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II FRAGEN UND METHODEN

Da es sich um eine Projektskizze, nach erster Durchsicht der Literatur, handelt, können Ergebnisse noch nicht präsentiert worden, allenfalls Fragen und Hypothesen.

Das erste Ziel der Arbeit wurde schon genannt, und begründet: Der Versuch, identitätsstiftendet Figuren und ihre Lebensläufe in einer bestimmten Region (genauer: in wegen ihrer Grenziage zu Frankreich trotz historiscner und sprachlicher Untersch iede doch vergleicnbar und verwandter Regionen) zu untersuchen, anhand der biographischen Literatur, in ihren sachlich darstellenden, fiktionalen und autobiographischen Formen.

Für die Kategorie des heimatgebundenen Typus ergibt sich dabei eine schillernde Skala, vom ,,Verräter" über den (kleinen oder großen) ,,Opportunisten" (Realistc zum ,,Vermittler" (angemaßt oder nicht; der Typus findet sich wohl am enesten bei Wissenschaftlern wie Robert Minder oder E.R. Curtius), über den ,,Märtyrer‘ bis zum ,,Nationalhelden" (N. Hein). Die genannten Aspekte können sich dabei in dnc einzelnen Figuren mischen, ebenso vom Außenaspekt her: Der National held des einen mag der Verräter der anderen Seite sein.

Ein zweiter Aspekt ist das Deutschland— und Frankreichbild, wie es in den jeweiligen Darstellungen erscheint; gelegentlich, besonders in den apologetischen Erinnerungen der völkischen Autonomisten scheint es so zu sein, als stünden die Leute, die geographisch Frankreich am nächsten sind, mit dem Rücken zur Grenze: Ihr Bild des Nachbarn erscheint oft als besonders arm und konturenlos, klischeehaft, der Blick auf Deutschland als besonders kritisch, oder in Illusionen befangen, z.d. was die besonders im Elsaß zwischen den Kriegen, auch bei Renè Schickele, besonders ausgeprägte ,,Reichs"-Ideologie betrifft, die etwa bei Spieser recht gleitend in eine ,,kultur"—betonte konservative Abendlandsideologie übergeht.

Eine besondere Rolle, was das deutsche, bzw. deutsch—elsässische und deutsch— lothringische Frankreichbild angeht, scheint dabei eine seit der Jahrhundertwendec literariscn wie propagandistische ausgeschlachtete demographische Tatsache gespielt zu haben, nämlich der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich bemerkte Geburtenrückgang (mgw. eine der Ursachen für die bis heute liberale Asylpolitik, neben den freiheitlichen Traditionen natürlich; s.a. den Fall Schwartz bei Ettighoffer, ,,jus solis"); das daran anschließende Klischee ist das vom ,,degenerierten",vergreisenden" Frankreich, gegen das noch Friedrich Sieburg in ,,Gott in Frankreich? ,, angeschrieben hat. Reflexe darauf finden sich sowonl in der französischen, auf die Region bezogenen Literatur (Bazin) als auch in der deutschen: Bei Mungenast etwa ist der alte vertrocknete (dämonisierte) Sansterre, Mqzots Gegenspieler, eine Variante, mit dem alten Bild vom lateinischen, rationalistischen Frankreich im Hintergrund (Rationalität "ist" Vergreisung u.ä.), der ,,dekadente" Schwiegersohn bitet gleich noch die zweite Variante dazu. In dem tragischen endenden Roman einer deutsch—frz. Liebe zwischen den Kriegen ,,Andrè und Ursula" von P.M. Höfer (1937) ist ein geistig zurücKgebliebener Halbbruder des Helden die Ursache allen Unglücks; Mangel an Vitalität ist einer der Gründe, warum der Held der A.M. Falkenstern im Roman ,,Zwischen den Mächten" das ihn liebende Mädchen , eine Französin verläßt; dieselbe begeht zusammen mit ihrem Bruder, Selbstmord. Weitere Beispiele ließen sich anfügen. Eine weitere bemerkenswerte Tatsache in diesem Zusammenhang ist die Neigung mancher Autoren, ihre ,,deutschen" Ansichten einem Franzosen in den Mund zu legen, so Roland Betsch in dem, freilich in der Pfalz spielenden, aber wegen seiner Intention auf den Separatismus der 20er Jahre , ,,historischen" Familienronan dennoch für das Thema aufschlußreichen Roman ,,Ballade am Strom" (1939, neubearb. in den 50er Jahren, ähnlich Mungenast!), so Merckling in seinem ,,Grenzlandteufel", so vor allem auch Friedricn Spieser, bei dem sich allerdings auch noch feudalistische Vorlieben (des kleinbürgerlichen Pfarrerssohns) mit einmischen. Die ,,deutschen" Franzosen erscheinen als die einzig akzeptablen. Im ganzen erscheint mir, was dieses Thema angeht, Nachbarschaft nicht gerade als blickschärfend und erkenntnis fördernd — man könnte natürlich auch vermuten, daß die Nähe den Charme des Gegenstands etwas mindert, dem etwas weiter weg lokalisierte Frankophile so gerne erliegen.

Über die Selbststilisierungen der ,,Nestflüchter" wie Flake, Regler und Meissner ist in der Bibliographie schon einiges gesagt.Eine weitere literatur— wissenschaftliche Frage wäre, wie besonders diese beiden genannten Autoren sich vor dem Hintergrund der neueren Unterscheidung zwischen ,,offenen und geschlossenen Autobiographien ausnehmen; mit ,,offen" ist dabei an einen neueren Typus gedacht, der nicht mehr nach dem Muster des 19. Jahrnunderts (also Goethes vor allem) die Fiktion eines zusammenhängenden, im ganzen sinnvollen Lebens aufrecht erhält (vgl. die Bemerkungen zu Lienhard), sondern punktuell, je nach Erinnerungs—Ansatz, reflektierend und rekonstruierend (deutend, vorläufig) vorgeht; als Beispiel werden, neben Walter Benjamins ,,Berliner Kindheit um 1900" vor allem frz. Autobiographien der letzten Jahre geannt, so etwa Michel Leiris. Bei Flake und Regler scheint es sich in diesem Zusammenhang um Übergangserscheinungen zu handeln: Selbststili— sierungstendenzen sind wohl beobachtbar, ganz deutlich, die Darstellungen enden aber doch mit open end (Regler: ,,Alles ist offen", ännlich Flake, in dieser Hinsicht).

Wie schon bemerkt, erscheint mir die Realität nicht als der Maßstab der literarischen Mischgattung ,,Autobiographie"; methodisch erscheint mir nicht der Vergleich mit der sog. Wirklichkeit, sondern die Untersuchung der Erzänlmittel als aussichtsreicher; der Umgang mit der Zeit etwa:

Selbstgemachte oder aus der allgemeinen Geschichte übernommene Perio— disierung wie bei Regler, zum Zweck der Identi fikation. Zeitsprünge bzw. zeitdehnendes oder -raffendes erzählen könnten auf die ,,Wiederkehr des Verdrängten hinweisen ebenso wie (un)freiwillige Selbstkorrekturen, sachliche Widersprüche o.ä., so daß sich mgw. (das ist eine Hypothese) eine Art literarischer ,,Lügensignale", etwas anders als die von Weinrich gemeinten, ergeben könnten (Harald Weinrichs Essay über ,,Die Linguistik der Lüge" enthält einen Absatz über die manifeste ,,Lügenliteratur", worin derartige Signale zum Verständnis des Lesers/Zuscnauers untersucht werden.) ergänzende Lektüre erscheinen — bzgl. der autobiographischen Stücke Als besonders reizvoll erscheint mir, rechte und linke Rechtfertigungsautobiographien nebeneinander zu lesen und die jeweiligen Strategien zu beobachten, etwa bei Regler und dem, trotz allem wohl ergiebigen, Spieser.

Nachtrag zu S. 17/18 bzgl. Deutschland— und  Frankreichbildern:

Dem ~,vergreisten" Frankreich steht dann ein jugendlich—vitales Deutschland gegenüber; worauf Frankreich mit dem immerfort brauchbaren Gegensatz Zivilisation — Barbarei antwortete; in den Selbstund Fremdbildern beider Länder und Literaturen ist mitunter das Phänomen zu beobachten, daß eigene vermutete Schwächen dem anderen gegenüber überkompensiert werden müssen; die französische Kultur— propaganda mit all ihrer Arroganz mag in diesem Zusammenhang zu verstehen sein, die sich bestätigt fühlen konnte durch das Interesse der deutschen Verwaltungsbeamten an der Straßburger Bourgeoisie, das Interesse an den frz. ,,Notabelri" und die Zusammenarbeit mit ihnen überhaupt während der ,,Ära Manteuffel", den ersten Jahren nach 1871 also.

Zum Schluß 1