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Den nachstehenden Artikel habe ich im Winter 1995/96 während meiner Zeit in Rzeszów verfaßt. Er sollte ein Beitrag zu der von der Mitgliederversammlung der GFPS 1995 in Leipzig angeregten Diskussion über das Selbstverständnis von GFPS sein. Er wurde allerdings damals im Rundbrief von GFPS nicht abgedruckt. Der seinerzeitige Redakteur des Rundbriefs sagte, er sei uninteressant. Die neue Redaktion des Rundbriefs hat ihn nun in der Sommerausgabe 1998 veröffentlicht. Im folgenden noch einmal die ursprüngliche Fassung.


Decentralizacja

Die von der Mitgliederversammlung in Leipzig angeregte Diskussion über das Selbstverständnis von GFPS hat sich bis jetzt relativ zäh angelassen. Stephan hat im letzten Rundbrief einige Bereiche benannt, in denen seiner Meinung nach noch Diskussionsbedarf besteht. Doch möchte ich mich hier zu einem Thema äußern, das dort nicht erwähnt wurde, das aber nach meiner Auffassung langfristig von großer Bedeutung für unsere Zunkunft ist, der Rolle der Stadtgruppen.

Als die Mitgliederversammlung im Mai 1994 die Aufkündigung der Partnerschaft mit der PNTA beschloß, war der Grund deren offensichtliche Professionalisierung, die mit unserem Grundsatz der Ehrenamtlichkeit nicht zu vereinbaren war. Einer der Hauptbelege für diese Entwicklung war die Tatsache, daß man dort keinerlei Anstalten zur Gründung von Stadtgruppen gemacht hatte. Um sein hohes Gehalt zu rechtfertigen und um alle Vorgänge unter seiner eigenen Kontrolle zu halten, übernahm der Vorsitzende mit seinen engsten Mitarbeitern alle Arbeiten, die unmittelbar mit der Vergabe der Stipendien zusammenhingen, selbst; weitere Hilfeleistungen für die Stipendiaten sollten von diesen zusätzlich bezahlt werden. Ehrenamtlich arbeitende Stadtgruppen waren also gar nicht erwünscht, weil sie dem Konzept widersprachen, die Stipendiaten an der kurzen Leine zu halten.

Nun hat bei der letzten Mitgliederversammlung in Leipzig Rainer in einem Anhang zu seinem Rechenschaftsbericht beklagt, daß auch "die Aktivitäten der GFPS [...] sich immer mehr auf unsere überregionalen Veranstaltungen begrenzen" (Juli-Rundbrief 1995, S. 20). So weit ich sehe, hat Rainer mit seiner Beurteilung der Lage recht und natürlich auch damit, daß die Belebung der Aktivität in den Stadtgruppen vor allem von deren eigener Initiative abhängt. Aber ich bin in letzter Zeit zu der Auffassung gelangt, daß dieses Problem auch strukturelle Ursachen hat, die auf überregionaler Ebene liegen. Ich denke, daß man von dort nicht nur mit Appellen dazu beitragen könnte, die Stadtgruppenarbeit zu beleben.

Im alten GFPS-Info ist noch nachzulesen, daß eine Stadtgruppe mindestens fünf Personen umfassen müsse. Diese Regelung muß schon vor längerer Zeit stillschweigend fallengelassen worden sein. In letzter Zeit gibt es eine ganze Reihe von Stadt"gruppen" mit einer oder gar nur einer halben Person (wenn der Betreffende nicht dauerhaft vor Ort ist). Es ist sogar vorgekommen, daß in diese Städte eher Stipendiaten geschickt worden sind als in Städte mit größeren Stadtgruppen, mit der Begründung, diese Leute würden sonst ganz abspringen, während größere Stadtgruppen eine Durststrecke ohne Stipendiaten eher überstehen würden. Aber wie ich schon früher geschrieben und gesagt habe, sollten wir uns nicht auf das Prinzip der PNTA einlassen und die Zahl unserer Stipendien von der Menge des dafür verfügbaren Geldes abhängig machen, sondern von der Menge des vorhandenen ehrenamtlichen Engagements. Mit diesem steht und fällt GFPS, und wenn es sich verringert, dann sollte man den Mut haben, auch die Zahl der Stipendien zu verringern und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wenn schon, dann wäre eher zu überlegen, ob besonders zahlreiche und aktive Stadtgruppen nicht mit einem zweiten Stipendiaten beglückt werden sollten, wenn sie das wünschen.

Der Ursprung der Regel von der Mindestbesetzung einer Stadtgruppe lag sicher darin, daß in den achtziger Jahren noch erheblich mehr Aufwand bei der Betreuung eines Stipendiaten nötig war als heute. Die Ausstellung in Baranów hat einen Eindruck davon vermittelt, welche Bemühungen zu Komuna-Zeiten häufig erforderlich waren, um einen Kandidaten den Fängen der polnischen Sicherheitsorgane zu entreißen und in eine bundesdeutsche Universitätsstadt zu bringen. Aber diese Ausstellung hat auch unübersehbar dokumentiert, daß schon damals (gerade damals) die Stadtgruppen unter ihrer Aufgabe mehr verstanden haben als den Kampf um Ausreisegenehmigungen und Geld. Wenn es nur darum gegangen wäre, dann wäre wohl auch in den Gründerjahren das erforderliche Engagement nicht zu mobilisieren gewesen. Der eine Pole, den man damals hatte, war viel zu kostbar, als daß man ihn nur einfach hätte studieren lassen können. Natürlich sollte er sich über Deutschland informieren, aber zugleich sollte mit ihm und durch ihn die Gelegenheit genutzt werden, dem schwachen Wissensstand der Deutschen über Polen aufzuhelfen. Man organisierte Seminare, Vorträge, polnische Abende und regelmäßige Treffen, durch die weitere Interessenten angezogen wurden.

Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Man kann als polnischer Student heute auch ohne GFPS-Stipendium an einer deutschen Hochschule studieren. Das allgemeine Interesse an Polen ist gegenüber den achtziger Jahren zurückgegangen. Und vor allem ist die Aufnahme eines Stipendiaten heute eine Routineangelegenheit, deren Arbeitsaufwand vorhersehbar ist und in der Regel tatsächlich von einer einzigen Person bewältigt werden kann. Nun ist die Erledigung der Formalitäten für die Stipendiaten vor und bei ihrer Ankunft bis heute die einzige Aufgabe, die quasi offiziell den Stadtgruppen vorbehalten ist (obwohl es auch schon Fälle gegeben hat, in denen Stipendiaten in Städte ohne Stadtgruppen gekommen sind und die Formalitäten von Vorstandsmitgliedern erledigt wurden). Insofern sind rein formal für eine Stadtgruppe tatsächlich nicht mehr Mitglieder erforderlich, als zur Erledigung dieser Aufgabe benötigt werden. Aber eine rein formale Betrachtungsweise ist auf Dauer tödlich für einen Verein, der sich auf ehrenamtliche Mitarbeit gründet.

In letzter Zeit ist nun deutlich zu beobachten, daß auf der überregionalen Ebene bei GFPS die Sicht der Stadtgruppen in diese formale Richtung tendiert. Über Stadtgruppen wird unter dem Gesichtspunkt gesprochen, inwieweit sie die Dinge ausführen, die der Vorstand von ihnen erwartet. Alle weitergehenden Aktivitäten werden bestenfalls registriert. Von daher hat man im Vorstand auch wenig Interesse an personellem Zuwachs in den Stadtgruppen, so lange sich nur der eine bei der Stange halten läßt und bei seinem Abgang für einen Nachfolger sorgt. Darüber hinaus ist zu beobachten, daß sich der Anteil der vom Vorstand initiierten und durchgeführten Aktivitäten bei GFPS immer weiter vergrößert. Im letzten Jahr hat erstmals ein von GFPS selbst organisierter Sprachkurs stattgefunden, von dem sich bei der Durchführung herausstellte, daß er nicht nur die finanziellen, sondern auch die personellen Ressourcen des Vorstands aufs äußerste belastet hat. Dagegen war dem Artikel von Uwe im Oktober-Rundbrief 1995 (S. 20f.) zu entnehmen, wie sehr die schon ältere Praxis der Finanzierung von Stipendien zur Teilnahme an einem Sommersprachkurs an deutschen Universitäten, deren Organisation dann von der jeweiligen Stadtgruppe übernommen wird, eine Stadtgruppe beleben kann. Die Begründung für den zentralen Sprachkurs war, daß man damit eher neue Interessenten für die GFPS-Arbeit gewinnen könne. Aber auch wenn das gelingt, müßte sich der Erfolg jedenfalls in verstärkter Aktivität in den Stadtgruppen zeigen.

In letzter Zeit werden auch verstärkt Nicht-Vorstandsmitglieder in Arbeiten des Vorstands miteinbezogen. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange solche Maßnahmen nicht mit einer Verringerung der Aktivität in den Stadtgruppen einhergehen. Man kann aber feststellen, daß die Herangezogenen vor allem aus Stadtgruppen stammen, die ohnehin schon im Vorstand überrepräsentiert sind. Eine Abstufung in vorstandsnahe und vorstandsferne Stadtgruppen ist zur Zeit unübersehbar, wobei bei den ersteren der Großteil der Tätigkeit mit der Vorstandsarbeit zusammenhängt. Es besteht die Gefahr, daß gerade Vorstandsmitglieder die Aushöhlung der Stadtgruppenarbeit nicht bemerken, so lange sich in ihrer eigenen Stadtgruppe niemand über Arbeitsmangel zu beklagen braucht.

Wie weit die Überordnung von Vorstandsbelangen gegenüber denen der Stadtgruppen gehen kann, ist mir an einem Ereignis im letzten Jahr deutlich geworden. Als wir in Freiburg für Anfang Mai unser süddeutsches Stipendiatentreffen geplant haben, mußten wir im Vorstandsprotokoll lesen, daß der Vorstand es lieber sähe, wenn die Stipendiaten zu der drei Wochen später stattfindenden Mitgliederversammlung in Leipzig kämen. Wobei dazu bemerkt werden muß, daß der damals wegen des Zentralsprachkurses in akuten Geldnöten befindliche Vorstand allen Stipendiaten die Anreise nach Leipzig bezahlen wollte, während die Kosten für das Treffen in Freiburg vollständig von den Stadtgruppenmitgliedern und den Stipendiaten selbst übernommen wurden. Daß eine vom Vorstand organisierte Veranstaltung automatisch Vorrang vor einer Veranstaltung haben soll, die von einer Stadtgruppe organisiert wird, selbst dann, wenn die erste mit Kosten für GFPS verbunden, die zweite aber kostenlos ist, ist für mich nicht einsichtig und Symptom einer unguten Zentralisierungstendenz. (Dies und nichts anderes habe ich übrigens dann bei der Mitgliederversammlung gesagt, und nicht, wie fälschlich im Protokoll zu lesen war [Juli-Rundbrief 1995, S. 21, Punkt 7.2], daß ich für die Abhaltung eines regelmäßigen, mit Vlotho vergleichbaren Stipendiatentreffens in Freiburg sei. Erst recht nicht habe ich - wie dort suggeriert - vom Vorstand die Finanzierung eines solchen Treffens gefordert.)

Ein weiteres Problem ist das Verhältnis der Stipendiaten zu den Stadtgruppen. Bei der Sitzung der Auswahlkommission ist mir vor kurzem aufgefallen, daß die Kandidaten in der Regel nicht darüber informiert waren, daß sie als GFPS-Stipendiaten von einer Stadtgruppe betreut würden. Manche präsentierten in ihren Bewerbungsbögen schon genaue Vorstellungen davon, in welcher Stadt sie studieren und wie sie ihr Studium dort organisieren würden. Einige benannten sogar ihre Bekannten vor Ort, die ihnen beim Einstieg behilflich sein würden. Das sieht so aus, als ob die Existenz und die Aufgabe von Stadtgruppen so unbedeutend seien, daß es nicht nötig ist, Interessenten für ein GFPS-Stipendium von Anfang an darüber zu informieren, daß GFPS mehr ist als ein Verein, der Gelder vergibt. Aber ich denke, daß man das tun sollte.

Was das Verhältnis von Stipendiaten und Stadtgruppen vor Ort anbelangt, so habe ich mit verschiedenen GFPS-Mitgliedern seit längerer Zeit Meinungsverschiedenheiten in der Frage gehabt, ob die Teilnahme an Treffen der Stadtgruppe für Stipendiaten verpflichtend sei. Man hat mir von höherer Stelle entgegengehalten, daß GFPS eine freie Gemeinschaft sei und daß die Stipendiaten selbstverständlich zu nichts verpflichtet seien. (Daran habe ich mich gehalten, und wenn im Oktoberrundbrief 1995 unsere letzte Freiburger Stipendiatin berichtet hat, ihr sei am Anfang ihres Aufenthalts gesagt worden, die Treffen der Stadtgruppe seien für die Stipendiaten obligatorisch, so hat sie das jedenfalls nicht von mir gehört.) Aber andererseits verlangt der Vorstand von den Stipendiaten unbedingt und unter Androhung von Sanktionen die Teilnahme an dem Treffen in Vlotho, außerdem im Rahmen eines "Gentlemen's Agreement" die Anfertigung eines Abschlußberichts für den Rundbrief. Und ich denke, man kann zumindest über diese Schieflage nachdenken, daß die Stipendiaten wohl Verpflichtungen gegenüber dem Vorstand haben, nicht aber gegenüber den Stadtgruppen, die ja schließlich die meiste Arbeit mit ihnen haben.

Die Beteiligung am Leben der Stadtgruppe sollte übrigens auch im wohlbegründeten Eigeninteresse der Stipendiaten liegen. Die Polen, die in ihren Stipendiatenberichten immer noch über das mangelnde Interesse der Deutschen an ihrem Land klagen, sollten die Gelegenheit nutzen, gemeinsam mit ihren Stadtgruppen Aufklärungsarbeit und Werbung für Polen zu treiben. Sie können dabei auch mit dazu beitragen, möglichst vielen ihrer Kommilitonen ein Studium in Deutschland zu ermöglichen, indem sie durch ihre aktive Mitarbeit die Stadtgruppen beleben und attraktiver machen. Wenn dadurch mehr deutsche Studenten zu einem Engagement bei GFPS angeregt werden, wird auch die Zahl der Stipendien wieder steigen. Und die Erfahrungen, die die Stipendiaten dabei machen, können sie später möglicherweise in die neuen Stadtgruppen von GFPS-Polska einbringen.

Wenn wir das Prinzip der Ehrenamtlichkeit auf Dauer bewahren wollen, müssen wir die Bindung der Stipendien an Stadtgruppen unbedingt aufrechterhalten, auch angesichts der Konkurrenz von anderen Organisationen, die nicht nur höhere Stipendien anbieten, sondern auch die freie Wahl des Studienorts. Es ist zugegebenermaßen ein Problem, daß gerade diejenigen Kandidaten, die wissenschaftlich am besten qualifiziert sind und die größten Chancen bei den Auswahlgesprächen haben, ihre Studienprojekte in Deutschland häufig an ganz bestimmten Orten verwirklichen wollen, wo es möglicherweise keine Stadtgruppe gibt oder wo auch andere Stipendiaten gerne hinwollen. Aber aus meinen gegenwärtigen Erfahrungen als Lehrer an einer polnischen Hochschule meine ich sagen zu können, daß auf absehbare Zeit nicht die geringste Gefahr besteht, daß GFPS nicht mehr genügend Stipendienbewerber haben wird, wenn wir im Gegensatz zu anderen Organisationen die Ortswünsche der Stipendiaten nicht immer befriedigen. Es muß nicht gegen einen Kandidaten sprechen, wenn zum Beispiel ein Germanistikstudent sich den verständlichen Wunsch erfüllen will, im Lauf seines Studiums ein Semester in Deutschland zu verbringen, und nicht sagen kann, in welcher Stadt er das tun möchte. Monika Sykuteras Tübingen-Eloge (Rundbrief April 1995, S. 16f.) ist nur das Extrembeispiel dafür, wie sich eine Stipendiatin in eine ihr vorher völlig unbekannte Stadt verlieben kann.

Wie gesagt: Ich bin mit Rainer der Meinung, daß die Belebung der Stadtgruppen natürlich vor allem von deren eigener Initiative abhängt. Aber ich denke auch, daß man auf überregionaler Ebene einiges tun und lassen kann, um diesen Prozeß zu fördern. Ich bin zwar dagegen, daß Stadtgruppen für ihre Veranstaltungen Geld bekommen, denn das würde das Prinzip der Ehrenamtlichkeit schon an der Wurzel in Frage stellen. Aber der Vorstand sollte aktive und initiative Stadtgruppen ermuntern und unterstützen und Anliegen und Wünsche, die von diesen an ihn herangetragen werden, nicht als Störung ansehen. Dies letztlich auch im eigenen Interesse, denn Quelle und Basis des ehrenamtlichen Engagements sind und bleiben die Stadtgruppen, aus denen sich gegebenenfalls der Nachwuchs für alle anderen Aufgaben rekrutiert. Wenn die Arbeit in den Stadtgruppen so unattraktiv geworden ist, daß sich niemand mehr findet, der bereit ist, dort ehrenamtlich tätig zu sein, dann wird sich für die Arbeit im Vorstand erst recht niemand mehr finden. Die unausweichliche Folge wäre die Professionalisierung oder die Auflösung des Vereins.

Vielleicht kann man sich hier etwas an GFPS-Polska orientieren, wo die Stadtgruppen im Augenblick im Aufblühen sind. Die besonders agile Warschauer Stadtgruppe verfügt mittlerweile sogar schon über eine - wenn auch nur aus einem Blatt bestehende - Stadtgruppenzeitung. Leute wie die dort wirkende Anna Warda sind sicherlich ein Glücksfall, aber bekanntlich können sich Genies niemals ohne das entsprechende soziokulturelle Umfeld entfalten. Und unsere Aufgabe muß es sein, dieses Umfeld auch in Deutschland wieder zu schaffen.

Wybierzmy przyszlosc!

Martin Faber

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