Kinder und Bluttransfusionen:
Die Sorgerechtsfrage

 

Einem Großteil der Öffentlichkeit fällt zum Stichwort "Zeugen Jehovas" hauptsächlich das emotional sehr belastete Schlagwort "ihr lasst eure Kinder sterben" ein. Nach einer Reihe spektakulärer, öffentlichwirksamer Vorfälle, bei denen Kinder nach einer Verweigerung von Bluttransfusionen zu Schaden kamen (wenn auch manchmal Bluttransfusionen dafür nicht alleinige Ursache waren), ist es nicht verwunderlich, dass gerade dieses emotionale Thema das Bild der Zeugen Jehovas in der Öffentlichkeit prägt.


Liste der Artikel:

A. Bender, Zeugen Jehovas und Bluttransfusionen: Eine zivilrechtliche Betrachtung
A. Bender behandelt den religiöser Hintergrund der Verweigerung von Bluttransfusionen, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, die "Blutkarte" sowie die Grenzen elterlichen Sorgerechts
MedR 1999, Heft 6 (© MedizinRecht)

W. Weißauer: Verweigerung der Bluttransfusion aus religiösen Gründen [Auszug]
Weißauer befasst sich, etwas knapper als Bender, aus medizinethischer Sicht mit dem beschriebenen Thema
aus "Chirurgie und Recht" Berlin 1993, S. 134-143

verschiedene Gerichtsurteile zum Thema Sorgerecht

gesetzliche Grundlagen
BGB § 1666, BGB § 1671, Grundgesetz Art 2,


In den letzten Jahren ist es allerdings um diesen Themenkomplex wesentlich ruhiger geworden. Dies ist auf eine Reihe von Ursachen zurückzuführen. Zum einen hat die Rechtsprechung in den letzten 10 Jahren zu einer einheitlicheren Beurteilung gefunden, wann Kinder in einer medizinischen Notsituation vor einer mißbräuchlichen Anwendung des elterlichen Sorgerechts zu schützen sind, wie wir mit einer Reihe von Gerichtsurteilen belegen. Eng damit verbunden sind auch allgemein anerkannte medizinisch-ethische Normen, die sich inzwischen in der Ärzteschaft herausgebildet haben. Einen guten Überblick über die gegenwärtigen Auffassungen geben die Artikel von A. Bender und W. Weißauer wieder; sie befassen sich nicht nur mit der Sorgerechtsfrage, sondern allgemein mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, wie es bei der Verweigerung von Bluttransfusionen durch Zeugen Jehovas in Abhängigkeit vom Alter und der geistigen Reife zu berücksichtigen ist.

Ein weiterer Faktor für den Rückgang an akuten Fällen von Todesfällen bei Kindern, die auf eine Verweigerung von Bluttransfusionen zurückgehen, ist sicherlich die veränderte Haltung der Wachtturm-Gesellschaft (WTG), wie sie in diversen Veröffentlichungen und in den Anweisungen an die Mitglieder der Krankenhaus-Verbindungskomitees zum Ausdruck kommt. Während noch vor nicht allzu langer Zeit Zeugen Jehovas von der WTG dazu angeregt wurden, behandlungsbedürftige Kinder bei nicht kooperativen Ärzten aus dem Krankenhaus zu entführen und alles zu unternehmen, um sie nicht durch eine Bluttransfusion "vergewaltigen" zu lassen, ist die Lage heute wesentlich differenzierter und entspannter. In akut oder absehbar lebensbedrohlichen Situationen kann ein Arzt bei nicht einwilligungsfähigen Kindern (ca. bis zum Alter von 14 Jahren) heute in der Regel ohne weiteres einen zeitweiligen Entzug des Sorgerechts erwirken, die ihn zu einer seiner fachmännischen Meinung nach notwendig werdenden Bluttransfusion berechtigt. Die Ansichten und Vorschläge der Eltern sind dabei allerdings vom Gericht gebührend zu berücksichtigen. Die meisten Eltern beugen sich den Anordnungen des Gerichts, und betrachten es als eine Unterordnung unter die Gesetze des "Cäsars"; zu dieser Haltung werden sie inzwischen auch von den Vertretern der Krankenhaus-Verbindungskomitees ermuntert. Meiner Erfahrung nach kann davon ausgehen, dass viele Eltern froh sind, wenn ihnen die Bürde der Entscheidung von einem weltlichen Gericht abgenommen wird.

Äußerst problematisch sind jedoch weiterhin Fälle, in denen einwilligungsfähige Minderjährigen (etwa ab einem Alter von 14 Jahren; die Einsichtsfähigkeit muss individuell ermittelt werden) zur Behandlung anstehen.

Bender führt dazu in seinem Artikel aus:

Mit der heutigen Meinung kommt es darauf an, ob der Minderjährige selbst in der Lage ist, Bedeutung und Risiken des Eingriffs sowie der Verweigerung einer u. U. lebensrettenden Bluttransfusion zu beurteilen. Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit ist stets eine individuelle Fähigkeit und keine an der abstrakten Religionsmündigkeit meßbare Größe. Geht es um die Ablehnung einer Bluttransfusion durch einen minderjährigen Zeugen Jehovas, so ist im Zweifel von dessen "Verweigerungsunfähigkeit" auszugehen, denn aufgrund der "Schulungen" seiner Eltern wird ihm häufig eine eigene Entscheidung nicht möglich sein. Es besteht die Gefahr, daß der Minderjährige das Erlernte nur formelhaft wiederholt. Jedenfalls sollte der Arzt das Gespräch mit dem Minderjährigen unter Ausschluß der Eltern führen.

Die WTG stellt weiterhin Jugendliche, die standhaft eine Bluttransfusion aus ihrer religiös begründeten Überzeugung heraus verweigert hatten, und von denen nicht wenige ihr Leben verloren haben, als leuchtende Vorbilder für heutige Jugendliche dar, z. B. im EW vom 22.5.1994, in dem es im Leitartikel hieß:

In alter Zeit waren Tausende von Jugendlichen bereit zu sterben, weil sie Gott den Vorrang gegeben haben. Heute ist es nicht anders, nur spielt sich das Drama in Krankenhäusern und Gerichtssälen ab - es geht um Bluttransfusionen.

Können Jugendliche, insbesondere jahrzehntelang indoktrinierte und auf die Blutdoktrin eingeschworene Jugendliche wirklich die Folgen ihren Entscheidung abschätzen? Können sie ohne die in zahlreichen Jahren gesammelten Erfahrung, wie sie ein Erwachsener hat, die Grundlage ihrer Überzeugung und ihrer Entscheidung wirklich unvoreingenommen prüfen und einschätzen? Dass dies Jugendlichen, die sich oft dazu noch in einem schwärmerischen Alter, insbesondere was religiöse Vorstellungen anbelangt, befinden, kaum abzuverlangen ist, dürfte den meisten klar sein. Die WTG-Gesellschaft muss sich also fragen lassen, ob sie solche Jugendliche nicht auf dem Altar eines falsch verstandenen Glaubensprüfung zu opfern bereit ist. Die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas sollte sich genau überlegen, ob sie diese vorgezeichneten Tragödien vor Gott und ihren Mitmenschen wirklich verantworten wollen und können.


letzte Aktualisierung: 15. 4. 2001
Web-Adresse: http://geocities.datacellar.net/athens/ithaca/6236/kinder.htm

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