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América
_____________ Thomas Coraghessan Boyle
Delaney Mossbacher, "liberaler Humanist ohne Verkehrssündenregister",
fährt mit seinem wachsgepflegten japanischen Auto einen Mexikaner an:
Cándido Pincón, der mit seiner schwangeren Frau América
in einem Canyon neben der Straße campiert. Der Mexikaner wird durch
den Unfall verletzt. Delaney bietet ihm erschrocken Hilfe an, kann sich aber
kaum verständlich machen, da keiner die Sprache des anderen versteht.
Cándido lehnt jede Hilfe ab. Am Ende drückt Delaney dem Mexikaner
einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand, woraufhin der sich aufrappelt und
davonhumpelt. Einen engeren Kontakt als diese Begegnung auf der ersten Seite
wird es in dem ganzen Buch nicht mehr geben.
Erzählt wird hier die Geschichte
des mexikanischen Einwanderes, der sich in Amerika Arbeit und eine bessere
Zukunft verspricht. Cándido ist ein Illegaler, der über den "Tortilla
Curtain" gekommen ist, die dreitausend Kilometer lange Grenze,die die USA
von Mexiko trennt; The Tortilla Curtain ist auch der Originaltitel
dieses neuesten Romans von T.C.Boyle, in dem es um Ausgrenzung, Rassentrennung
und Haß geht.
Cándido ist nur einer von
mehreren hunderttausend Mexikanern, die von Schleppern - den Coyoten -
in den letzten Jahren über die Grenze gebracht wurden, oft nur mit
einer Plastiktüte, in der sich ihre gesamte Habe befindet. Sie alle
suchen ihr Glück in Los Etados Unidos, dem gelobten Land. Nur
gilt der amerikanische Traum nicht für Mexikaner und so leben sie am
Rande des Existenzminimums, oft auch darunter; immer auf der Suche nach
schlechtbezahlter, harter Arbeit, ohne ein Dach über dem Kopf und in
ständiger Angst vor La Migra, der
Einwanderungsbehörde.
Cándido ist nicht alleine.
Mit ihm ist seine siebzehnjährige schwangere Frau gekommen,
América, "die Hoffnung der Zukunft". Sie wünscht sich
ein Haus, "in einer richtigen Wohngegend mit Gesetzen, Respekt und
Menschenwürde". Doch das bleibt den Illegalen verwehrt. Ihr Lebensweg
führt stetig abwärts. Keine Arbeit, kein Geld, keine Wohnung, keine
Sachen für das Baby. Sie werden beschimpft, verachtet, zusammengeschlagen,
ausgeraubt und vergewaltigt. Am Ende kämpfen sie nur noch um ihr
Leben.
Der zweite Handlungsfaden erzählt
vom Leben der Mossbachers, Angehörige der kalifornischen Mittelschicht,
mit Normvilla, Swimming-Pool und großem Garten in einer exklusiven
Wohnanlage, "beschützt vor der heißen, trockenen, beinharten Welt".
Kyra Mossbacher ist eine erfolgreiche Immobilienmaklerin und Delaney schreibt
eine Kolummne für eine Naturschützerzeitung. In ihr Leben bricht
die brutale Realität ein, als ein Coyote den zwei Meter hohen Zaun
überwindet und Kyras Schoßhündchen Osbert und
Sacheverell reißt. Das ist der schlimmste Tag in Kyras Leben.
Sie verbringt einen Tag im Bett und erhält sogar Kondolenzanrufe.
Hier wird die Satire deutlich,
wenn Boyle mit skurrilem Humor die Lebenssituation der Einwanderer im
überprivilegierten Leben der Mossbachers spiegelt. Die Mossbachers
ernähren sich "bewußt, was den Verzehr tierischer Fette angeht",
während die Mexikaner ihr Leben für ein Ei geben würden. Delaney
schreibt eine Kolumne für Wide Open Spaces über eingeschleppte
Arten und ihre Auswirkungen auf die einheimische Population, während
Jordan, Kyras Sohn, mit seinem Videospiel intergalaktische Invasoren
bekämpft. Vergleiche dieser Art gibt es in dem Roman so viele, daß
es schon wieder zu dick aufgetragen ist und nach einigen Kapiteln, wenn man
es einmal verstanden hat, langweilig wird.
Dieses Buch ist ein "wahrhaft
notwendiges Buch", so die New York Times, ein politisches Buch, das
die brisante Situation der Millionen von Einwanderern, den gesellschaftlichen
Sprengstoff, eindrucksvoll vor Augen führt. Man fühlt sich sofort
an Steinbecks Früchte des Zorns erinnert. Als Roman aber hat
es einige Schwächen. Zwar berühren sich die Wege der beiden
Protagonisten immer mal wieder, doch im wesentlichen laufen die
Handlungsfäden berührungslos nebeneinander her, denn Boyle
versäumt die Gelegenheit, einen Knoten zu knüpfen.
Der naheliegende Konflikt wird
dem Leser vorenthalten. Es ist völlig ohne Bedeutung, daß Delaney
gerade Cándido angefahren hat, d.h. es hat für die Handlung keine
Konsequenz. Cándido ist - wie Delaney - nur Statist, Repräsentant
und Merkmalsträger seiner Rasse und Klasse . Als handelnde Figuren bleiben
beide farb- und konturenlos, was wohl auch daher kommt, daß sie dieselbe
Sprache sprechen, die Sprache Boyles. Und das ist vor allem indirekte Rede,
stream of consciousness, die manchmal jeden Anflug von Spannung
tötet.
Katastrophen gibt es viele in diesem
Buch, fast zu viele. Dieser Roman ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung
von Katastrophen und durch das gleichmäßig hohe Tempo der
Erzählung gibt es auch keine wirklichen Höhepunkte. "Wenn es nur
um die Sache geht, dann opfern Sie das Künstlerische und die Spannung
des Buches, um ihr Anliegen rüberzubringen oder um Anhänger zu
sammeln", sagte T.C. Boyle in einem Interview. Leider wird Boyle seinem
selbstgestellten Anspruch nicht gerecht und erreicht bei weitem nicht sein
Vorbild John Steinbeck, auf den er sich ausdrücklich bezieht.
©
G!G 20.5.97
Lese!zeichen
T.C. Boyle: América. Roman
aus dem Amerikanischen von Werner Richter
Carl Hanser Verlag, München 1996, 389 Seiten,
45,00 DM
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