurückorientieren, wenn die Integriertheit der eigenen Person durch die Zeitwirren bedroht wird.
Warum ist das für Goethe aber gerade während einer Epochenwende so wichtig? Der letzte Satz des Zitates weist auch darauf hin, dass das Verhältnis und die Beziehung der nachfolgenden Generationen zu den "Alten", "die über vierzig oder funfzig Jahre ihm Leben stehen und wirken", das meint also die Sechzig- bis Siebzigjährigen, offensichtlich von Kommunikationsstörungen geprägt sind, so dass ein Erklärungsbedarf besteht. Die "Jungen" stehen dem Geschriebenen der "Alten" verständnislos gegenüber, falls nicht dessen Wurzeln einer anderen Zeit erläutert und nachvollziehbar gemacht werden. Will man die Zielgruppe, für die nach Goethe eine Notwendigkeit dazu besteht, im weitesten Sinne mit der romantischen Bewegung gleichsetzen24), dann ist eine Bewahrung des Vergangenen immer auch mit der Sicherung einer potentiellen Leser- und Käuferschaft verknüpft, die durch eine autobiographische Aufklärung für die Lektüre scheinbar überholter Werke vorbereitet werden kann. Publikationen, wie etwa die schlecht verkäufliche Gesamtausgabe bei Cotta, benötigen einen Verständnishorizont, durch den sich die "Wissenden" von den "Nichtwissenden" eben auch in der Literatur, und nicht nur in der Geschichte, unterscheiden und der "neu gegeben" werden muss.25) Dies geht natürlich über die - oben ausgeführte - bildende Absicht historischer Erziehung in schweren Zeiten oder über eine Unterrichtspflicht gegenüber der Mit- und Nachwelt und eine Pietät gegenüber dem Überlieferten26)hinaus.
Ein zweiter zentraler Programmpunkt ist, dass Goethe "den empfangend-antwortenden Doppelaustausch von Ich und Welt zum eigentlichen Thema der Autobiographie" erhebt.27)Er fordert auf, "nicht zu verschweigen was von außen, es sei nun als Person oder Begebenheit, auf sie gewirkt, aber auch nicht in Schatten zu stellen, was sie selbst geleistet". Dies sollte in einer durchaus differenzierten Art und Weise erfolgen. So muss in der Lebensbeschreibung nicht nur der Einfluss gewürdigt werden, den unbedeutende28) wie bedeutende Einzelperönlichkeiten auf die Entwicklung des Autobiographen und damit auf seine Entfaltung zum außergewöhnlichen Menschen hatten:
"Wie liebenswürdig hat er sich schon des großen Vorteils eines Selbstbiographen bedient, daß er gute, wackere, jedoch für die Welt im Großen unbedeutende Menschen, als Eltern, Lehrer, Verwandte, Gespielen, namentlich vorführte, und sie als ein vorzüglicher Mensch in Gefolge seines bedeutenden Daseins mit aufnahm! Wie herrlich treten ferner schon gekannte außerordentliche Naturen abermals, in besonderem Bezug auf ihn sich bezeichnend, hervor!" (ZA Bd. 14, S. 229)
Auch die "Wirkung großer Weltbegebenheiten", gemeint sind im vorliegenden Beispiel die Freiheitskämpfe auf Korsika, der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg und die Aufstände in Genf, also bedeutender historischer Eckpunkte, auf "ein so empfängliches Gemüt" müssen zur Darstellung kommen. Denn auch sie zeitigen nach Goethe einen bedeutenden Beitrag zur inneren Entwicklung des Individuums: "... und was mußte sich an diesem Äußeren aus seinem Inneren entwickeln." (ZA Bd. 14, S. 229-230)
Es handelt sich dabei nicht um ein einseitiges Geprägtwerden, sondern um einen wechselseitigen Prozess, da von Müller seinerseits durch sein Tätigsein auf die Welt zurückgewirkt hat und dies ohne falsche Bescheidenheit zur Darstellung bringen soll. "Mit Behaglichkeit" soll er davon sprechen und auch "die dadurch gewonnenen schönsten Stunden" (ZA Bd. 14, S. 231) seines Lebens bezeichnen. Wichtig sind für Goethe also die "Prägung der Individualität durch ihre Erfahrung" und der umgekehrte Prozess der Wirkung des Gelehrten auf sein Publikum.29)
Das spätere Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit" hebt diesen damit umrissenen zweiten programmatischen Punkt besonders hervor. Welche Implikationen sich daraus für die Autobiographie ergeben, soll daher weiter unten ausgeführt werden. Interessant ist jedoch die Wirkungsästhetik, die mit der Lebensbeschreibung verknüpft wird: Der Leser soll in eine "fröhliche Stimmung" versetzt werden, ein "Behagen des einzelnen Mannes" und "Freude" (ZA Bd. 14, S. 231) sollen daraus resultieren. Nach Niggl werde so eine Bekenntnisbiographie mit "der grübelnd-quälerischen Selbstanklage"30) verhindert und der Blick stärker auf den Wert der eigenen Person gelenkt, woraus Behagen und Erinnerungsfreude entspringe. Ähnlich wird dies in dem Brief an Hackert vom 04.04.1806 formuliert:
"Indem wir auf unser Leben zurücksehen und es in Gedanken rekapitulieren; so genießen wir es zum zweiten male, und indem wir es aufzeichen bereiten wir uns ein neues Leben in und mit andern." (DKV II, Bd. 6, S. 48)
Im Grunde orientiert sich Goethe, wenn man die gesamte Rezension zusammensieht, und das ist ein bislang zu wenig gesehener Aspekt, an Horaz ("aut prodesse volunt aut delectare poetae") und dessen aufklärerischer Rezeption durch Gottsched - stärker das gefühlsmäßige Erleben pointierend: Bodmer und Breitinger -, indem er als Aufforderung an den Autobiographen formuliert, dass er den erzieherischen Impetus, historisch vergangene Zeiten weiterzutradieren, mit einem genussvollen Rezeptionserlebnis seitens des Lesers verknüpfen sollte. Daraus ergibt sich zudem die Notwendigkeit einer für den Leser Anreize bietenden erzählerischen Form, damit er sich zu einer eigentätigen Rezeptionshaltung bereitfindet.
In dem Vorwort zum "Deutschen Gil Blas" in der Ausgabe von 1822 formuliert Goethe bezüglich der Autobiographie von Montaigne:
"Die Geschichte denkt uns vor, der Roman fühlt uns vor, und so genießen wir an beiden völlig zubereitete Speisen. Die Schrift aber, die uns nur Stoff überliefert, fordert von uns, ihn zu verarbeiten, eigene Tätigkeit, zu der wir nicht immer aufgelegt sind, eigene freie Übersicht und Fertigkeiten, das Gewonnene zurechtzustellen, die nicht einem jeden gegeben sind; ..." (ZA Bd. 14, S. 497)
Der Autobiographie als "Geschichte in Romanform" könnte damit eine Vermittlerfunktion zukommen, über das Vordenken und Vorfühlen hinaus eine tätige Verarbeitung des Stoffes beim Leser wachzuhalten, durch die ansprechende Form ihm dies aber zu erleichtern und einen durch seine Selbsttätigkeit ebenso fundierten wie andauernden Erkenntnisprozess auszulösen.31)

3. Das Programm für "Dichtung und Wahrheit"

a) Die Vorarbeiten auf der Fahrt nach Karlsbad 1810 (Tagebuchaufzeichnung Goethes vom 18.5.1810)
Der nächste Schritt in der Entwicklung einer Programmatik stellt eine von Goethe aufgezeichnete Unterhaltung über "Biographica und Ästhetica" dar. Diese macht nicht nur den engen Zusammenhang der Autobiographie mit den naturwissenschaftlichen Studien Goethes deutlich, sie gibt zudem einen Einblick, welch große Rolle der ästhetische Aspekt, eine planmäßig und durchdachte Ausarbeitung der Erzählhaltung, einnimmt:
"Ironische Ansicht des Lebens im höhern Sinne, wodurch die Biographie sich über das Leben erhebt. Superstitiose Ansicht; wodurch sie sich wieder gegen das Leben zurückzieht. Auf jene Weise wird dem Verstand und der Vernunft, auf diese der Sinnlichkeit und der Phantasie geschmeichelt; und es muß zuletzt, wohl behandelt, eine befriedigende Totalität hervortreten." (ZA Bd. 26, S. 302)
Der Autobiograph muss danach fähig sein, sich durch eine ironische sprachliche Gestaltung von seiner eigenen Biographie souverän zu distanzieren, eine vor allem in der Romantik verfeinerte Erzählhaltung. Der Erzähler, so Beutler, "steht über sich als Gegenstand der Darstellung, läßt sich wenig anmerken, daß es sich bei allem Vorgetragenen um ihn selbst handele".32) Voraussetzung dafür ist, wie Goethe am 22.05.1803 gegenüber Schiller formuliert, eine Übersicht, die erst mit einer gewissen Entfernung und Distanz gegenüber dem eigenen früheren Leben eintritt: "Ich stehe hoch genug um mein vergangenes Wesen und Treiben, historisch, als das Schicksal eines Dritten anzusehen." (MA Bd. 8,1, S. 937). Schon am 19.01.1802 hatte er, gleichfalls an Schiller, geschrieben:
"Bei einiger Reflexion ... fiel mir auf, was man für ein interessantes Werk zusammenschreiben könnte, wenn man das, was man erlebt hat, mit der Übersicht, die einem die Jahre geben, mit gutem Humor aufzeichnete." (MA Bd. 8, 1, S. 875)
Und Humor ist ja eben der Ausdruck einer gewonnenen Fähigkeit zur Selbstironisierung, wodurch die Autobiographie nicht "in der dauernden Selbstbespiegelung, der Ausbreitung der seelischen und körperlichen Leiden" steckenbleibt33). Darum soll auch Allzu-Intimes gemieden werden34), um der Gefahr, "lamentabel" (ZA Bd. 26, S. 307) zu werden, nicht zu erliegen. Goethe grenzt sich dabei bewusst von religiösen Selbstdarstellungen ab, in denen selbstanklägerisch auch Sündiges bekannt, über Tugenden jedoch geschwiegen wird. Eine beabsichtigte Wirkung der ironischen Schreibweise auf der Seite des Lesers ist, den Intellekt anzusprechen, zum Mitdenken zu reizen und die häufigen Gratwanderungen der Ironie zu entdecken. Damit wird natürlich auch der Rezipient in eine Distanz zum Erzählten gerückt, eine zu große Identifikation wird vermieden.
Andererseits soll mit der "superstitiosen Ansicht" eine subjektive Form der Weltbeschreibung über eine sinnliche und phantasievolle Darstellung persönlicher Erlebnisse hinzukommen. Der Leser soll, so die Wirkungsabsicht, in den Bann der Erzählung gezogen und sein gefühlsmäßig-kreativer Teil aktualisiert wie gefördert werden.
Gelingt beides, wird idealerweise eine "befriedigende Totalität" erreicht und aus einem Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz heraus der Rezipient über Verstand und Gefühl in seiner Gesamtheit erfasst. Goethes Wirkungsästhetik sucht damit den Leser als Ganzes in den Bann zu schlagen. Dahinter steht eine pädagogische Absicht, die letztlich auf eine Persönlichkeitsbildung abzielt. Mittels der reflektierenden Betrachtung und des Miterlebens eines Lebensweges werden die Selbsterkenntnis des Lesers und damit dessen eigener Bildungs- und Entwicklungsweg voranzutreiben versucht. Da zudem Tugenden in den Mittelpunkt gestellt werden, wird ein positives Modell zu geben versucht, das im Sinne von Goethes Metamorphose auf glückende Verwandlungsprozesse und gelungene Übergänge zwischen den einzelnen Entwicklungsstadien hinweist. Die oben angesprochene Aufgabe der Autobiographie, nützlich zu sein und zu erfreuen, wird nun am Beispiel der Erzähltechniken transparenter und in ihrer Wirkungsabsicht bestätigt.
Das im Tagebucheintrag von Goethe scheinbar unvermittelt notierte und in den Mittelpunkt gerückte Wort Metamorphose und die darauf folgenden Ausführungen bekommen damit einen tieferen Sinn. Sie verknüpfen nicht nur die Autobiographie als Entwicklungsweg eines Individuums mit der Morphologie und Goethes naturwissenschaftlichen Forschungen. Sie skizzieren zudem ein Bildungs- und Entwicklungsmodell, das so explizit erst später wieder im nicht erschienenen Vorwort zum 3. Buch aufgegriffen und auf "Dichtung und Wahrheit" bezogen wird:
"Es gibt ein Physiologisch-Pathologisches, z.E. in allen Übergängen der organischen Natur, die aus einer Stufe der Metamorphose in die andere tritt. Diese wohl zu unterscheiden vom eigentlich morbosen Zustande.
Wirkung des Äußeren bringt Retardationen hervor, welche oft pathologisch im ersten Sinne sind. Sie können aber auch einen morbosen Zustand hervorbringen und durch eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen das Wesen umbringen." (ZA Bd. 26, S. 302)
Der Bildungs- und Entwicklungsweg jeder Einzelpersönlichkeit, die wie alles Leben ein Teil der Natur ist, ist von Übergängen von einer Stufe der Metamorphose zur anderen gekennzeichnet. Solche Verwandlungsprozesse verlaufen, selbst wenn sie leidvoll sind, naturnotwendig (Entelechie) ab und werden von äußeren Umständen ausgelöst. In der Autobiographie wiedergegebene Erkrankungen Goethes etwa gegen Ende der Frankfurter Kindheit und während des Wechsels von Leipzig nach Frankfurt sind als "Physiologisch-Pathologisches" sinnvolle und zielgerichtete Prozesse bei der Weiterentwicklung des Individuums und sollen daher zur Darstellung kommen.35)
Nicht sinnvoll darzustellen sind hingegen, weil sie der erzieherischen Absicht zuwider laufen, "morbose Zustände", die eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen bis hin zum Untergang des Individuums hervorbringen können. Dem positiven Bildungsprozess wird ein negativer Degenerationsprozess menschlicher Entwicklung gegenübergestellt, der in einer Autobiogaphie unbedingt zu meiden ist.
Mag Goethes organologisches Modell auch deterministisch wirken, so bleibt es doch vor allem einer Wirkungsästhetik unterworfen. Die Lebensbeschreibung greift auf das morphologische Modell, das einer Entelechie folgt, zurück, um auf den Leser im Sinne einer positiven Metamorphose bildend einzuwirken und morbosen Zuständen, zerstörerischen körperlichen, seelischen und sittlichen Krankheiten, vorzubeugen.
Goethe folgt dem Konstrukt dann bei der Ausarbeitung von "Dichtung und Wahrheit", wie er selbst in dem im Juni / Juli 1813 abgefassten unveröffentlichten Vorwort zum 3. Teil schreibt, ganz bewusst:
"Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drei Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln. In zweiten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Beete ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen." (MA Bd. 16, S. 868)
Durch seine Naturforschungen hatte sich Goethe einen Orientierungsrahmen und ein Erklärungsmuster auch für historische, politische und private Ereignisse und Zusammenhänge erarbeitet. Seine Jugendjahre wurden ihm darstellbar "als eine Epoche der geordneten und planvoll verlaufenden ´stufenweisen` Entwicklung", bei der allenfalls "Krisen im Sinne der Medizin in Erscheinung treten, als für den Heilungs- und Entwicklungsprozeß notwendige und rasch vorübergehende ´Fieberphasen`".36) Er nimmt so seinem Lebensweg den Anschein des Willkürlichen und Zufälligen, er sucht klare Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen.37)
Das wirkungsästhetische Programm hat allerdings nicht für "Dichtung und Wahrheit" als Ganzes Bestand. Mit der Erkenntnis der Kategorie des Dämonischen, das sich jeder Sinngebung und Vorherbestimmbarkeit sowie einer positiven Deutung des Lebens als Wachstumsprozess entzieht, wird die autobiographische Darstellung erneut zum Problem und in der in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Weise nicht mehr durchhaltbar. Die Metamorphose als Darstellungsprinzip wird suspendiert38), da Goethe es im Laufe der Jahre selbst immer bewusster wurde, dass das Kozept stufenweiser Entwicklung auch auf seinen eigenen Lebensweg selbst nicht anwendbar ist. Die programmatische Dimension seiner Idee für das Werk bleibt davon aber unberührt.
 
"Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam."
J.W.v. Goethe
b) Das Vorwort von "Dichtung und Wahrheit" (08.09.1811)
Das nach der Niederschrift der ersten fünf Bücher entstandene Vorwort kann grob in zwei Teile gegliedert werden: in "den Brief eines Freundes", der die Aufforderung enthält, zu der zwölfbändigen Werkausgabe bei Cotta (1806-1810) eine Ergänzung hinzuzufügen, und in die Erklärungen des Autors, dass sich der Versuch, die Bitte des Freundes zu erfüllen, zu einem komplexen Werk ausgewachsen hat, das nicht nur Lücken zwischen den Werken schließt, Unbekanntes, Unvollendetes und Umgearbeitetes anführt sowie die wissenschaftlichen Arbeiten und die Arbeiten in anderen Künsten miteinbezieht, sondern auch die Notwendigkeit nach sich gezogen hat, das so entworfene komplexe Lebenswerk in einen politisch-historischen Rahmen einzupassen.
Goethe nutzt mit dem Vorwort nicht nur einen bekannten literarischen Topos, um dem Vorwurf der Eitelkeit und Unbescheidenheit zuvorzukommen39)und seine Autobiographie zu rechtfertigen, er entwirft vielmehr rhetorisch40) geschickt auch die Gesamtprogrammatik, nach der "Dichtung und Wahrheit" von seinen Lesern rezipiert werden soll. Das Vorwort ist eine Leseanleitung zum Verständnis von Aufbau und Zielsetzung der Autobiographie. Über eine fiktive Kontaktaufnahne mit dem Publikum - "Der Schriftsteller soll bis in sein höchstes Alter den Vorteil nicht aufgeben, sich mit denen die eine Neigung zu ihm gefaßt, auch in die Ferne zu unterhalten" (MA Bd. 16, S. 10) -, ein fingiertes Autor-Leser-Gespräch, wird die Rezeptionshandlung des Lesers zu steuern versucht.41)
(1) Der fiktive Brief des Freundes
In welcher Haltung und mit welchen Bitten tritt nun der fiktive Freund an den Autor heran? Er stellt sich als treuer Leser von Goethes Werk dar, der bei der Lektüre des zwölfbändigen Gesamtwerkes "manches Bekannte, manches Unbekannte; ja manches Vergessene" (MA Bd. 16, S. 9) antrifft und so seine Kenntnisse wieder auffrischen kann. Allerdings beginnt gleichzeitig ein Nachdenken über Genese und Charakter des Werkes, das äußerlich - vom Bucheinband her - eine Ganzheit vortäuscht, die inhaltlich wegen der Wandlungen, die der Autor während seiner Schriftstellerlaufbahn durchlaufen hat, und der vielen Talente, die in ihm angelegt sind, nicht eingehalten wird. Die so entstehende Ausschnitthaftigkeit führt zu Rezeptionsschwierigkeiten, die der Autor, damit er selbst besser verstanden werden kann, mit Angaben über "besondere Veranlassungen" seiner Werke, äußere Einflüsse, den inneren Bildungsgang sowie über "gewisse temporäre moralische und ästhetische Maximen und Überzeugungen" (MA Bd. 16, S. 9) beseitigen soll. Der fiktive Freund verlangt - wohlgemerkt als Kenner von Goethes Werk, denn er spricht von einer "alten Neigung" und einem "verjährten Verhältnis" - Verständnis-, ja Interpretationshilfen, da ihm das Schaffen des Schriftstellers zu heterogen und fremd geworden ist. Er muss mit anderen Freunden des Dichters versuchen, "manches Rätsel zu erraten, manches Problem aufzulösen", da "diese Produktionen immer unzusammenhängend" bleiben; „ja oft sollte man kaum glauben, daß sie von demselben Schriftsteller entsprungen seien."42) (MA Bd. 16, S. 9) Und wie mag es erst gar denjenigen ergehen, die dem Werk Goethes fern stehen!
Dass die Klagen nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern ein auch für Goethe selbst zentrales Problem darstellten, wird etwa in dem Brief an Zelter vom 07.05.1807 erkennbar: "Überhaupt habe ich bei Herausgabe meiner Werke sehr lebhaft gefühlt, wie fremd mir diese Sachen geworden sind, ja daß ich fast kein Interesse mehr daran habe." (DKV II, Bd. 6, S. 182) Er hat sich von seinem eigenen Werk entfremdet und daher auch massive Motivationsprobleme, wie er am 01.02.1808 gegenüber Eichstädt bekennt, sich abermals mit ihm auseinanderzusetzen:
"Was mich betrifft, so habe ich diese Arbeiten dergestalt von meinem Herzen abgelöst, daß ich sie gern der Welt und Nachwelt zu beliebiger Lust und Unlust überlasse ohne weiter daran und darüber zu denken." Und: "Noch nie bin ich gedrängter gewesen als jetzt, mich durch das was mir vorliegt durchzuarbeiten. Noch nie war ich weniger gestimmt rückwärts zu sehen." (DKV II, Bd. 6, S. 272-273)
Welche Rezeptions- und damit auch Verkaufshürden das für die wenig Resonanz nach sich ziehende Veröffentlichung des Gesamtwerkes darstellte, schreibt er am 22.06.1808 abermals an Zelter:
"Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freilich wunderlich und inkohärent genug neben einander aus; deswegen die Rezensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem und bösem Willen das Zusammengedruckte als ein Zusammengehöriges betrachten wollen." (DKV II, Bd. 6, S. 326)
Goethe war in seiner schriftstellerischen Genese und Lebensbahn so vielen Strömungen und Einflüssen unterlegen, dass nicht nur eine schwer nachvollziehbare Heterogenität, sondern auch eine starke Fragmentierung des Werkes die Folgen waren. Und die einzige Person, die eine eventuell hinter dem Werk stehende Grundidee und Identität vermitteln könnte, war allenfalls er selbst.43) Der Weg, Rezeptionshürden zu beseitigen, konnte nur über die Darstellung der Entstehungsbedingungen gelingen. Müller formuliert dazu: "Das Leben des Autors wird hier als der Schlüssel zum Gesamtwerk verstanden, es schließt die literarisch vermittelten ´Bruchstücke` zu einem Ganzen zusammen ..."44)
Goethe scheint zudem früh jenseits aller auseinanderstrebenden Entfaltungstendenzen eine innere Geschlossenheit seiner Dichtungen gespürt zu haben. So schreibt er am 21.11.1782 an Knebel:
"Nur im Innersten meiner Pläne und Vorsäze, und Unternehmungen bleib ich mir geheimnißvoll selbst getreu und knüpfe so wieder mein gesellschafftliches, politisches, moralisches und poetisches Leben in einen verborgenen Knoten zusammen." (DKV II, Bd. 2, S. 460)
So eröffnet das autobiographische Schreiben für Goethe auch die Möglichkeit, selbst dem Prinzip, dem sein Leben zu folgen schien, nachzuforschen und es, im Sinne einer Entfaltung eines Lebensplans, klarer herauszustellen und zu bündeln45). Schiller hatte ihm schon am 17.01.1797 angedeutet:
"Ich wünschte besonders jetzt die Chronologie Ihrer Werke zu wissen, es sollte mich wundern, wenn sich an den Entwicklungen Ihres Wesens nicht ein gewisser notwendiger Gang der Natur im Menschen überhaupt nachweisen ließe." (MA Bd. 8, 1, S. 302)
Im Grunde fordert er Goethe zu einem Prozess der Selbstbewusstwerdung auf46), den er später mit "Dichtung und Wahrheit", seinen anderen autobiographischen Schriften und den "Tag- und Jahresheften" auch einschlug.47) Peter Matussek ergänzt diesen Gedanken durch eine interessante Akzentverschiebung: "Goethe schreibt seine Lebenserinnerungen nicht obwohl, sondern weil er große Projekte vor sich hat. Er vollzieht die Retrospektive nicht im Interesse einer abschließenden Bilanz, sondern des Aufspürens kreativer Impulse."48) Entsprechend formuliert Goethe am 08.04.1812 an Zelter: "An dem 2. Bande meines biographischen Versuchs habe ich mehr durch Denken und Erinnern gearbeitet, als daß ich viel zu Papier gebracht hätte." (DKV II, Bd. 7, S. 1012)
Das von dem fiktiven Freund49) im Vorwort formulierte Anliegen - und er steht hier stellvertretend für einen möglichen Rezipienten, der einer Orientierungshilfe bedarf - besteht primär darin, dass Goethe eine sinngebende Anordnung seiner Werke anbietet, damit Entwicklungslinien, wie das eine aus dem anderen hervorgeht oder sich grundsätzlich das Werkganze verändert, verfolgt werden können. Weiter fordert er neben einer Skizze der Lebensumstände die rückblickende Introspektion des Autors, damit emotionale und psychische Befindlichkeiten, aus denen die literarischen Werke hervorgingen, verstehbar werden. Der Leser soll weiter Auskunft erlangen über literarische wie persönliche Vorbilder, Modelle, die den inneren wie schriftstellerischen Entwicklungsprozess in Gang gesetzt und befördert haben. Und schließlich müssten - es ist ja noch offen, ob der Autor den Anliegen auch entsprechen wird - die entworfenen naturwissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Theorien, denen die Identitätsbildung wie das Schaffen folgten, zugänglich gemacht werden. Ein hoher, umfassender Anspruch, der also an die Autobiographie gestellt wird, die zudem "angenehm und nützlich" sein soll.50)
Der erste Teil der Programmatik der Autobiographie besteht also vor allem in einer möglichst großen Transparenz bezüglich der Genese der Werke sowie der Entwicklung wie Bildung des Autors. Es wird eine "bis dahin unbekannte oder nur Eingeweihten bekannte Verbindung zwischen Werk und Leben hergestellt", die vor allem der Idee einer "unmittelbaren Begründung [des Werkes] aus dem Erleben und der Eigenart des autobiographischen Ichs" folgt.51)
Jedoch darf auch nicht übersehen werden, dass es eine vom Autor gelenkte Transparenz ist. Goethe gibt nicht nur "einem inhomogenen Lesepublikum neues Orientierungswissen"52) an die Hand, er bestimmt gleichzeitig, in welche Richtung sich der Leser orientieren soll, wie er seine Werke gelesen haben möchte. Sowohl die Biographik53) wie auch literaturwissenschaftliche Interpretationsansätze werden so jenseits des Versuches, sich in einer wandelnden Welt Rezipienten zu sichern, gelenkt. Sein Tun sieht Goethe dadurch gerechtfertigt, dass er die dafür notwendige zeitliche Distanz, eine erweiterte Erkenntnis und ein geschärftes Bewusstsein erlangt hat.
Im Sinne wiederholter Spiegelungen54) macht der Schriftsteller zudem sein eigenes Werk wieder zu einem Rohstoff, aus dem er ein neues Werk schöpft und das alte Geschaffene neu belebt, vielleicht auch als Ersatz für fehlende grundlegende und durchschlagende Neuschöpfungen: "und wenn es nicht einem jeden verliehen sein möchte, in gewissen Jahren mit unerwarteten, mächtig wirksamen Erzeugnissen von neuem aufzutreten". Das mutet fast wie eine moderne Form von Kunstrecycling an, die besonders dann notwendig wird, wenn man in Vergessenheit zu kommen droht. Das ist vor allem dann legitim, wenn die ehemalige herausragende Bedeutung des eigenen Werkes aus dessen Geschichtlichkeit heraus wieder in Erinnerung gerufen wird.55) Ganz konkret spricht Goethe die Hoffnungen, die er in sein autobiographisches Werk bezüglich "neuer alter" Leserschichten setzte, gegenüber Cotta in dem Brief vom 04.05.1811 aus:
"Ich hoffe durch diese unschuldigen Bekenntnisse mit allen denen, die mir wohlwollen, auf´s neue in eine lebendige Verbindung zu geraten, und das was ich bisher allenfalls tun und leisten können,besonders für meine Freunde abermals zu beleben und interessant zu machen." (Goethe und Cotta: Briefwechsel. Bd. 1: 1797-1832. Hg. v. Dorothea Kuhn, Stuttgart 1979, S. 223 (Cotta))
(2) Die Antwort des Schriftstellers
Der zweite Teil des Vorwortes zeigt nun, inwieweit der Autor auf die guten Ratschläge eingeht. Zu Beginn verdeutlicht er die im Vergleich zu früheren Zeiten gewonnene Einsicht, auf Anregungen auch einzugehen. Doch türmten sich darauf - wie oben skizziert - unvorhergesehene Schwierigkeiten auf, die ihn von der vom fiktiven Freund angeregten Konzeption immer weiter wegführten. Rhetorisch geschickt begründet Goethe so den schnell anwachsenden Umfang der Autobiographie, erklärt ihn aus einer Sorgfalt heraus, von außen an ihn herangetragene Ansprüche erfüllen zu wollen. Es ist gewissermaßen nicht seine Schuld, dass er aus dem "engen Privatleben in die weite Welt gerückt" wird, er neben ihn beeinflussenden bedeutenden Persönlichkeiten die Eigenheiten des "allgemeinen politischen Weltlaufs" (MA Bd. 16, S. 11) beschreiben muss.
Dann fallen die eigentlichen Schlüsselsätze des Vorwortes, die den zweiten Teil der zentralen Programmatik beinhalten und die über die Jahre hinweg entwickelten Vorstellungen bündeln und weiterentwickeln:
"Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein." (MA Bd. 16, S. 11)
Die Autobiographie muss damit drei Grundanforderungen genügen: Als erstes sollen die zeitlich-örtlichen Rahmenbedingungen, in denen ein Mensch lebt, auf die Wirkfaktoren, denen das Individuum in seinem Leben ausgesetzt war, hin analysiert werden. Eine bewusst gefilterte Auswahl steht im Zentrum der Ausarbeitung, um den Weg aus dem Privaten in die weite Welt exemplarisch zu verdeutlich und die grundlegenden Veränderungen "des allgemeinen politischen Weltlaufes" für einen Leser mit wenigen Kenntnisse nachvollziehbar zu machen.
Als zweites sollen die Reaktionen des Einzelnen in dieser quasi experimentellen Lebenssituation aufgegriffen und veranschaulicht werden: Was fördert? Was hindert? Welches Weltverständnis und welche Menschensicht resultieren daraus? Darin sind nicht nur erzieherische Implikationen enthalten, da das in der Autobiographie exemplarisch analysierte Individuum dem Leser Wirkungsmechanismen zu veranschaulichen mag, die nicht nur ihr Sosein erklären, sondern gleichzeitig den Blick auf Freiheit und Notwendigkeit in dessen eigenen Lebensweg lenken.56) Gerade der durch die Autobiographie freigegebene Blickwinkel auf ein einzelnes Individuum ist, wie Goethe in einer wohl 1807 entstandenen Reflexion über die "Bedeutung des Individuellen" ausführt , entscheidend für eine Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Jeder Mensch könne nur aus einer exemplarisch individuellen Sicht heraus denken und lernen:
"Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich auch eigentlich nur für´s Individuelle interessieren. Das Allgemeine findet sich von selbst, dringt sich auf, erhält sich, vermehrt sich. Wir benutzen´s, aber wir lieben es nicht.
Wir lieben nur das Individuelle; daher die große Freude an Porträten, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedner selbst unbedeutender Menschen." (WA I. Abt., Bd. 36, S. 276)
Die sich für den Leser daraus ergebende pädagogische Dimension führt Goethe im 2. Buch von "Dichtung und Wahrheit" aus:
"denn das ist ja eben das Lehrreiche solcher sittlichen Mitteilungen, daß der Mensch erfahre, wie es andern ergangen, und was auch er vom Leben zu erwarten habe, und daß er, es mag sich ereignen was will, bedenke, dieses widerfahre ihm als Menschen und nicht als einem besonders Glücklichen oder Unglücklichen." (DuW (Reclam), S. 72)
Die Autobiographie wird zum Modell möglichen Lebens, an dem man exemplarisch den Verlauf von Menschsein an sich vorgeführt bekommt und danach die Grundhaltung gegenüber dem eigenen Leben im Sinne einer Relativierung und steigenden Gleichmutes ausrichten kann. Vorgeführt wird, wie Leben eben ist, mit allen positiven wie negativen Aspekten, und wie Leben eben durchlebt werden kann. In der so entstehenden Lebensnähe und damit Lebendigkeit der Darstellung sieht Goethe in einer Aufzeichnung Riemers aus den Jahren 1811/12 (Paralipomenon 40) gerade die Stärke der Autobiographie gegenüber der Historiographie:
"Die Biographie sollte sich einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert, wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt. Die Lebensbeschreibung soll das Leben darstellen, wie es an und für sich und um sein selbst willen da ist. Dem Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, daß er sich nach Resultaten umsieht; aber darüber geht die einzelne Tat so wie der einzelne Mensch verloren." (MA Bd. 16, S. 861)
Ist das Individuum - so der dritte Aspekt - zudem noch zu eigenem gestalterischen Handeln und zur Tat fähig, kann die Rückwirkung auf die Welt als Wechselprozess betrachtet werden. Wichtig wird,was sich nach einem inneren Verarbeitungsprozess als gefiltertes Substrat des Welterlebens in diese zurückspiegelt und so bei der Welterkenntnis des Lesers helfen kann. Er gewinnt zumindest ein paar Körnchen der Wahrheit über vergangene Epochen, denn das Leben des Individuums wird zu einem Erkenntnismedium über die historischen Wechselwirkungsprozesse zwischen Menschen und den Bedingungen ihrer Zeit.
Die Summe der Abspiegelungen gibt schließlich ein Schlaglicht auf die Entwicklung der Menschheit. Dies ist besonders dann der Fall, wenn es einem Individuum wie Goethe gelingt, sich selbst möglichst viel von der Welt und ihrer Wandlungen anzueignen. Entsprechend urteilt auch Trunz57):
"Es kommt in der neuzeitlichen Autobiographie darauf an, wieviel "Welt" das Ich sich anzueignen vermag; denn soviel Welt muß in die Darstellung hinein. Je offener jemand ist, desto mehr Welt gibt es für ihn."
Das komplexe Wechselverhältnis zwischen Welt und Mensch formuliert Goethe in der "Bedeutenden Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort" (1823) nochmals zusammenfassend:
"Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. ... Ich habe daher in reiferen Jahren große Aufmerksamkeit gehegt, in wiefern andere mich wohl erkennen möchten, damit ich in und an ihnen, wie an so viel Spiegeln, über mich selbst und über mein Inneres deutlicher werden könnte." (ZA Bd. 16, S. 880)
Borchmeyer sieht gerade in dieser "zeugend-empfangende(n) Wechselwirkung von Innen- und Außenwelt ... das Prinzip der Goetheschen Autobiographie auf den Punkt gebracht."58) Hinzu kommt aber noch ein zentraler pädagogischer Aspekt, da das Leben anderer zum Exempel für Welterkenntnis wird und die Spiegelung der eigenen Person in und durch andere die eigene Entwicklung und Bildung hin zu mehr Reife fördert.59) Jeder Leser einer Autobiographie kann sich ihm bislang unbekannte Sachverhalte aneignen und die "Entfaltung von im Individuum angelegten Begabungen und Eigenschaften"60) mitdurchleben.
Goethe nennt gegen Ende seines Vorwortes die geschilderten Anforderungen an die Autobiographie ein "kaum Erreichbares", weil das Individuum gegenüber der Zeit, in der es lebt, und der eigenen Person eine kritische Distanz benötigt, gewissermaßen Souverän gegenüber all den Wirkungsmechanismen bleiben muss, die es zu beschreiben beabsichtigt. Nur aus einer geforderten Distanz wird das eigentliche Wesen, der innerste Kern des Individuums herausschälbar, wird eine Selbstverfälschung aus eigener Verstrickung vermieden. Nur eine Perspektive außerhalb des Zeitstromes ermöglicht es, die wesentlichen Veränderungen und deren Ursachen zu isolieren und in ihrer Rückwirkung auf die Menschheit aus einem historischen Bewusstsein heraus zu veranschaulichen. In den "Tag- und Jahresheften" zum Jahr 1811 formuliert Goethe dabei selbst die Skepsis, ob wegen der unüberwindbaren Subjektivität, der jeder irgend wann einmal in seinen Betrachtungen unterliegt, eine solch distanzierte Haltung überhaupt möglich ist: "´Wahrheit und Dichtung`, innigst überzeugt, daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr in der Erinnerung die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele." (ZA Bd. 11, S. 846) Das verweist dann aber schon auf den Titel von "Dichtung und Wahrheit", der gleichfalls programmatischen Anspruch erhebt und genau dieses Problem ins Zentrum rückt.
Wie in den "Bildnissen lebender Berliner Gelehrten" (1806) spricht Goethe dann gegen Ende des Vorwortes noch einmal das Jahrhundert in seiner schier unkontrollierbaren Eigenkraft - "welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet" (MA Bd. 16, S. 11) - an und verkürzt, scheinbar noch sensibler geworden für die epochalen Veränderungen, den Generationenwechsel auf zehn Jahre. Um so mehr unterstreicht er damit die Wichtigkeit seiner Autobiographie in ihrem archivierenden und historiographischen Charakter für die Nachwelt. Die gleichfalls bedeutsam bleibenden Aspekte für ihn selbst - Erhalten einer Leserschicht, Abbau von Rezeptionshürden - macht er dadurch fast vergessen.
 
"Die Erinnerung dichtet, ob der Sich Erinnernde es will oder nicht."
Erich Heller
c) Der Titel von "Dichtung und Wahrheit" als Programm
"Dichtung und Wahrheit", der Titel des Teiles der Autobiographien, die unter "Aus meinem Leben" zusammengefasst sind61) und der Goethes Leben von seiner Kindheit bis zu seinem Aufbruch nach Weimar beschreibt, sorgt seit langem für deutliche Forschungskontroversen.62) Goethe empfand ihn selbst nicht nur als paradox, er war zugleich eine Provokation, da "eine wesentliche Konvention der Gattung, die Wahrheitstreue, durch das Wort ´Dichtung` in Frage gestellt wird."63)
Mag sein, dass Goethe mit dem Begriff "Dichtung" den bei Autobiographien immer wieder aufkommenden Zweifeln der Leser gegenüber der Echtheit des Geschriebenen zuvorzukommen versuchte. In dem seine Motive bezüglich der Titelgebung sehr erhellenden Brief64) an König Ludwig I. von Bayern vom 17.12.1829 (abgeschickt am 12.1.1830) formuliert er:
"Was den freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischer Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiction, gewissermaßen ohne Noth, durch einen gewissen Widerspruchs-Geist getrieben ..." (DKV II, Bd. 11, S. 209)
Goethe macht deutlich, dass er bezüglich des Wahrheitsgehaltes seiner Autobiographie - er spricht von "Vertraulichkeiten" - eigentlich keine Not gesehen hat, auf eine immanente "Dichtung" zu verweisen. Er hat sich vielmehr bewusst, ja fast ironisierend gegen Zweifel des Publikums stellen wollen und daher selbst etwas Erdachtes oder gar bewusst Falsches behauptet.
Allerdings geht die mit dem Titel angesprochene Problematik viel tiefer. Goethe verabschiedet sich in seiner Autobiographie keinesfalls von einer Nähe zur Tatsachenwahrheit - seine breiten Recherchen und Nachforschungen sind ja überliefert -, er versucht vielmehr einem erkenntnistheoretischen Problem gerecht zu werden - erinnert sei an das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit -, das sich beim Schreiben jeder Autobiographie ergibt. Mit Jannidis lässt es sich nochmals so charakterisieren:
"Der Mensch kann die Außenwelt nicht objektiv wahrnehmen, sondern formt sein Bild der Welt ´nach seinen Eigenheiten`. Wirklichkeitswahrnehmung ist kein passiver Vorgang, sondern durch die Individualität des Menschen geprägt. Das gilt insbesondere für die Erinnerung."65)
Zu dem wahrnehmungspsychologischen Problem, dass jegliche Wahrnehung der Welt zwangsläufig subjektiv eingefärbt ist, kommt damit ein gedächtnispsychologisches hinzu.66) Entsprechend fährt Goethe in dem Brief an Ludwig I. fort:
"Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. Bringt ja selbst die gemeinste Chronik nothwendig etwas von dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben wurde." (DKV II, Bd. 11, S. 209)
Erinnern des lückenhaft und nur begrenzt Behaltenen löst nach Goethe einen inneren kreativen Prozess aus, bei dem das Erinnerte geglättet und schlüssig gemacht wird und dabei notwendigerweise Gedächtnislücken teils phantasievoll ausgefüllt werden. Im 9. Buch von "Dichtung und Wahrheit" meint er etwa, dass das wirkliche Leben oft dergestalt an Glanz verliert, "daß man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muß" (DuW (Reclam), S. 392). Diese Kreativität und Phantasie nähert sich in ihrer Art dem dichterischen Vermögen an, gleicht fast dem schöpferischen Prozess des Schreibens. Um die Unschärfen und das teils wirklichkeitsfern Rekonstruierte nicht zu groß werden zu lassen, sollte sich der Autobiograph besonders auf klar erkenn- und rekonstruierbare Resultate stützen und seine sich aus der momentanen Lebens- und Schreibsituation ergebenden Betrachtungsweisen transparent machen. Falsch wäre es nach Goethe also, sich alleine auf eine detailgenaue und dadurch zwangsläufig wirklichkeitsfern werdende Rekonstruktion der Vergangenheit zu kaprizieren. Eine Autobiographie zu schreiben bedeutet also nicht nur, den eigenen Lebensweg wiederzugeben, sondern auch - dem Leser dies fairerweise kennzeichnend - die eigenen Urteile und Bewertungen, die Deutungsmuster der Gegenwart67), die an die Vergangenheit sowie an den Lebensweg gelegt werden, nachvollziehbar zu machen. Das Wort "Dichtung" im Titel verweist somit auf die Standortgebundenheit des Autobiographen, der ja nur so schreiben kann, wie es ihm jetzt und hier erscheint.68) Ein bewusst deutendes und ordnendes Eingreifen bei der Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte bis hin zu nachträglichen Sinnstiftungen und Harmonisierungen69) darf deshalb nicht überraschen.
Welcher Art die Deutungsprozesse bei der autobiographischen Rekonstruktion der Vergangenheit sein können, hat Goethe in einem Paralipomenon bildhaft veranschaulicht:
"Wollte man die Herrlichkeit des Frühlings und seiner Blüten nach dem wenigen Obst berechnen, das zuletzt noch von den Bäumen genommen wird; so würde man eine sehr unvollkommene Vorstellung jener lieblichen Jahreszeit haben." (MA Bd. 16, S. 861)
Wählt der Autobiograph die Resultate des Lebens, die Früchte, aus, muss er in der Darstellung ihrer Entstehung die vielen anderen Blüten, die Ansätze, die in Kindheit und Jugend auch vorhanden waren, aber nicht ausgebildet wurden, beiseite lassen. Dies ist aber immer eine Auswahl ex post, vom Ergebnis her. Aus der Perspektive des Kindes oder Jugendlichen ist noch nicht erkennbar, was an Blüten zu einer Frucht heranreifen wird. Die Darstellung des Lebens von der Gegenwart des Schreibers her verkürzt auf der anderen Seite, weil die Sichtweise zwangsläufig vom Lebensertrag ausgeht. Die Kriterien für die Vorauswahl werden von der gegenwärtigen Situation des gealterten Autobiographen bestimmt, von seinen Lebensumständen, seinem Denken und seiner Lebenssicht.
Dies hat zudem Auswirkungen auf den Leseprozess. Ein Leser müsste, um einer Autobiographie gerecht zu werden, "den Zeitpunkt der Entstehung und damit auch die Perspektive auf das Geschehen kennen, um die besonderen Bedingungen des Berichts erfassen zu können."70)
Damit ist aber die mit dem Begriff "Dichtung" angesprochene Problematik noch nicht erschöpft. Ein auffallendes Kennzeichen von Goethes Autobiographie ist eben gerade eine systematische Ausgestaltung mit literarischen, mit dichterischen Mitteln. Eine durchgängige Literarisierung kommt etwa in den verwendeten literarischen Formen wie: der referierende Exkurs, das Personenportrait, die ausmalende Beschreibung, der Reisebericht, die Anekdote, der szenische Dialog, die Novelle, die Idylle oder das Märchen zum Ausdruck.71) Poetisch-ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten werden bewusst und zielgerichtet eingesetzt, ihnen scheint sogar eine zentrale Bedeutung für die Darstellung desjenigen zuzukommen, das Goethe in seiner Aussageabsicht besonders am Herzen lag.
Hier rückt nun der zweite Schlüsselbegriff des Titels, "Wahrheit", ins Zentrum der Betrachtung. In dem schon oben herangezogenen Brief an Ludwig I. führt Goethe dazu aus, dass es sein "ernstestes Bestreben" gewesen sei, "das eigentlich Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken." (DKV II, Bd. 11, S. 209)
Wegen der genannten erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten konzentriert sich  Goethe bei der Abfassung der Biographie nicht auf eine exakte Abbildung der Wirklichkeit, sondern auf eine wirklichkeitsnahe Ausarbeitung des am Beispiel des eigenen Lebens als wahr Erkannten, was er mit dem Begriff des "Grundwahren" umschreibt. Dieses muss mit der Wirklichkeit durchaus nicht identisch sein. Gegenüber Eckermann (30. März 1831) spitzt Goethe zu: "Ein Factum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern in so fern es etwas zu bedeuten hatte." (ZA Bd. 24, S. 493) Die dichterischen Möglichkeiten dienen dann dazu, den als bedeutsam erkannten tieferen Sinn der durchlebten Vergangenheit möglichst ausdrucksstark herauszustellen. De Bruyn bringt die dahinterliegende Idee sehr treffend auf den Punkt, wenn er schreibt,
"daß (nicht nur bei Goethe) der Begriff Dichtung nicht Erfindung bedeutet, sondern daß er als Verdichten des Geschehenen, als Konzentrieren des Vielfältigen und Zufälligen oder auch als gedankliches Durchdringen oder Deuten zu verstehen ist. Dichtung im autobiographischen Schreiben ist die Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig zu machen, Wesentliches in Sein und Werden zu zeigen, Teilwahrheiten zusammenzufassen zu dem Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich."72)
Auch Wertheim meint:
"Nun sind die Fakten zwar unabdingbare Elemente der Autobiographie, aber die ´reale Dicht- und Darstellungsweise` erschöpft sich ja, auch in Goethes Ansicht, keineswegs in naturalistischer Wiedergabe. Es kommt darauf an, das ´Gemeine` und ´Alltägliche` in seiner Besonderheit, ´Eigentümlichkeit` herauszuarbeiten, damit das, was typisch ist, verallgemeinert werden kann, womit auch eine gewisse symbolische Überhöhung zu erreichen ist."73)
Und Fues kommt schließlich zu dem Ergebnis:
"Dichtung fungiert als Mittel zu einem Zweck; ich ergänze: als Mittel zu dem höheren Zweck, der Biographie Symbolgestalt zu geben. ... Dichtung fingiert ein Medium, in dem wahrhaftige Fakten und wahre Resultate sich zur symbolträchtigen Einheit des Grundwahren verbinden und vermitteln."74)
Mit denVerweisen auf das Symbolische weitet sich die Perspektive der bisherigen Betrachtung nochmals. Es geht danach bei dem "Grundwahren" nicht nur um das von Goethe als wahr Erkannte, sondern um Grunderkenntnisse, denen für die Menschheit allgemeingültiger Wahrheitscharakter zugesprochen wird. Es werden, wie Niggl es ausführt, "überzeitliche Polaritäten und Symbole als das ´Grundwahre` dieses wie jedes Menschenlebens sichtbar".75)
Kurz vor seinem Lebensende fasst Goethe seine Grundhaltung gegenüber Eckermann (30.03.1831) entsprechend so zusammen:
"´Es sind lauter Resultate meines Lebens`, sagte Goethe, ´und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhrere Wahrheit, zu bestätigen`." Und weiter: "Ich dächte ..., es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens." (ZA Bd. 24, S. 493)
Dies durch die vorliegende Form von "Dichtung und Wahrheit" zum Ausdruck zu bringen, darin darf die Kernprogrammatik Goethes gesehen werden.
Bevor der Überlegung weiter nachgegangen wird, soll jedoch in einem abschließenden Schritt versucht werden, den Begriff des "Grundwahren" weiter zu klären. In dem "Naturphilosophie" überschriebenen Beitrag zu "Über Kunst und Altertum" charakterisiert Goethe das "Wahre" folgendermaßen:
"jenes wirkt immer fruchtbar und begünstigt den der es besitzt und hegt; dahingegen das Falsche an und für sich tot und fruchtlos daliegt, ja sogar wie eine Nekrose anzusehen ist wo der absterbende Teil den Lebendigen hindert die Heilung zu vollbringen." (DKV I, Bd. 25, S. 78)
Es handelt sich also um etwas, was, falls ihm genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird, den Menschen in seiner Entwicklung fördert (Metamorphose) und das sich von seinem Gegenteil (negative Metamorphose), das die Entwicklung des Subjekts dauerhaft unterbindet, es sogar zu einem Zerfall und Untergang führen kann, abhebt.
Ein wichtiger Aspekt dieser etwas nebulös angedeuteten Wahrheit scheint für Goethe nach einer fragmentarisch gebliebenen "Selbstschilderung" (1797) ein stetes Tätigsein gewesen zu sein:
"Immer thätiger, nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunct und die Base seiner Existenz; hat man den gefaßt, so lösen sich alle übrigen anscheinenden Wiedersprüche." (WA I. Abt., Bd. 42, 2, S. 506)
Das Streben nach Selbstausbildung, das auch in seinem Spätwerk76) eine zentrale Stellung einnimmt, wird von Goethe an sich selbst früh als elementarer Wesenszug erkannt, wobei er durchaus eine damit einhergehende nachteilige, manchmal ziellos erscheinende Zersplitterung in vielfältige Interessengebiete beklagt:
"Daher die vielen falschen Tendenzen zur bildenden Kunst, zu der er kein Organ, zum tätigen Leben, wozu er keine Biegsamkeit, zu den Wissenschaften, wozu er nicht genug Beharrlichkeit hat; da er sich aber gegen alle drei bildend verhält, ... so sind selbst diese falschen Richtungen des Strebens nicht unfruchtbar nach außen und innen."77)(WA I. Abt., Bd. 42, 2, S. 507)
Mag der "Trieb rastlos" sein und zu einer Aufzehrung der Kräfte führen, so kann ein beharrlich auf Selbstbildung achtendes Individuum doch Erträge zeichnen. Gerade die Autobiographie bündelt in ihrer straffenden Zusammenschau die Ergebnisse von Goethes Strebens und führt seine Entwicklung über die wechselseitige Durchdringung und das Zusammenwirken seiner Talente und Bemühungen vor Augen. In den "Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" formuliert er nochmals diesen für ihn wichtigen Punkt:
"Allein dagegen hat man wiederum zu bedenken, daß die Tätigkeiten, in einem höheren Sinne, nicht vereinzelt anzusehen sind, sondern daß sie einander wechselweise zu Hülfe kommen und daß der Mensch, wie mit andern also auch mit sich selbst, öfters in ein Bündnis zu treten und daher sich in mehrere Tätigkeiten zu teilen und in mehreren Tugenden zu üben hat." 78) (Konfession des Verfassers, S. ???)
Gerade die Idee des Tätigseins, um einen bereits geäußerten Gedanken aufzugreifen und zu vervollständigen, macht "Dichtung und Wahrheit" zu einem Teil des verallgemeinernd-symbolisierenden Alterswerks Goethes79), das mehrere Aufgaben erfüllt:
"er [der Text] realisiert die Intention seines Verfassers, mit ´Dichtung und Wahrheit` die ´Lücken eines Autorlebens` auszufüllen; er präsentiert, im Zusammenhang damit, dem Autor und dem Publikum die Vielfalt der eigenen Arbeiten als historisch gewachsene Einheit; und er gestaltet diese Einheit als repräsentativ für menschliches Erleben und Handeln schlechthin. Gerade dieses aber ist ohne erzählende Synthese im Rahmen der von Goethe selbst entworfenen Erzählsituation, ohne ´Dichtung`, weder erkennbar noch darstellbar."80)
Das Eigene - so letztlich das Programm - wird zum Allgemein-Menschlichen, indem es einer dichterischen Deutung unterworfen wird: Wahrheit und Dichtung.

4. Zusammenfassung der Ergebnisse

Nach einer schon über Jahre währenden Auseinandersetzung mit der Problematik des biographischen und autobiographischen Schreibens konzipiert Goethe aus einer Situation der Vereinsamung, der Konfrontation mit Tod und Vergänglichkeit und des allgemeinen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Umbruchs heraus sein autobiographisches Oeuvre. Zielsetzung sind eine archivarische Sicherung des fragmentarischen Gesamtwerkes wie der eigenen vergehenden Existenz sowie ein letzter Versuch, der beginnenden Bedrohung literarischen Vergessenwerdens durch eine Mobilisierung von Leserschichten entgegenzusteuern. Darüber hinaus wird ein Rezeptions- und Interpretationsmonopol von Werk und Person begründet, ein Verständnishorizont - verwiesen sei auf die Heterogenität des Werkes - für die nachfolgenden Lesergenerationen gesichert.
"Dichtung und Wahrheit" als autobiographisches Werk folgt der Maxime, unter den erkannten Bedingungen eines historischen Epochenwandels die Vergangenheit am Exempel eines Einzellebens zu verlebendigen und damit wachzuhalten. Goethe stilisiert sich zum geschichtsschreibenden Literaten, der Wert und Gehalt vergangener Zeiten für die nachfolgenden Generationen zu bewahren versucht. In einem Prozess wechselseitiger Spiegelungen nähert sich Goethe dabei aber auch seiner eigenen Person, Identität und Geschichte wieder an, indem sich sein Bewusstsein für die historischen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf seinen Lebensweg schärft. Die um Transparenz bemühte Darstellung der Wechselwirkung und Verflechtung von Individuum und Welt stellt den Kern des Werkes dar. Als Ergebnis zeitigt sie die Entfaltung eines Lebensplanes im Spannungsfeld zwischen angelegten Möglichkeiten und dem Zwang zur sinnvollen Selbstbeschränkung, der alleine zum Erfolg führen kann. Die Wirkung soll für den Leser neben der erzieherischen Belehrung (Welterkenntnis) vor allem auch in der Erbauung liegen, weshalb auf eine ansprechende literarische Erzählweise wie auf eine kunstvolle Konzeption besonderer Wert gelegt wird.
Dabei bleibt Goethe in seinem Schreibprozess bewusst - auch ironisch - distanziert dem eigenen Leben und Werk gegenüber und wird dadurch fähig, seinem Lebensweg neben der erzieherischen eine allgemeingültig-symbolische Dimension zu verleihen. "Dichtung und Wahrheit" wird als Modell des individuellen Bildungs- und Entwicklungsganges schlechthin konzipiert, aus dem Nutzen gezogen werden soll. In diesem Sinne ist es dann unerheblich, was aus der Standortgebundenheit des Autors heraus der Wirklichkeit abbildhaft entspricht und was Teil der literarischen Stilisierung ist, da beides dem höheren Zweck, das im eigenen Leben als wahr Erkannte weiterzuvermitteln, unterworfen wird.

5. Exkurse

a) Umbruchssituation um 1800: Warum schreibt Goethe "Dichtung und Wahrheit"?
Goethe lebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer privaten wie politisch-gesellschaftlichen Umbruchssituation. "Er stand fremd in fremder Welt", wie es Beutler81)formuliert.
Durch eine Massierung von Todesfällen wurde Goethes privates Lebensumfeld grundlegend verändert. 1802 verstarben sein viertes von fünf Kindern sowie Corona Schröter. 1803 war der Tod Herders zu beklagen, 1805 der des zehn Jahre jüngeren Schillers. Die Herzogin Anna Amalia verschied 1807; im Herbst 1808 seine Mutter, die letzte Zeugin der Frankfurter Kindheit. Zwar ist kaum von einem gefühlsmäßig-innigen Verhältnis zu ihr zu sprechen - Goethe hatte sie 1797, also elf Jahre zuvor, das letzte Mal gesehen, in den 33 Jahren seit seinem Weggehen aus Frankfurt besuchte er sie ganze dreimal; nach ihrem Tod schickte Goethe seine Frau und seinen Sohn nach Frankfurt, um die notwendigen Dinge zu regeln -, doch scheint Goethe durch die immer neuen Todesfälle verstärkt auf seine eigene Vergänglichkeit verwiesen worden zu sein.82) Nach seinem Tod würden mit seinem Gehirn die Gedächtnisinhalte und das Erinnernswerte an seinem Leben zerfallen; allenfalls an der Schädelform könnte vielleicht der überragende Geist ertastet werden.83) Alle unveröffentlichten, fragmentarischen oder sogar nur angedachten Werke würden nie zur Kenntnis genommen. Nicht zuletzt auch sein eigener labiler Gesundheitszustand - 1801 starb er selbst fast an Wundrose und Gehirnhautentzündung, ab 1805 setzten schwere Nierenkoliken ein - und seine beständige Todesangst84) zwangen ihn verstärkt dazu, einen Versuch zu unternehmen, den Gehalt des eigenen Lebens und der durchlebten Vergangenheit zu sichern.
Entsprechend formuliert er am 04.04.1806 anlässlich des Todes Schillers an Hackert in einem Brief:
"Seit der großen Lücke, die durch Schillers Tod in mein Dasein gefallen ist, bin ich lebhafter auf das Andenken der Vergangenheit hingewiesen, und ich empfinde gewissermaßen leidenschaftlich, welche Pflicht es ist, das was für ewig verschwunden scheint, in der Erinnerung aufzubewahren." (DKV II, Bd. 6, S. 48)
Ein phasenweise vorrangiges Ziel in Goethes folgenden Lebensjahren wird die Archivierung des Wertvollen vergangener Zeiten, welche Form - ob Annalen oder autobiographischer Roman - er auch wählt. "Die Vergänglichkeit der physischen Individualität also soll und muß aufgehoben werden durch die Bewahrung, die Rettung des Lebens- und Erfahrungsschatzes der geistigen Individualität."85)
Ein für die Entstehung von "Dichtung und Wahrheit" zentrales Motiv kann daher mit Sprengel folgendermaßen formuliert werden: "Dichtung und Wahrheit ist ein Werk der Krise. Entstanden in einer Situation des Verlustes und der Verunsicherung dient es der Selbstvergewisserung und -legitimation des Autors."86) Jenseits des Aufzeichnens der Vergangenheit steht somit zudem eine Sicherung der eigenen Identität und Existenz.87)
Parallel zu den persönlichen Verlusten Goethes verwandelt sich der gesamte gesellschaftliche, politische und soziale Lebensraum dramatisch und wird zu einer weiteren Gefährdung seiner Person wie seines Werkes. Dies meint nicht nur die beginnende Veränderung der Arbeitswelt, sondern vor allem die napoleonische Herrschaft über Europa. Sie stellte das Ende des Heilig Römischen Reiches Deutscher Nation und einen ständigen, jeden einzelnen gefährdenden Kriegszustand dar. Weimar wurde beispielsweise im Anschluss an die Schlacht bei Jena und Auerstedt (14.10.1806) geplündert, und Goethes Haus sowie die darin verwahrten Manuskripte entgingen nur knapp dank des Einsatzes seiner Frau der Zerstörung. Die umfangreichen Fragmente eines komplexen Lebenswerkes, die Goethe noch nicht fähig war mitzuteilen, im Grunde die Überlieferung seines Gedankenschatzes waren gefährdet.
An Cotta schrieb er dazu am 24.10.1806:
"In jener unglücklichen Nacht waren meine Papiere meine größte Sorge, und mit Recht. Denn die Plünderer sind in andern Häusern sehr übel damit umgegangen und haben alles wo nicht zerrissen, doch umhergestreut. Ich werde nach dieser überstandenen Epoche um desto mehr eilen, meine Manuskripte in Druck zu bringen. Die Tage des Zauderns sind vorbei, die bequemen Stunden, in denen wir uns mit Hoffnung schmeichelten, unsre Versuche zu vollenden, und was wir nur entworfen hatten, auszuführen." (ZA Bd. 19, S. 501)
Drastisch ausgedrückt bemerkt Goethe, dass seine Uhr abläuft, dass sein Streben viel stärker als bisher darauf ausgerichtet sein muss, das Fragmentarische und Geplante noch zu einem Ende zu bringen, um es mitteilbar machen. Damit wird ein weiteres Motiv für "Dichtung und Wahrheit" erkennbar: Seine Autobiographie bot ihm die Möglichkeit, beides skizzenhaft zu umreißen und so vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Das eigene Werk sollte als zusammenhängendes Lebenswerk, das auch Briefe, Tagebucheintragungen, Notizen, Entwürfe und vor allem die naturwissenschaftlichen Arbeiten beinhaltet, verstehbar und in seiner Vielschichtigkeit sowie Komplexität verdeutlicht werden.88)
Ein dritter Aspekt ist, dass auch der literarische Markt mit der Trendbewegung "Romantik" einem grundlegenden Wandel unterworfen war, die Leserschichten sich wandelten oder abbrachen. Fröhlich charakterisiert die literarische Bedeutung Goethes zu Beginn des 19. Jahrhunderts so:
"Doch zugleich ist der hochgeehrte Mann keineswegs auch der am meisten gelesene Dichter. Die Zeiten, wo sein Werther die halbe Welt in einen Taumel versetzt hatte, waren lange schon vorbei. Goethes Werke erschienen in bescheidenen kleinen Auflagen."89)
Entsprechend sieht Stüssel die Notwendigkeit, bei der Interpretation von "Dichtung und Wahrheit" einen grundlegenden Neuansatz zu wagen. Sie meint,
"daß diese Autobiographie explizit auf jene Probleme antwortet, die die veränderten Kommunikationsbedingungen des modernen literarischen Lebens für den Autor aufwerfen: Der expandierende Büchermarkt und das allgemeine, ständeübergreifende Lesepublikum, der zunehmende Verlust an Kontrolle über das, was mit den eigenen gedruckten und verkauften Texten geschieht, die Unwahrscheinlichkeit literarischer Anerkennung und des Nachruhms und vor allem der Funktionsverlust der poetisch-rhetorischen Ausbildung im Hinblick auf die eigene poetische Produktion, aber auch auf die Techniken der Lektüre, eröffnen ein neues Aufgabenfeld für die Dichterautobiographie."90)
Somit muss "Dichtung und Wahrheit" auch unter der Perspektive gewandelter Rezeptionsbedingungen betrachtet werden. Der Autobiographie wird die Aufgabe zugeschrieben, als Antwort darauf auch den literarischen Ruhm zu festigen, durch das Abbauen von Verständnisschwierigkeiten potentielle Käufer des eigenen Werkes zu werben oder dieses wieder lesbar zu machen und ein Auslegungsmonopol zu begründen, um eine willkürliche Veränderung des Gehaltes und der Wirkungsabsicht von Literatur zu unterbinden.
Schließlich sei noch ein letzter Gesichtspunkt angesprochen, der schon auf das Geschichtsbild und Geschichtsverständnis, das in Goethes "Dichtung und Wahrheit" zum Ausdruck kommt, verweist: Mit einem um 1800 neu entstehenden Epochen- und Generationenbewusstsein wird breiten Volksschichten "eine bis dahin unbekannte Erfahrung von Zeitgeschichte vermittelt" und der "Begriff der Einzigartigkeit sowohl des eigenen Lebens wie der miterlebten Epoche um die historische Dimension erweitert."91) Mit dem Bewusstsein unterschiedlicher aufeinander folgender Epochen entsteht ein Gefühl der Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit, weshalb einerseits das Abfassen von Autobiographien historisierend die Vergangenheit zu versichern versucht, andererseits das Lesen der erscheinenden Autobiographien sich immer stärker in ein historisierendes Lesen verwandelt.
Autobiographien, und auch das war eine bewusste Intention Goethes bei der Abfassung von "Dichtung und Wahrheit", ermöglichen ein rückblickendes Erleben einer vergangenen Zeit aus dem lebendigen Blickwinkel eines diese erfahrenden "Helden"92) und schärfen - durchaus aus einem auch gefühlsmäßig Beteiligtwerden - Kenntnis und Verständnis einer vielleicht schon fremd werdenden Epoche.93)Das Unternehmen "Autobiographie" wird zu einer sich der Historiographie annähernden Spurensicherung, die dem Schreibenden wie Lesenden - vielleicht auch Goethe - eine poetische Flucht in vergangene Zeiten eröffnet und die eigene Gegenwart aus einer so gewonnenen kritischeren Distanz zu dissoziieren vermag.94)
b) Biographische Vorarbeiten vor der Entstehung von "Dichtung und Wahrheit"
Goethe nähert sich den eigenen autobiographischen Arbeiten über den die Form einübenden Umweg der biographischen Schriften. Müller meint sogar: "Die eigentlich produktive Auseinandersetzung mit der autobiographischen Literatur beginnt aber erst mit Goethes Übersetzer-, Herausgeber- und Rezensententätigkeit."95) Hauptwerke bis zum Erscheinen von "Dichtung und Wahrheit" sind dabei die Übersetzung der Autobiographie Cellinis (Abdruck ab 1796 in den "Horen"; Buchausgabe 1803), die "Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" (1798), "Winckelmann und sein Jahrhundert" (1805) sowie die Übersetzung von Diderots Dialog "Rameau´s Neffe" (1805).
Es soll hier keine textnahe Analyse der einzelnen Schriften versucht werden, dies würde zu weit von der Thematik wegführen und ist zudem von Mayer96) und besonders Schuler97)beispielhaft durchgeführt worden. Am Beispiel der Lebensgeschichten von Cellini und Winckelmann kann jedoch kurz veranschaulicht werden, was Goethe an der Gestaltung der Biographien besonders bewegte und wie sich sein an Herder und Möser geschultes Verständnis des Historischen sowie der geschichtlichen Darstellungsweise vertieften.
(1) Die Lebensbeschreibung des Benvenuto Cellini
Schon die ersten Sätze der Schilderung Cellinis im "Anhang zur Lebensbeschreibung des Benvenuto Cellini" sind dafür ein aussagekräftiges Beispiel:
"In einer so regsamen Stadt zu einer so bedeutenden Zeit erschien ein Mann, der als Reprästentant seines Jahrhunderts und vielleicht als Repräsentant sämtlicher Menschheit gelten dürfte. Solche Naturen können als geistige Flügelmänner angesehen werden, die uns mit heftigen Äußerungen dasjenige andeuten, was durchaus, obgleich oft nur mit schwachen unkenntlichen Zügen, in jeden menschlichen Busen eingeschrieben ist." (ZA Bd. 15, S. 894)
Ort und Zeit werden als zentrale Kriterien angeführt, und ein Individuum wird dann besonders interessant, wenn es exemplarischen, symbolischen Charakter für die Zeit, in der es lebt, und die damaligen Menschen gewinnt. Als "geistiger Flügelmann"98) verkörpert es die sich im Wandel befindlichen Strömungen, lässt sie überhaupt erst sichtbar und greifbar werden. Bezüglich einer Autobiographie formuliert sich daher die Anforderung, dass die Darstellung des Lebens der Einzelpersönlichkeit in einer Reduktion diejenigen Aspekte besonders herausarbeiten muss, die im Verhältnis des Individuums zur Zeit besonders charakteristisch sind. Goethe "trägt diesem doppelten Ansatzpunkt, von der Welt her und vom Ich her, insofern Rechnung, als er die "Schilderung Cellinis" in die Mitte von kunst- und kulturgeschichtlichen Erläuterungen stellt. In ihnen wird die "Welt" Cellinis entworfen, das Ganze, von dem er ein Teil ist, das Element, das ihn trägt und bedingt."99) Neben dem Wirken der Persönlichkeit in der Zeit wird so den geschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren, die das Individuum beeinflussen, Rechnung getragen. So enthalten Goethes Ausführungen "im Keim bereits die Form einer neuen Biographie, die das Individuum geschichtlich verstehen lehrt und auf die verschlungenen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen achtet, die den Einzelnen mit seiner Zeit verbinden."100)
Goethe sieht zudem sein historisches Verstehen gerade durch die biographische und autobiographische Form geschult, wie er in einem Brief an H. Meyer vom 28.04.1796 verdeutlicht:
"Die Bearbeitung des Cellini ... ist für mich, der ich ohne unmittelbares Anschauen gar nichts begreife, von größtem Nutzen, ich sehe das ganze Jahrhundert viel deutlicher durch die Augen dieses confusen Individui als im Vortrag des klärsten Geschichtsschreibers."
Durch die Subjektivität der Autobiographie kann der Leser das Jahrhundert, in dem die Person lebt, anschaulich begreifen und miterleben. Sie stellt für ihn die Möglichkeit dar, sich durch ein Hineinversetzen in die Personen mit Geschichte im Sinne einer Verlebendigung der Zeitumstände auseinanderzusetzen.101)
(2) Winckelmann und sein Jahrhundert
1805 unternahm Goethe, wie Mayer schreibt, "von neuem den Versuch, eine große geschichtliche Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit den historischen Gegebenheiten ihrer Epoche darzustellen." Dabei griff er "bereits wesentlich bewußter ... das Thema auf, die große künstlerisch-wissenschaftliche Leistung eines Menschen im Einklang mit den Kräften seiner Epoche darzustellen."102) Winckelmanns Leistung wird noch stärker im Verhältnis zu den geistigen Strömungen und Überlieferungen seiner Zeit zu sehen versucht103), wobei sich Goethe seiner eigenen Epoche zeitlich annähert.
Erkennen kann man die Idee, in der Biographie oder Autobiographie einen Entwicklungs- und Bildungsgedanken zur Darstellung zu bringen, der allerdings später in "Dichtung und Wahrheit" sehr viel differenzierter ausgearbeitet wird:
"Der Mensch vermag gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Los der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit; auf die beiden ersten sind wir Neuern vom Schicksal angewiesen." (ZA Bd. 13, S. 416-417)
Schuler interpretiert dies so: "Für Goethe ist der Mensch eine Pluralität von Kräften und Fähigkeiten, die immer höherer Synthesen fähig sind und ihrer Natur nach auf jenen Zustand hintendieren, wo sich "die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen."" Ein zentrales Prinzip ist zudem das der Reduktion: "Die unübersichtliche Fülle des Lebensstoffes wird auf wenige beherrschende Grundlinien reduziert und gewinnt dadurch an Klarheit und Bestimmtheit. Das Leben wird auf das in ihm wirksame Gesetz hin durchsichtig, und die Biographie ist der Versuch, dieses aus dem Geist des Gesetzes zu rekonstruieren. Das erste, was dazu erforderlich ist, ist die intuitiv erfaßte Idee, die angeschaute Wesensform der Individualität, die ihrerseits die biographische Form bestimmt, ja diese aus sich erzeugt ..."104)
Trotz oder vielleicht gerade wegen des bewusst Skizzenhaften, das auch das Winckelmann-Porträt kennzeichnet, wird das Wechselspiel zwischen Individuum und Welt noch deutlicher herausgestellt und die Einzelpersönlichkeit in ihrem symbolischen Gehalt für das Menschenleben an sich deutlicher pointiert.
Nähert man sich der Entstehungszeit von "Dichtung und Wahrheit" weiter an, spielt Goethe in der biographischen Skizze zum Leben Philipp Hackerts (1811) schließlich das Zusammenwirken verschiedener Faktoren wie in einer Fingerübung nochmals exemplarisch durch: Die individuelle Anlage (Talent, Genie) wird durch bedeutende Einzelpersönlichkeiten gefördert und protegiert. Über eine sorgfältige handwerkliche und wissenschaftliche Ausbildung hinaus bestimmen neben den Zeitverhältnissen, in denen das Individuum lebt, äußere Geschehnisse und der Zufall, welchen Weg es schließlich geht. Doch zu dem Zeitpunkt hatte Goethe die Anforderungen, die an eine Biographie wie Autobiographie zu stellen sind, bereits klar formuliert.

6. Verzeichnis der Anmerkungen

Zu: 1. Die Besonderheiten des autobiographischen Schreibens
1) Günther de Bruyn, Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, Frankfurt a.M. 1995.
2) de Bruyn (1995), S. 12-13.
3) de Bruyn (1995), S. 14.
4) Stern (1982), S. 176.
5) Stern (1982), S. 176.
6) Baumann (1981), S. 42.
7) de Bruyn (1995), S. 62.
8) Trunz ((1974), S. 608) charakterisiert die Problematik so: "Das Problem jeder Autobiographie: der Betrachtende ist selbst der Betrachtete; er schreibt wie ein Epiker und ist selber die Hauptgestalt im Bilde."
9) Paul Valéry meint dazu, dass Goethe lange genug lebte, "um mehrere Male jeden der Bereiche seines Lebens zu erkennen, um sich von sich selbst mehrere verschiedene Vorstellungen zu machen, um sich davon zu befreien und sich immer noch umfassender kennenzulernen. Es war ihm gegeben, sich zu finden, sich zu verlieren, sich wieder zu fassen und sich wieder neu aufzurichten, gleichzeitig derselbe und ein anderer zu sein und in sich selbst einen Rhythmus aus Wechsel und Wachstum zu beobachten, ein Wandel fast von der Weite eines Jahrhunderts" (zitiert nach Baumann (1981), S. 42).
10) Zeitlich steht der Beginn von "Dichtung und Wahrheit" dem Abschluss der historiographischen Arbeit "Materialien zur Geschichte der Farbenlehre" und Goethes botanischen Studien nahe; die Autobiographie kann gewissermaßen als deren Fortsetzung verstanden werden. Goethes grundlegendes Konzept war dabei, dass die Geschichte der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Begreifens nur über Einzelbiographien außergewöhnlicher Individuen verfolgt werden kann, da sich in diesen und deren Leistungen die Kulturgeschichte manifestiert. Fortschritt gegenüber dem "alten Wahren", das vor allem die Griechen erreichten, besteht allerdings nur im Sinne einer auf- (und ab-)steigenden Spirale; das alte Wahre wird lediglich auf einer höheren Ebene wieder erreicht und kommt abermals zu seinem Recht, weshalb Fortschritt besser als Steigerung zu bezeichnen ist. Insofern spiegelt auch "Dichtung und Wahrheit" einen Teil dieses fortwährenden Prozesses (siehe dazu Boyle (1993), S. 164-169).
11) ZA = Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hag. v. Ernst Beutler, Zürich /Stuttgart 21961 (Artemis).
DKV = Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel u.a., Frankfurt a.M. 1985 ff. (Deutscher Klassiker Verlag).
MA = Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter u.a., München 1985 ff. (Hanser).
WA = Goethes Werke. Hg. im Auftrag von Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887 (Böhlau).
HA = Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz, München 101974 (Beck).
DuW (Reclam) = Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1: Text, Stuttgart 1991 (Reclam)

Zu: 2. Goethes Äußerungen über die Gattung "Autobiographie" vor dem Entstehen von "Dichtung und Wahrheit"

a) Die biographische und autobiographische Praxis zu Goethes Zeit
12) Siehe dazu unten den Exkurs: 5. a) Umbruchssituation um 1800: Warum schreibt Goethe "Dichtung und Wahrheit"?
13) Stüssel ((1993), S. 246) sieht hierin vor allem eine Kritik an der "Vorherrschaft des rhetorischen, von topischen Allgemeinplätzen geprägten Formularwesens, das für die gelehrte biographische Personenbeschreibung in Anspruch genommen wird", in dem die einzelnen "nicht als Individuen, sondern als Mitglieder eines in der hierarchischen Gesellschaft genau situierbaren Standes" behandelt werden.
Der Goethe immer wieder stark beeinflussende Herder geht in seinem 5. Humanitätsbrief (1793) noch einen Schritt weiter, wenn er formuliert: "Laß Todte ihre Todten begraben; wir wollen die Gestorbenen als Lebende betrachten, uns ihres Lebens, ihres auch nach dem Hingange noch fortwirkenden Lebens freuen, und eben deshalb ihr bleibendes Verdienst dankbar für die Nachwelt aufzeichnen. Hiemit verwandelt sich auf einmal das Nekrologium in ein Athanasium, in ein Mnemeion; sie sind nicht gestorben, unsre Wohltäter und Freunde: denn ihre Seelen, ihre Verdienste ums Menschengeschlecht, ihr Andenken lebet." (Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt a.M. 1991, S. 26 (Dt. Klassiker Verlag)) Er stellt damit, wie auch Goethe später etwa in seiner Rezension der "Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten" (1806), Leistung und Verdienst des Individuums als den einzelnen lebendig erhaltende Qualitäten in den Mittelpunkt. Somit wird ein tätiges Leben, das zu einem überdauernden Ergebnis führt, und der autobiographische Nachweis derselben um so wichtiger, da beides das Individuum für die Nachwelt überlieferungswert macht. Das übliche katalogartige Totenverzeichnis verwandelt sich in ein unsterblich machendes Menschheitsgedenken.
14) Trunz (1974), S. 601.
15) nach Trunz (1974), S. 607.
16) Brude-Firnau (1991), S. 319-321.
17) Siehe dazu unten den Exkurs: 5. b) Biographische Vorarbeiten vor der Entstehung von "Dichtung und Wahrheit". Wie intensiv sich Goethe mit dem biographischen und autobiographischen Komplex beschäftigte, wird zudem daran deutlich, dass nach 1800 die Belege für Wörter im Umkreis von "Biographie"  zunehmen (Goethe Wörterbuch (1989), S. 726-727).
18) Teil dieser schier endlosen Reihe von Lebensgeschichten sind etwa: Alfieri, Bassompierre, de Bourbon-Conti, Cardano, Cellini, Descartes, Franklin, Götz, Jung-Stilling, Krafft, Laukhard, Mämpel, Montaigne, Moritz, Müller, Petrarca, Retz, Rousseau, Sachse, Saint-Simon, Schweinichen, Seume, Trenck, Zelter ... Einen Schwerpunkt bilden die Biographien von Renaissance-Menschen, die ihre Individualität in einer teils konfliktreichen Auseinandersetzung mit einer statischen, dem zu überwindenden Mittelalter anhängenden Umwelt bewahrten. Wie Nalewski formuliert, zogen Goethe die Memoiren "an als Kulturbilder einer Zeit, die psychologischen Autobiographien als meisterhafte Durchleuchtung innerer Zusammenhänge. Allein in die Goethesche Synthese dieser Elemente kam noch etwas Entscheidendes, das seit Mösers und Herders Anstößen das Goethesche Weltbild geprägt hatte: das historische Denken." (Nalewski (1982), S. 23)
Die Autobiographien wurden somit von den theoretischen Überlegungen Herders ergänzt. Der hatte in den "Theologiebriefen" (1781) nicht nur besonders Selbstbiographien empfohlen, die den politischen und kulturhistorischen Hintergrund (Zeitumstände) sowie eine Schilderung der Umwelt mit einbeziehen. Seine Gattungskritik führte zudem zu einer Reihe von Anthologien ("Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst" (1791)), die einer wertenden Typologie unterzogen werden. Abgelehnt werden "andächtige oder religiöse Confessionen", da "weder die Zwiesprache des Menschen mit Gott noch die Protokolle seiner Krankheitsgefühle noch auch die psychisch-moralischen Selbstanklagen und -rechtfertigungen für fremde Ohren bestimmt seien." (Niggl (1977), S. 55) Sie würden nur entmutigen und niederschlagen. Entsprechend distanziert fällt auch Goethes "Dichtung und Wahrheit" aus. Heller etwa sieht kaum den "inneren" Goethe vorkommen: "Nur wenn er im Fünften Buch des Ersten Teils vom traurigen Ende der Gretchen-Liebschaft des Vierzehnjährigen berichtet, erlaubt er den Gefühlen, mit einigem poetischen Lärm die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen." (Heller (1977), S. 140)
Bezüglich der Biographien des 18. Jahrhunderts unterteilt Müller ((1986), S. 1045-47) vor allem nach drei Formtypen, die in Goethes "Dichtung und Wahrheit" miteinander verschmolzen und zu einem neuen Typus der Selbstdarstellung führten. Die Gelehrten-Autobiographie ziele dabei vor allem auf eine objektive Würdigung der wissenschaftlichen Leistung ab und verzeichnet als Referenzen die Werke. Die religiöse Bekenntnisliteratur folge dem Muster der Augustinischen "Confessiones" als Bekehrungsgeschichte. Die abenteuerliche Lebensgeschichte nähere sich einerseits der Memoirenliteratur, andererseits der romanhaften Darstellung nichtalltäglicher Erfahrungsbereiche an. Hinzu komme als neues Element gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Akzentuierung der Kindheitsgeschichte.
19) Wertheim (1968), S. 96.
Zu: b) Die programmatische Besprechung der "Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten" (1806)
20) Nach Goethes Einschätzung in der Einleitung zu den "Materialien der Geschichte der Farbenlehre" ist der Erinnerungsverlust ein von der jüngeren Generation durchaus aktiv vorangetriebener Prozess: "Wird einer strebenden Jugend die Geschichte eher lästig als erfreulich, weil sie gern von sich selbst eine neue, ja wohl gar eine Urwelt-Epoche beginnen möchte; so haben die in Bildung und Alter Fortschreitenden gar oft mit lebhaftem Dank zu erkennen, wie mannigfaltiges Gute, Brauchbare und Hülfreiche ihnen von den Vorfahren hinterlassen worden." (ZA Bd. 16, S. 247)
21) Dass Goethe mit seinem - von vielen Zeitgenossen geteilten - Empfinden durchaus Recht hat, arbeitet Kosellek in mehreren Studien heraus: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a.M. 1973; ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1979. Gegenüber Bucholtz äußert Goethe am 14.02.1814, dass er in dem Bewusstmachen des Wandels sein Hauptverdienst sieht: "Aufrichtig zu sagen, ist es der größte Dienst, den ich glaube meinem Vaterlande leisten zu können, wenn ich fortfahre, in meinem biographischen Versuche die Umwandlungen der sittlichen, ästhetischen, philosophischen Kultur, insofern ich Zeuge davon gewesen, mit Billigkeit und Heiterkeit darzustellen, und zu zeigen, wie immer eine Folgezeit die vorhergehende zu verdrängen und aufzuheben suchte, anstatt ihr für Anregung, Mitteilung und Überlieferung zu danken." (DKV II, Bd. 7, S. 308-309)
22) In dem Vorwort zu den von Mämpel herausgegebenen "Memoiren Robert Guillemards" schreibt Goethe noch 1827: "es gilt bloß, die Vergangenheit in der Vergangenheit gegen sich selbst und gegen das Vergessen, gegen das völlige Auslöschen zu retten, wodurch besonders in neuester Zeit ein Tag den andern übertüncht und das Unnützeste über das Trefflichste, als müßte es so sein, sorglos hinpinselt." (ZA Bd. 14, S. 528-529)
Dass Goethe aus autobiographischen Aufzeichnungen selbst immer wieder Nutzen zog, wird beispielsweise in der Besprechung der "Biographischen Denkmale" (1824) von Varnhagen von Ense deutlich: "Dank sei daher im allgemeinen dem Verfasser, daß er uns eine unmittelbar an die Gegenwart grenzende Epoche so klar und ausführlich vor die Seele geführt, und von meiner Seite besonders, daß er meine frühsten Jugenderinnerungen wieder aufgefrischt. Denn das ist, bei manchen Entbehrungen, der große Vorteil des hohen Alters, sich ein ganzes Jahrhundert vorführen zu können und es sich beinahe als persönlich gegenwärtig anzuschauen." (ZA Bd. 14, S. 336)
23) Eckermann verzeichnet ein Gespräch am 25.02.1824, in dem Goethe äußerte: "Ich habe den großen Vorteil, fuhr er fort, daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen." (ZA Bd. 24, S. 91)
24) In dem unveröffentlichten Vorwort zum dritten Teil von "Dichtung und Wahrheit" charakterisiert Goethe die neue Bewegung so: "Vom Vergangenen und Geleisteten mag man gern im Alter sprechen, um so mehr als einer frischen Jugend nicht zu verargen ist, wenn sie ihre eigenen Verdienste gelten macht, und mit mehr oder weniger Bewußtsein und Vorsatz, besonders das Nächstvergangene in die Ferne zu drängen und zu übernebeln trachtet." (MA Bd. 16, S. 869)
Siehe dazu auch die entsprechenden Ausführungen in: 5. a) Umbruchssituation um 1800: Warum schreibt Goethe "Dichtung und Wahrheit" und die Anmerkung 3.
25) In einem Brief an Rochlitz vom 30.01.1812 wird erkennbar, dass dies für Goethe durchaus ein konkretes Problem darstellte: "Besonders in den letzten zwanzig Jahren mußte man große Geduld haben: denn mehrere meiner spätern Arbeiten brauchten zehn und mehr Jahre, bis sie sich ein größeres Publikum unmerklich erschmeichelten; ... Was aber den wahren Erfolg betrifft, gegen den bin ich nicht im mindesten gleichgültig; vielmehr ist der Glaube an denselben immer mein Leitstern bei allen meinen Arbeiten. Diesen Erfolg nun früher und vollständiger zu erfahren, wird mit den Jahren immer wünschenswerter, wo man nicht mehr viel Stunden in Gleichgültigkeit gegenüber den Augenblick zuzubringen und auf die Zukunft zu hoffen hat." (DKV II, Bd. 7, S. 10) Gegenüber Woltmann beklagt er sich am 05.02.1813 ganz ähnlich: "Als Autor hab ich mich daher jederzeit isoliert gefunden, weil nur mein Vergangenes wirksam war und ich zu meinem Gegenwärtigen keine Teilnehmer finden konnte." (DKV II, Bd. 7, S. 180) Siehe auch unten 3.b) Das Vorwort von "Dichtung und Wahrheit" (08.09.1811)
26) Niggl (1977), S. 111.
27) Niggl (1977), S. 110.
28) Goethes Blick war durchaus nicht auf bedeutende Einzelpersönlichkeiten verengt. Wie in den Vorworten zum "Deutschen Gil Blas" von 1821 und 1822 sowie dem "Nekrolog des Deutschen Gil Blas" von 1832 erkennbar wird, wusste er durchaus Autobiographien aus dem einfachen Volk in ihrem erzieherischen Wert für die Herrschenden wie in ihrem allgemein menschlichen Erkenntniswert zu schätzen. Vor allem der eben nicht gerade, sondern schwankende, dem Unbill ausgesetzte Lebensweg veranlasste ihn zu folgenden Überlegungen: "Das Leben des Menschen aber, treulich aufgezeichnet, stellt sich nie als ein Ganzes dar; den herrlichsten Anfängen folgen kühne Fortschritte, dann mischt sich der Unfall drein, der Mensch erholt sich, er beginnt, vielleicht auf einer höheren Stufe, sein altes Spiel, das ihm gemäß war, dann verschwindet er entweder frühzeitig oder schwindet nach und nach, ohne daß auf jeden geknüpften Knoten eine Auflösung erfolgte. ... noch weniger verdient ein Menschenleben verächtlich behandelt zu werden, weil es offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben ankommt, und wir in seiner einfachen Geschichte bemerken, daß eine höhere Hand sich vorbehalten hat, unsichtbar einzugreifen und dem Verdüsterten, Trübseligen, im Augenblick Hülflosen über einige Schritte hinweg auf eine glatte Bahn zu helfen." (ZA Bd. 14, S. 495)
29) Müller (1986), S. 1042.
30) Niggl (1977), S. 112.
31) Dies sollte nach Goethe das Ergebnis einer überarbeiteten Autobiographie Montaignes sein: "Wenn ein deutscher, gewandter, unterrichteter Schriftsteller dieses Werk sich zu eigen machte,das Bedeutende hervorhübe, das Allgewöhnliche, sich Wiederholende beseitigte, dagegen aber die Besonderheiten der damaligen Zeitgeschichte klüglich einzuschalten und mit diesen Tagebüchern zu verbinden wüßte, so würde gewiß ein erheiterndes und nützliches Lesebüchlein daraus entstehen." (ZA Bd. 14, S. 498) Ähnlich formuliert es Goethe 1813 im unveröffentlichten Vorwort zum 3. Teil von "Dichtung und Wahrheit": "ich wünsche, daß dieses Werk, eine Ausgeburt mehr der Notwendigkeit als der Wahl, meine Leser einigermaßen erfreuen und ihnen nützlich sein möge." (MA Bd. 16, S. 868) Und im Vorwort vom 08.09.1811 hofft der fiktive Briefschreiber, dass bei dem Unternehmen Autobiographie etwas herauskommt, "was auch einem größern Kreise angenehm und nützlich werden kann." Die Werke könnten zudem, so der Autor am Schluss des Vorwortes, "aus diesem Gesichtspunkt ihres Entstehens ... am besten genossen, genutzt, und am billigsten beurteilt werden". (MA Bd. 16, S. 10; 11) (Hervorhebungen S.R.)

Zu: 3. Das Programm für "Dichtung und Wahrheit"

a) Die Vorarbeiten auf der Fahrt nach Karlsbad 1810 (Tagebuchaufzeichnung Goethes vom 18.5.1810)
32) Beutler (1995), S. 703.
33) Beutler (1995), S. 709.
34) Sprengel (1985), S. 886.
35) In einer "Dichtung und Wahrheit" vorbereitenden Skizze (Paralipomenon 4) sieht Goethe seine "Rückschritte oder Retardationen" "Durch unzulänglichkeit roher Kraft die sich immer bei kühnen Unternehmungen beschämt sehen muß" verursacht. (DKV I, Bd. 14, S. 901)
36) Hettche (1991), S. 370-372; S. 378; Zitat S. 378.
37) Über Motive dafür darf spekuliert werden. Stern (1984) vermutet eine "tiefsitzende Furcht vor dem Vorwurf der Irregularität und Planlosigkeit" (S. 274). Hinter allem habe ein "eher unsicherer Mensch Bestätigung gesucht in einer Theorie, welche der Freiheit, und damit auch der Selbstverantwortung und möglichen Schuld, im Grunde keinen Raum mehr zugestehen wollte. Das Individuum soll nach Goethe lernen, ins Notwendige einzuwilligen, das heißt in das der eigenen Anlage und in das der Zeit Gemäße. Dann ist es in der Lage, sich optimal zu verwirklichen." Denn: "Das beste Milieu ... kann im Guten nichts aus dem Kinde machen, was nicht als Fähigkeit in ihm angelegt ist, was nicht zu seiner Entelechie gehört. Eine ungünstige Erziehungssituation aber kann verderben, was unter optimalen Bedingungen möglich gewesen wäre." (S. 276)
38) Schnur (1990), S. 64.
Zu: b) Das Vorwort von "Dichtung und Wahrheit" (8.9.1811)
39) Stüssel (1993), S. 250.
40) Niggl (1977), S. 155, umschreibt die Vorgehensweise so: "Das Vorwort ... stellt ihm [dem Leser] deshalb zunächst den traditionellen Typ der pragmatischen Künstlerautobiographie in Aussicht, begründet seine Niederschrift überdies mit der gleichfalls traditionellen Freundesbitte um nähere Lebenszusammenhänge und entschuldigt sich dann gewissermaßen, daß bei der Erfüllung dieses Wunsches schließlich die ganze Literatur- und Weltgeschichte Eingang finden mußte, um das Leben und Wirken dieses einen Autors zu erklären."
41) Lehmann (1988), S. 155.
42) Stüssel (1993), S. 250-251, führt aus: "In seinen Werken erscheint Goethe als ein sich ständig wandelnder Autor, wie ein Proteus, der sich weder auf eine Gattung noch auf einen Stil oder einen Gegenstand festlegen läßt. Schließlich sprengen auch die Schriften zur Farbenlehre die Regeln und Gepflogenheiten wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Texte."
43) Der 20-bändigen Gesamtausgabe bei Cotta (1815-19) wird entsprechend ein chronologisches Schema unter dem Titel "Summarische Jahresfolge Goethescher Schriften" beigefügt. In deren Einleitung heißt es: "Dasjenige, was von meinen Bemühungen im Drucke erschienen, sind nur Einzelnheiten, die auf einem Lebensboden wurzelten und wuchsen ... Man hatte versucht, die Anlässe, die Anregungen zu bezeichnen, das Offenbare mit dem Verborgenen, das Mitgeteilte mit dem Zurückgebliebenen durch ästhetische und sittliche Bekenntnisse zusammenzuknüpfen, man hatte getrachtet, Lücken auszufüllen, Gelungenes und Mißlungenes, nicht weniger Vorarbeiten bekannt zu machen, dabei anzudeuten, wie manches zu einem Zweck Gesammeltes zu andern verwendet, ja wohl auch verschwendet worden." (ZA Bd. 14, S. 258)
44) Müller (1986), S 996.
45) Müller (1976), S. 251-252, sieht darin geradezu das Grundmotiv für die Autobiographie: "Das Werk ist vielmehr Ausdruck und Ergebnis einer tiefen Resignation und der Versuch, das eigene Unbehagen über das Vollbrachte durch den Versuch einer neuen Synthese zu mindern wie auch dem Unverständnis des Publikums und der Rezensenten so weit entgegenzukommen, wie es das Verständnis für die Problematik des Abstandes von Wollen und Gelingen erlaubte.""
In einem Brief an Cotta vom 16.11.1810 wird deutlich, dass die Abfassung der Autobiographie für Goethe eine Selbstvergegenwärtigung bedeutete: "Ich bin genötigt, in die Welt- und Literaturgeschichte zurück zu gehen, und sehe mich selbst zum erstenmal in den Verhältnissen, die auf mich gewirkt und auf die ich gewirkt habe." (DKV II, Bd. 6, S. 617)
Siehe dazu auch die obigen Ausführungen über Goethes morphologische Vorstellungen, die in der Tagbuchnotiz während der Reise nach Karlsbad angedeutet werden! (3. a))
46) Müller (1986), S. 997.
47) Goethe wurde wohl letztlich von einer alles aufarbeitenden autobiographischen Darstellung überfordert. So entwarf er die "Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse". Die zentrale Bedeutung der autobiographischen Schriften lässt sich aber gut daran veranschaulichen, dass ihnen von den geplanten 40 Bänden der vollständigen Ausgabe letzter Hand 20 Bände vorbehalten waren. Müller (1986, S. 1000) meint dazu: "Das bedeutet, daß in einem langen Selbstklärungsprozeß die Selbstdarstellung und das mit ihr bezeichnete Problem einen immer gewichtigeren Anteil am Gesamtwerk gewann. Erst von hier aus läßt sich die Bedeutung von Dichtung und Wahrheit richtig einschätzen." In der Weimarer Ausgabe nehmen die autobiographischen Schriften zusammen mit fünfzehntausend Briefen, Tagebüchern aus zweiundfünfzig Jahren und zahlreichen Gesprächsniederschriften Dritter mehr als fünfzig Bände ein (Rothmann (1994), S. 150). Müller (1976, S. 259) formuliert zusammenfassend: "Die Hälfte des Gesamtwerks ... dient also im weiteren Sinn der Historisierung der eigenen Position und der Rechtfertigung der Produktion ..." Einerseits begründe "erst der Lebenszusammenhang die umfassende Totalität auch des Einzelwerks", andererseits tendiere die Selbstdarstellung aber auch dazu, "ihrerseits wieder zur Dichtung zu werden, d.h. nicht in ihrer vermittelnden Funktion aufzugehen und ihrem eigenen Anspruch erst zu genügen, indem sie sich mehr oder weniger weitgehend den ästhetischen Strukturen annähert, die sie zu begründen versucht."
48) Ein Brief an Reinhard vom 13.02.1812 veranschaulicht, dass Goethe dabei durchaus auch an konkrete lebende Personen dachte: "Denn indem ich mir jene Zeiten zurückrüfe, und die Gegenstände, die sich mir in der Erinnerung darbieten, zusammenarbeite, gedenke ich meiner abwesenden Freunde als wenn sie gegenwärtig wären, glaube meine Reden an sie zu richten und kann also wohl für das Geschriebene eine gute Aufnahme hoffen." (DKV II, Bd. 7, S. 26-27) Am 13.08.1812 ergänzt er: "ich freue mich, dadurch die einzige Absicht gewiß zu erlangen, daß ich mich mit entfernten Freunden unterhalte und der Gefahr, ihnen bei Lebzeiten abzusterben, entgehe." (DKV II, Bd. 7, S. 86) Und am 03.11.1812 gegenüber Zelter: "Wäre ich meiner anwesenden Freunde nicht eingedenk, wo nähme ich den Humor her, solche Dinge zu schreiben." (Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, Bd. 1: 1799-1818. Hg. v. Max Hecker, Bern 1970, S. 332 (Lang)) Ganz ähnlich klingt es am 26.11.1812 an Körner: "Ich wünsche, daß meine Landsleute, besonders aber meine Freunde, die in höhern und mittlern Jahren sich befinden, daran Freude haben und sich mit mir einer nicht längst vergangenen schönen Zeit fröhlich erinnern mögen." (DKV II, Bd. 7, S. 123-124)
49) Matussek (1996), S. 135. Der rechte Zeitpunkt, eine Autobiographie zu schreiben, ist nach Goethe derjenige, wo wir "noch nah genug an unsern Irrtümern und Fehlern stehn. Wie man sich aber aus jeder gegründeten oder grundlosen hypochondrischen Ansicht nur durch Tätigkeit retten kann, so muß man den Anteil an der Vergangenheit wieder in sich heraufrufen und sich wieder dahin stellen, wo man noch hofft, ein Mangel lasse sich ausfüllen, Fehler vermeiden, Übereilung sei zu bändigen und Versäumtes nachzuholen" (HA Bd. 10, S. 532).
50) Siehe dazu die Ausführungen in 2.c) Die "Bildnisse lebender Berliner Gelehrten" (1806)!
51) Sprengel (1985), S. 898; S. 900.
52) Stüssel (1993), S. 235.
53) Siehe den obigen Abschnitt: 2.a) Die biographische und autobiographische Praxis zu Goethes Zeit!
54) Baumann (1981), S. 42-56.
55) Im unveröffentlichten Vorwort zum dritten Teil von "Dichtung und Wahrheit" schreibt Goethe: "... so werden doch solche Arbeiten, in sofern sie in die Vergangenheit zurücktreten, unwirksamer eben je mehr sie im Augenb<l>ick gewirkt, ja man schätzt sie weniger jemehr sie zur Verbreitung der vaterländischen Kultur beigetragen haben; ... Deshalb ist es billig, ihnen einen historischen Wert zu verschaffen, indem man sich über ihre Entstehung mit wohlwollenden Kennern unterhält." (MA Bd. 16, S. 869)
56) Jannidis ((1996), S. 39) sieht in der Wirkung der "Welt" auf das Individuum keinen Prozess, "bei dem das Individuum passiv geformt wird oder dieser Formung nur bestimmte Grenzen gibt, sondern das Individuum eignet sich aktiv an, was auf es einwirkt. ´Individualität` bestimmt dabei sowohl die Selektion, also das, was adaptiert wird, als auch die Art der Adaption. Fast formelartig bezeichnet Goethe diesen Sachverhalt durch das Wort ´gemäß`." Zu wenig wird dabei gesehen, dass das Individuum im Verhältnis zur Welt durchaus Objekt werden kann, besonders sichtbar, wenn die Einflüsse der Welt abträglichen Charakter annehmen. Hier erleidet der Mensch nach Goethe durchaus passiv ein auch krisenhaftes Schicksal, deutlicher zugespitzt dann im 4. Teil des Werkes durch das Konzept des "Dämonischen": "Es sind wenige Biographien, welche einen reinen, ruhigen, stäten Fortschritt des Individuums darstellen können. Unser Leben ist ... auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Nothwendigkeit zusammengesetzt. Unser Wollen ist die Vorankündigung dessen, was wir unter allen Umständen tun werden. Diese Umstände aber ergreifen uns auf ihre eigene Weise. Das Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab, nach dem Warum dürfen wir nicht fragen, und deßhalb verweist man uns mit Recht auf´s Quia." (HA Bd. 9, S. 478) Der ab dem unveröffentlichten Vorwort zum 3. Teil von "Dichtung und Wahrheit" erkennbare Zug von Resignation führt dazu, dass auf jede Erkenntnishoffnung hinsichtlich der Sinnfrage "Warum" verzichtet wird. Als vorherrschend werden Ohnmacht und Passivität ("Diese Umstände aber ergreifen uns auf ihre eigne Weise.") empfunden, da die Zeitverhältnisse kaum in der Gewalt des Menschen liegen. Als einziges bleibe das "Quia" übrig, um die Kette der Kausalitäten zu erforschen. "Denn auch Faktoren oder Komponenten, von denen niemand sagen kann, warum sie uns so und nicht anders in die Wiege gelegt worden sind, lassen sich noch untersuchen auf ihr Ineinandergreifen hin, das heißt auf die Art und Weise, wie aus ihnen Schicksal oder, unpathetischer gesagt, ein Lebenslauf entstand." (Stern (1984), S. 278) Aber dieses Forschen ist Ersatz und Trost.
Lehmann ((1988), S. 144) beurteilt die Darstellung der Entwicklung des Individuums daher so: "Vielmehr stockt die Entwicklung des Individuums in der Darstellung Goethes immer wieder, verläuft über Umwege, ja kulminiert in krisenhaften Zuständen, die sich nicht selten in schweren physischen und psychischen Erkrankungen, häufig genug aber auch in gesteigerter dichterischer Produktivität äußern." Die Dichtung ist die als wichtig erkannte Möglichkeit eines selbstbewussten, handelnden Individuums, die einwirkenden Fährnisse produktiv zu überwinden.
Weitet man den Blick noch ein wenig, kann man feststellen, dass Goethe auch von keinem harmonisierenden Geschichtsbild ausgeht. Erkennbar wird das beispielsweise in seiner 1806 geführten Diskussion mit dem Historiker Luden: "Und wenn Sie nun auch alle Quellen zu klären und zu durchforschen möchten: was würden Sie finden? Nichts Anderes, als eine große Wahrheit, ... daß es zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen ist. Die Menschen haben sich stets geängstigt und geplagt; sie haben sich unter einander gequält und gemartert; sie haben sich und Anderen das Bischen Leben sauer gemacht, und die Schönheit der Welt und die Süßigkeit des Daseins, welche die schöne Welt ihnen darbietet, weder zu achten noch zu genießen vermocht. Nur wenigen ist es bequem und erfreulich geworden. Die Meisten haben wohl, wenn sie das Leben eine Zeit lang mitgemacht hatten, lieber hinausscheiden als von Neuem beginnen mögen. Was ihnen noch etwa einige Anhänglichkeit an das Leben gab oder giebt, das war und ist die Furcht vor dem Sterben. So ist es; so ist es gewesen; so wird es wohl auch bleiben. Das ist nun ein Mal das Loos der Menschen." (ZA Bd. 22, S. 400-401)
Zurecht stellt Kuczynski (1983), S. 81, dabei einen Widerspruch fest, dass Goethe einerseits, "wenn er die Weltgeschichte betrachtet, sich traurig, ja angewidert von ihr abwendet, wenn er das Leben einzelner Menschen biographisch oder autobiographisch darstellt, behaglich-glücklich sein kann." Er sieht ihn darin aufgelöst, dass Goethe zwischen der Geschichte der Völker, die er im obigen Sinne illusionslos bewertet, und der Entwicklung des Individuums unterscheide, die im Einzelfall durchaus zu einer glücklichen Ausreifung von Eigenschaften und Fähigkeiten (Prinzip der Metamorphose) führen könne, auf die man "behaglich" zurückblicken dürfe. "Disharmonie in der Geschichte - Harmonie letztlich im ´Naturwachstum` des Menschen - so meint Goethe nicht selten." Auch Niggl (1977), S. 159, verdeutlicht: "Wieweit freilich die historischen Umstände nicht nur fördernden, sondern auch hindernden, ja vereitelnden Einfluß auf die Entfaltung des Individuums ausüben können, ist für Goethe im Verlauf des Niederschrift von Dichtung und Wahrheit immer mehr zum eigentlichen autobiographischen Problem geworden." Die Absage an eine teleologische Lebensdeutung wird immer stärker, die Erkenntnis der Wirkung unberechenbarer Umstände führt eher zu einer Resignation: "die Möglichkeit des Verkümmerns, der Zerstörung, des vorzeitigen Abbruchs bestimmter Hoffnungen, Pläne, Unternehmungen wird jetzt durchaus einbezogen, vor allem wird erstmals die relative Ohnmacht des strebenden Ich deutlich ausgesprochen." (Niggl (1977), S. 162) Und: "das menschliche Leben wird nicht mehr als gesetzmäßiger Gestaltwandel, sondern als eine von willkürlichen Außenmächten beherrschte, mehr behinderte als geförderte, jedenfalls grundsätzlich ihres Erfolges ungewisse Entfaltung der individuellen Entelechie verstanden." (Niggl (1977), S. 163) Mit dieser Erkenntnis Goethes ist auch der Bruch in "Dichtung und Wahrheit" zu erklären, der von ihm selbst im unveröffentlichten Vorwort zum 3. Teil ausformuliert wird.
57) Trunz (1974), S. 621.
58) Borchmeyer (1994), S. 484.
59) In einem Brief an Cotta vom 21.12.1814 sieht sich Goethe darin als sehr erfolgreich: "Meine biographischen Eröffnungen haben die Wirkung getan die ich hoffte, indem ... man auch nunmehr darin die Stufen meiner Bildung aufsucht, die man um so mehr zu eignem Vorteil zu erkennen strebt, als so manche Jüngere sich an mir gebildet zu haben mit Offenheit und Vergnügen gestehen." (DKV II, Bd. 7, S. 385)
60) Lehmann (1988), S. 143. Den Nutzen der Autobiographie auch für sich selbst hat Goethe immer wieder ausgedrückt. In "Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort" schreibt er: "Am allerfördersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunkt zu vergleichen und daher nähere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen. Ich habe daher in reiferen Jahren große Aufmerksamkeit gehegt, inwiefern andere mich wohl erkennen möchten, damit ich in und an ihnen, wie an so viel Spiegeln, über mich selbst und über mein Inneres deutlicher werden könnte." In der Handschrift Riemers (1811/12; Paralimpmenon 40) sind folgende Worte aufgezeichnet: "Alles wahrhaft Biographische, wohin die zurückgebliebenen Briefe, die Tagebücher, Memoiren u<nd> so manches andere zu rechnen sind, bringen das vergangene Leben wieder hervor, mehr oder weniger wirklich oder im ausführlichen Bilde. Man wird nicht müde, Biographien zu lesen so wenig als Reisebeschreibungen: denn man lebt mit Lebendigen." (MA Bd. 16, S. 861) Und in der Einführung zu dem von Mämpel herausgegebenen "Jungen Feldjäger" (1826) formuliert er ganz ähnlich: "Wie sehr wir uns auch von vergangenen Dingen zu unterrichten bestrebt sind und uns mit Geschichte von Jugend auf im Allgemeinsten und Allgemeinen beschäftigen, so finden wir doch zuletzt, daß das Einzelne, Besondere, Individuelle uns über Menschen und Begebenheiten den besten Aufschluß gibt, weshalb wird denn nach Memoiren, Selbstbiographien, Originalbriefen, und was für ähnliche Dokumente derart auch übrigbleiben, aufs angelegentlichste begehren." (ZA Bd. 14, S. 520)
Zu: c) Der Titel von "Dichtung und Wahrheit" als Programm
61) Müller (1986), S. 1003, meint, dass der Obertitel "Aus meinem Leben" darauf hindeutet, dass Goethe bis in sein letztes Lebensjahrzehnt daran dachte, die Autobiographie als geschlossene Darstellung bis in das Jahr 1793 abfassen zu können.
Der ursprünglich von Riemer vorgeschlagenen Titel "Wahrheit und Dichtung" wurde von Goethe aus euphonischen Gründen in "Dichtung und Wahrheit" umgestellt.
62) Eine Zusammenstellung der Diskussion ist zu finden bei: Jannidis (1996), S. 149-153 mit den entsprechenden Anmerkungen.
63) Jannidis (1996), S. 149. Trunz (1974), S. 608, wird der Bedeutung und Tiefendimension des Titels nicht gerecht, wenn er vereinfachend schematisiert: "Alles, was an seiner Autobiographie Deutung ist und als solche nur im Alter möglich war, nannte er Dichtung. Die Einzelheiten - wie die chronologischen Schemata sie sammelten - nannte er Wahrheit. Wahrheit und Dichtung (wie der Titel anfangs lautete) heißt also: die Tatsachen und ihr Zusammenhang."
64) Bedacht werden muss bei dem Brief, dass es sich um einen aus der Distanz von fast 20 Jahren deutenden Rückblick auf die Titelgebung handelt. Der Prozess wechselseitiger Bespiegelung macht auch vor "Dichtung und Wahrheit" nicht Halt.
65) Jannidis (1996), S. 154.
66) Goethe selbst formuliert in den "Tag- und Jahres-Heften" für 1811 dies so: "... innigst überzeugt, daß der Mensch in der Gegenwart ja vielmehr noch in der Erinnerung die Außenwelt nach seinen Eigenheiten bildend modele." (DKV I, Bd. 17, S. 239) Und in "Dichtung und Wahrheit" sagt er: "Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, das jenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen" (HA Bd. 10, S. 10-11).
67) Jannidis (1996), S. 156.
68) Borchmeyer (1994), S. 488. Von Müller zeichnet für den 13.06.1825 ganz entsprechend einen Dialog mit Goethe auf: "Ich reizte ihn sehr lebhaft an, doch noch eine Schilderung des Tiefurter Lebens zur Zeit der Herzogin-Mutter zu entwerfen. ´Es wäre nicht allzu schwer`, erwiderte er, ´man dürfte nur die Zustände ganz treu so schildern, wie sie sich dem poetischen Auge in der Erinnerung darstellten, Dichtung und Wahrheit, ohne daß Erdichtung dabei wäre.`" (ZA Bd. 23, S. 390)
69) Hettche (1991), S. 372; S. 376.
70) Jannidis (1996), S. 157.
71) siehe auch Sprengel (1985), S. 893-894. Etwas verklausulierend formuliert Goethe diesen Aspekt in dem Brief an Ludwig I.: "Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte: Dichtung, begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können." (DKV II, Bd. 10, S. 363) Zu der Bedeutung des "Wahren" siehe die weiteren Ausführungen.
72) de Bruyn (1995), S. 31.
73) Wertheim (1968), S. 114. Entsprechend lehnte es Goethe ab, wie dazu von Christian Moritz Engelhardt aufgefordert, "Aktenstücke" (Briefe an Salzmann, die Aussagen über sein Verhältnis zu Friederike Brion enthielten) aus der Straßburger Zeit zur Abrundung und Beglaubigung zu veröffentlichen. In einem Brief vom 3.2.1826 schreibt er: "Diese gute Wirkung muss aber durch eingestreute unzusammenhängende Wirklichkeiten notwendig zerstört werden." (DKV II, Bd. 10, S. 363) Siehe dazu Sprengel (1985), S. 895.
74) Fues (1994), S. 255.
75) Niggl (1977), S. 167. In Goethes Einführung zu dem von Mämpel herausgegebenen "Jungen Feldjäger" (1826) ist zu lesen: "Alle Menschen, die nebeneinander leben, erfahren ähnliche Schicksale, und was dem Einzelnen begegnet, kann als Symbol für Tausende gelten." (ZA Bd. 14, S. 520)
76) Johann Wolfgang v. Goethe, Faust. Zweiter Teil, V. 11511-11586.
77) Wie pessimistisch, ja desillusoniert Goethes Einschätzung seines Lebens und seiner Tätigkeiten war, kann an einer Reihe von Dokumenten nachgewiesen werden. Schon früh hat er in einem Tagebucheintrag (07.08.1779) die für ihn scheinbar nicht leicht erträgliche innere Zerrissenheit und Unzufriedenheit mit seiner Person und seinem Entwicklungsweg in einer schonungslosen Selbstabrechnung beschrieben: "Stiller Rückblick aufs Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit Wissbegierde der Jugend, wie sie überall herumschweift um etwas befriedigendes zu finden ... Wie ich alles Wissenschafftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen, wie eine Art von demütiger Selbstgefälligkeit durch alles geht, was ich damals schrieb. Wie kurzsinnig in Menschlichen und göttlichen Dingen ich mich umgedreht habe ..." (DKV II, Bd. 2, S. 183) In einer Notiz von 1809 liest sich die kritische Selbsteinschätzung so:
"Mein Leben ein einzig Abenteuer.
Kein Abenteuer durch Streben nach Ausbildung dessen, was die Natur in mich gelegt hatte.
Streben nach Erwerb dessen, was sie nicht in mich gelegt hat.
Ebensoviel wahre als falsche Tendenz.
Deshalb ewige Mar(ter) ohne eigentlichen Genuß.
Niederträchtige Nekrologen." (BA Bd. 13, S. 871) Zu den "Nekrologen" siehe oben das Kapitel 2.a)!
Wie ein Eintrag Eckermanns vom 27.01.1824 nachweist, setzt sich diese Selbstsicht bis ins hohe Alter fort: "Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünf und siebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte. ... Der Ansprüche an meine Tätigkeit, sowohl von Außen als Innen, waren zu viele." (ZA Bd. 24, S. 83)
Trotz aller autobiographischer Bemühungen überwiegt letztlich die Skepsis Goethes, sich und sein Leben in einem sinnvollen Ganzen erfüllt zu haben. Andererseits ist sein Handeln immer von dem Bemühen geprägt, gerade das durch tätiges Streben zu vermeiden. So resümiert Matussek (1996), S. 165, bezüglich "Dichtung und Wahrheit": "Was ihn vornehmlich beschäftigt, war die Frage, wie aus den enttäuschten Vorstellungen und uneingelösten Versprechen der Vergangenheit immer wieder der Impuls zur Neuorientierung des aktuellen Handelns hervorzugehen vermag. Seine Lebenserinnerungen sind Erinnerungen des Lebensprozesses in seiner naturgemäßen Unvorhersehbarkeit, dessen Widerständigkeit gegen das menschliche Planen und Herstellen erst den Blick für die tieferen Quellen des Daseins öffnet."
78) Am Beispiel der Tätigkeitsbereiche Goethes belegt dies Müller (1986), S. 1054-55, so: "Goethe weist nun nach, daß seine ´instinktartige` poetische Produktion ihn beim Versuch einer nachträglichen ästhetischen Begründung zur bildenden Kunst führte, wobei der Mangel an Talent zur Beschäftigung mit Gesetzen und Regeln zwang, deren Folge auf naturwissenschaftlichem Gebiet die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Farbenlehre ist. Insofern stellt sich ein folgerichtiger Zusammenhang der verschiedenen Tätigkeiten im Ganzen der Individualität her, was jedoch bei einer einseitigen Orientierung auf das dichterische Werk als solches nicht erkennbar wird. Für die Autobiographie ergibt sich deshalb eine innere Notwendigkeit: sie muß das Vereinzelte und Isolierte, das Unfertige und die falschen Tendenzen, den unvermeitlichen Irrtum und die Einseitigkeiten der Spezialisierung zur Totalität eines Lebensganzen zusammenschließen."
79) Sprengel (1985), S. 903.
80) Lehmann (1988), S. 161.

Zu: 5. Exkurse

a) Umbruchssituation um 1800: Warum schreibt Goethe "Dichtung und Wahrheit"?
81) Beutler (1995), S. 698. Siehe auch Müller (1976), S. 256.
Wie Goethe seine steigende Vereinsamung selbst sah, gibt Eckermann in seinen Aufzeichnungen zum 27.01.1824 wieder: "Wenn ich auf mein früheres und mittleres Leben zurückblicke und nun in meinem Alter bedenke, wie wenige noch von denen übrig sind, die mit mir jung waren, so fällt mir immer der Sommeraufenthalt in einem Bade ein. So wie man ankommt, schließt man Bekanntschaften und Freundschaften mit solchen, die schon eine Zeitlang dort waren und die in den nächsten Wochen wieder abgehen. Der Verlust ist schmerzlich. Nun hält man sich an die zweite Generation mit der man eine gute Weile fortlebt und sich auf das Innigste verbindet. Aber auch diese geht und läßt uns einsa mit der dritten, die nahe vor unserer Abreise ankommt und mit der man auch gar nichts zu tun hat." (ZA Bd. 24, S. 82-83)
82) Fröhlich (1983), S. 14, verdeutlich die Bedrohung, dass für Goethe mit dem Gedächtnis der Mutter auch seine eigene Kindheit würde ausgelöscht werden. Das Haus am Frankfurter Hirschgraben, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, war 1795 verkauft worden, und schon damals befürchtete er, dass die Büchersammlung, die Gemälde, Kupferstiche und Antiquitäten zerstreut werden könnten. Entsprechend wandte er sich in den Vorarbeiten zu "Dichtung und Wahrheit" an Bettina von Arnim, ihm die Erzählungen seiner Mutter, die sie dieser bei ihren Besuchen 1806 mitgeteilt hatte, aufzuschreiben und zuzusenden.
In der Reflexion "Bedeutung des Individuellen" (WA I. Abt., Bd. 36, S. 276) drückt Goethe das entsprechend so aus: "Das Individuum geht verloren; das Andenken desselben verschwindet und doch ist ihm und anderen daran gelegen, daß es erhalten werde." Dass Goethes Haltung nicht immer so war, wird aus einem Brief an Klinger vom 08.12.1811 deutlich: "Bisher habe ich die Art oder Unart gehabt alles Vergangne eher zu vertilgen als zu bewahren. Nun mag die Zeit des Bewahrens, wenn auch spät, eintreten." (DKV II, Bd. 6, S. 715)
83) "Im ersten Beinhaus war´s ..." (HA Bd. 1, S. 366-367)
84) "Bekanntlich durfte vom Tod in seiner Gegenwart nicht gesprochen werden, und das Sterben seiner eigenen Kinder wird, wenn überhaupt, nur äußerst lakonisch vermerkt. Unfaßbar will es uns heute erscheinen, daß Goethe niemals ans Sterbebett seiner Frau getreten ist." (Fröhlich (1983), S. 15) Hinter der Todesangst verbarg sich nicht zuletzt auch eine Angst um den Verlust seines Werkes.
85) Wertheim (1968), S. 97.
86) Sprengel (1985), S. 881.
87) Dass die Herstellung einer Identität für den Schreibenden eine Funktion der Autobiographie sein kann, verdeutlicht Schnur ((1990), S. 29-30): "Integration ist der basale Begriff zur Analyse dieser literarischen Gattung - und zugleich der von personaler Identität. Denn Identität meint dieselbe Integrationsleistung von (gelebter) Vergangenheit und (´ungestört` planbarer, d.h. sinnhafter) Zukunft in die aktuelle Gegenwart - zu Einheit eines biographischen Handlungszusammenhangs." Und: "Die Autobiographie ... ist die Darstellung von Identität als ihre Selbstbeschreibung."
88) Fröhlich (1983), S. 14.
89) Fröhlich (1983), S. 8.
90) Stüssel (1993), S. 244.
91) Niggl (1977), S. 111.
92) Trunz (1974), S. 602.
93) Siehe dazu 3.b) Das Vorwort von "Dichtung und Wahrheit" (08.09.1811)
94) ähnlich auch Sprengel (1985), S. 882; S. 884.
b) Biographische Vorarbeiten vor der Entstehung von "Dichtung und Wahrheit"
95) Müller, 1986, S. 1041.
96) Hans Mayer, Goethe, Dichtung und Wahrheit. In: Hans Mayer, Zur deutschen Klassik und Romantik, Pfullingen 1963, 93-121. (Neske)
97) Reinhard Schuler, Das Exemplarische bei Goethe. Die biographische Skizze zwischen 1803 und 1809, München 1973. (Fink)
98) Schuler ((1973), S. 16-20) interpretiert den Ausdruck wie folgt: "Das anschauungsgesättigte Bild stammt aus der militärischen Fachsprache und meint den meist auffallend groß gewachsenen Vormann einer Reihe, der die von dem ganzen Glied auszuführenden Bewegungen energisch und mit übertriebener Deutlichkeit vormacht." (S. 16-17) "Ein als Flügelmann ausgezeichnetes Phänomen steht mit anderen verwandten Erscheinungen in einer Reihe und überragt sie doch zugleich, indem es das Gesetz der Reihenbildung offenbart. Eine eigentümliche Raffung wird dadurch erreicht; der Flügelmann erhält idealiter die gesamte Reihe in sich und erlaubt daher dem Forscher, auf Vollständigkeit der Zwischenglieder und Übergänge zu verzichten und den Erkenntnisprozeß drastisch zu verkürzen". (S. 18) (Hervorhebung S.R.)
Zentrale Bestandteile von Individualität seien dabei für Goethe "biegsame Festigkeit, Komplexion des Widersprüchlichen, Einheit in der Vielheit der Lebensäußerungen" (Schuler (1973), S. 56). Allerdings klingen in Cellinis Leben auch Motive an, die Goethe an seinen eigenen Werdegang erinnerten: die vielseitigen Begabungen, die den Zwang zur Konzentration und Ausbildung einer besonderen nach sich ziehen, und die Selbstdurchsetzung und Ausbildung einer unabhängigen Individualität gegen Widerstände der Zeit. In den "Maximen und Reflexionen" (HA Bd. 12, S. 392) verallgemeinert Goethe dies auf die Entwicklung der Wissenschaften: "Der Konflikt des Individuums mit der unmittelbaren Erfahrung und der mittelbaren Überlieferung ist eigentlich die Geschichte der Wissenschaften: denn was in und von ganzen Massen geschieht, bezieht sich doch nur zuletzt auf ein tüchtigeres Individuum, das alles sammeln, sondern, redigieren und vereinigen soll; ..."
99) Schuler (1973), S. 12. An anderer Stelle präzisiert Schuler dies nochmals: "Existiert es [= das Individuum] doch niemals isoliert, sondern immer schon eingebettet in das Beziehungsganze seiner Welt. Noch das Individuellste seiner Erfahrung ist geprägt von den allgemeinen Bedingungen des Zeitalters, dessen organische Teileinheit es ausmacht. Seine persönlichen Zustände eignen sich daher für den außenstehenden Betrachter vorzüglich zum "Vehikel" der Vergegenwärtigung fremder Zeiten und Zustände. Auch für die eigene Lebensgeschichte hat Goethe diese Vermittlungsfunktion anerkannt und exakt zum Ausdruck gebracht." (S. 58)
100) Schuler (1973), S. 59.
101) Trunz (1974), S. 602.
102) Mayer (1963), S.105; S. 106.
103) Mayer (1963), S. 107.
104) Schuler (1973), S. 152.

7. Literaturangaben

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Goethe Wörterbuch: Bd. 2: "Biographie"; "biographisch". Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1989, S. 726-727 (Kohlhammer).
Heller, Erich: Goethes biographisches Schema. Betrachtungen zum Thema Autobiographie. In: Anton, Herbert, Gajek, Bernhard, Pfaff, Peter (Hg.): Geist und Zeichen. Festschrift für Karl Henkel. Heidelberg 1977 (Carl Winter), S. 137-143.
Hettche, Walter: Nachwort. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Stuttgart 1991, S. 369-394 (Reclam).
Jannidis, Fotis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs "Bildung" am Beispiel von Goethes "Dichtung und Wahrheit". Tübingen 1996 (Niemeyer).
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Wertheim, Ursula: Zu Problemen von Biographie und Autobiographie in Goethes Ästhetik. In : Wertheim, Ursula: Goethe-Studien. Berlin 1968, S. 89-126.
 
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