Von der Kraft, die dem Kapitän der Fußballmannschaft
geblieben ist
Open space mit Menschen nach schwersten Verletzungen
Birgitt Bolton, ein Arbeitsbericht
Gestern erlebte ich aufs Neue tiefe Ehrfurcht »in open space«
durch die
schlichte Schönheit und die Kraft, durch all das, was passiert
war und
durch das Privileg, eine solche Arbeit überhaupt tun zu können.
Eine
Erfahrung, die ich mit all denen teilen möchte, die sich wie ich
im
»open space« bewegen.
Schon vor der Morgendämmerung brach ich auf, um mich einzustimmen
und
die einstündige Fahrt zum Veranstaltungsort zu schaffen. Dort
angekommen, betrat ich den Versammlungsraum mit dem großen Stuhlkreis,
dem Mikrophon in der Mitte und den erwartungsvoll aufgeregten
Gesichtern der Organisatoren. Ich selber fühlte mich ebenso
erwartungsvoll und aufgeregt. Aufgeregt weil ich mich fragte, ob ich
es
schaffen würde, einen »open space« am Morgen und einen
weiteren am
Abend von je fünf Stunden zu begleiten. Diese Dopplung war nötig,
um
den im Schichtdienst Arbeitenden und den Bedingungen der Einrichtung
Rechnung zu tragen. Wir erwarteten ungefähr 70 Personen bei jeder
der
beiden Veranstaltungen, und unsere Erwartung wurde im Laufe des Tages
nicht enttäuscht. Erwartungsvoll angespannt war ich, weil dieses
Treffen für eine Gruppe von Leuten, ihre Angehörigen und
einige
Mitarbeiter durchgeführt wurde, die eindeutig benachteiligt, behindert
und ohne viel Einfluß sind. Ich war fest davon überzeugt,
daß sie »open
space« in ihrem Sinne gut nutzen würden, daß sie ihren
eigenen Weg
durch die Anweisungen und Grundsätze finden würden, daß
sie sich nicht
durch das Gefühl von Benachteiligung daran hindern lassen würden,
sich
mit ihren ganz persönlichen Anliegen und ihrer Verantwortlichkeit
einzubringen.
Dies waren Frauen und Männer mit erworbenen Hirnverletzungen, aber
auch
Menschen, die sie in ihrem Leben begleiten. In den letzten Wochen hatte
ich einige von ihnen bei Interviews getroffen, um mich auf diesen Tag
und auf den Rest der Organisationstransformation vorzubereiten, die
wir
gemeinsam vorhatten. Menschen nach Ski-, Tauch- und Autounfällen,
die
Gehirnverletzungen sowie monatelanges Koma verursachten und jahrelange
Rehabilitation erforderten, um Laufen und Sprechen wieder zu lernen.
Und das oft sogar angesichts der Skepsis von Ärzten, die daran
nicht
glaubten. Einige schafften es, einige teilweise und einige gar nicht.
Menschen wie du und ich, außer daß plötzlich ein Unfall
ihr Leben
grundlegend änderte.
Jeder Fall von erworbener Hirnverletzung ist anders, aber bei fast
allen sind das Kurzzeitgedächtnis, die Eigenkontrolle und das
Gefühlsleben erheblich beeinträchtigt. Fast alle, die ich
getroffen
habe, sind unglaublich wach und sich völlig im Klaren über
ihren Unfall
und das, was sie verloren haben. Die eigene Trauer war tief, wenn ich
Geschichten hörte wie: »Sie hätten mich mal sehen sollen,
ich war ein
cheerleader«, oder: »Ich war der Kapitän der Fußballmannschaft.«
Auch
Geschichten über Freunde, die keine mehr waren, lange Wartezeiten
auf
Behandlung, und Tränen darüber, nicht mehr wie Mennschen
behandelt zu
werden.
Ich eröffnete die Veranstaltung in der gewohnten Art. Als ich die
Teilnehmer aufforderte, sich im Kreis umzusehen und sich gegenseitig
so
anzuschauen, als ob sie sich das erste Mal sehen würden, sich
die im
Raum vorhandene Weisheit zu vergegenwärtigen, da sah auch ich
hin---ich
sah die Weisheit in jedem der Gesichter, ich sah die Krücken und
die
Rollstühle, die verbogenen Arme, die nach innen gedrehten Beine---und
ich sah die unglaubliche Einzigartigkeit und Schönheit jedes Einzelnen
in der Runde. Und dann kamen mir meine Gefühle dazwischen, meine
Augen
und mein Herz wollten weinen über alles, was sie verloren hatten.
Und
ihre Qualen. Ich sparte mir diese Tränen für später
und machte mir
klar, daß ich die »heilige« Verantwortung hatte,
diesen Platz hier und
den Raum für sie zu schaffen und freizuhalten. Und genau das tat
ich.
Das Thema war die Zukunft der Organisation, durch die sie betreut
wurden.
Morgens wurden zweiundzwanzig und abends zweiunddreißig Anliegen
eingebracht. Menschen mit Gehirnverletzungen, Angehörige und
Mitarbeiter, alle waren Einberufer von Gruppen. Anfangs hatte ich
darauf hingewiesen, daß einige nicht schreiben oder lesen oder
einen
Bogen Papier nicht vom Fußboden aufheben können und daß
es wichtig ist,
von den Nachbarn unterstützt zu werden, wenn jemand selber etwas
nicht
kann. Hilfe entfaltete sich. Nur einer Frau ging es einmal schlecht.
Sie war neben mir in der Mitte des Kreises und dabei, ihr Anliegen
aufzuschreiben. Sie hatte gerade zwei Wörter notiert und dann
plötzlich
vergessen, wie man schreibt. Sie sah mich an und ihr Gesicht war voller
Entsetzen. Nach einem Augenblick der Verzweiflung sagte sie ohne
Zögern: »Ich kann nicht mehr schreiben.« Ich habe
mich runtergebeugt
und ihre Wörter aufgeschrieben--die hatten sich in ihrem Kopf
überstürzt--sie konnten einfach nicht über ihre Hände
nach außen
gelangen. Keiner scheute sich, sein Anliegen zu benennen. Ich habe
nicht in den Arbeitsablauf der Gruppen eingegriffen. Es gab das übliche
Chaos am Anschlagbrett. Führung wurde entwickelt, wie es
für »open
space« typisch ist. Die Gespräche waren fruchtbar. Strategien
wurden
erarbeitet. Die Gruppenergebnisse waren unglaublich und großartig.
Die
Gruppe war imstande, die zu diesem Zeitpunkt für die Organisation
richtigen Maßnahmen zu empfehlen.
Andere Einrichtungen hätten sicher ein ganzes Beraterteam für
Daten und
Empfehlungen bezahlt, die doch nicht annähernd so gut gewesen
wären.
Hier waren Betroffene mit Einblick und mit Sachkenntnis gefragt worden
und zwar durch ein Verfahren, daß es ihnen dann ermöglichte,
auch
selbst zu Empfehlungen zu kommen.
Sicher, man mußte mehr Geduld füreinander aufbringen als
sonst üblich,
wenn jemand mitten im Satz stockte, oder seinen Satz zum vierten Mal
wiederholte, weil er sich nicht daran erinnern konnte, ihn schon einmal
gesagt zu haben. Hinter all diesem waren aber ausgezeichnete Ideen.
Es gab einen größeren Stau als sonst an den Computern. Ich
mußte
besonders viel helfen, um Leute einzuweisen. (Diejenigen unter Euch,
die wissen, welche Computerphobie ich noch vor zwei Jahren hatte,
hätten ihre wahre Freude daran gehabt, wie ich als blutige Anfängerin
anderen Hinweise gab, die in mich ihr Vertrauen setzten. Komisch, wenn
mir jemand mit so viel Vertrauen begegnet, dann kann ich es meistens
auch, weil ich denjenigen ja nicht im Stich lassen kann.) Die gute
Nachricht war, daß wir länger brauchten, weil so viele der
Gehirngeschädigten darauf bestanden, die Ergebnisse der Gruppen,
die
sie selber angeleitet hatten, auch selber in die Rechner einzugeben.
Sie wollten den ganzen Prozeß in der Hand behalten. Sie waren
begeistert.
Ich hielt durch bis zum Nachhauseweg.
Ich wußte jetzt, daß es geht, zwei »open space«
Veranstaltungen an
einem Tag zu begleiten. Geweint habe ich auf dem Weg zurück. Es
waren
Tränen der Trauer, aber auch der Freude über das, was geschehen
war.
Wenn jemand jemals behauptet, »open space« sei nichts für
die
Ohnmächtigen oder die Scheuen oder für Situationen, in denen
Menschen
in einer Gruppe sind, in der auch diejenigen sind, die Macht über
sie
haben, dann werde ich ihnen diese Geschichte erzählen. Sie ist
für mich
eine der eindrucksvollsten Beispiele über Stärke, Weisheit,
Begeisterung und Verantwortung angesichts so vieler Hürden. Und
ich
werde ihnen von dem alten Mann im Rollstuhl erzählen, der in der
Abschlußrunde mit seinen verkrümmten Fingern das Mikrophon
umkrallte
und mit einer Stimme sprach, die kaum über ein Flüstern
hinauskam. Mit
glänzenden Augen, weil er es genossen hatte, weil man zum ersten
Mal in
zwanzig Jahren seine Einsichten respektiert hatte und dann flüsternd:
»Vielen Dank. Das war gut.« Und ich werde davon erzählen,
wie ein Mann
zum Schluß der Veranstaltung zu mir kam, auf die vier Grundsätze
zeigte
und sagte: »Die gefallen mir. Tolstoi hat das in seinen Büchern
versucht auszudrücken. Aber er hat es nicht ganz so gesagt.«
Ich mußte
ihn bitten, das zu wiederholen. Er erzählte mir, obgleich er jetzt
nicht mehr so lesen und sich sicherlich auch nicht mehr erinnern
konnte, wie er Tolstoi liebte. Und Tolstoi hatte drei große Fragen
ans
Leben. Und die vier Grundsätze beantworten diese Fragen. Ich erzählte
ihm, daß ein Mann namens Harrison Owen sie aufgeschrieben hat.
Er
fragte, ob Harrison denn jemals Tolstoi gelesen hätte. Ich meinte,
dies
sei wahrscheinlich. Ich mußte ihm Harrisons Namen sechs Mal vorsagen,
er wiederholte ihn jedesmal. Er wollte sich daran erinnern, um diesen
Namen dem eines anderen großen Mannes in seinem Gedächtnis
hinzuzufügen.
Mit Hochachtung vor der Veranstaltung und der einzigartigen Arbeit,
die
ich begleiten durfte.
Birgitt Bolton.
Übersetzt von Sabine Pannwitz und Michael M Pannwitz, die die deutsche
Version Birgitts Mutter widmen, die sich sicher freuen wird, eine
Geschichte von und über ihre Tochter in ihrer Muttersprache zu
lesen.
April 1998
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