200 kurze, fröhlich erzählte Geschichten enthält der

Schulzenhofer Kramkalender

von meinem ganz besonders geliebten Schriftsteller

Erwin Strittmatter.

Hier ist eine davon:

Die Brille

Großmutters Augen bekamen Mucken. Sie sahen die Stäubchen auf der Sonntagsbluse und die Nähnadellöcher nicht mehr. Wir Kinder fädelten ihr die Näh- und Stopfnadeln ein. „Ob ich mir eine Brille zulege?"

„Zum Schwatzen braucht man keine Brille!", sagte Großvater.

Eines Tages würzte Großmutter die Kohlrübensuppe statt mit Pfeffer mit Schießpulver, das Großvater für das Osterschießen im Küchenschrank aufbewahrte. Großvater spie, und die Kohlrübenstückchen flogen in der Stube umher. „Das Weib vergiftet mir!" Der Suppentopf flog zum Fenster hinaus.

Großmutters Brille wurde fällig. Großvater gab ihr eine abgelegte von sich. Die Brille passte nicht für Großmutters Augen. „Mir wird schwindelig", sagte sie.

„Freilich, freilich", sagte Großvater, „durch die Brille sieht man auch den Schwindel größer."

Großmutter wurde beleidigt. Sie fuhr mit der Post Onkel in die Kreisstadt und blieb eine Woche dort, und Großvater, der gern prozessierte, schrieb ihr eine Brief: „Hiermit fordere ich, der Endesunterfertigte, Dir auf, sofort hierselbst zurückzukehren, anderenfalls ich Mir in de Fall der Anklage versetze! Matthäus Kulka, Kossät." Und über das Briefblatt schrieb Großvater: „Letztmalige Aufforderung."

Großmutter kam mit einer Brille zurück. Große, runde Gläser saßen in einem vernickelten Gestell, rechts und links von Großmutters Punktnase. Großmutter sah aus wie ein Schleiereulchen und machte einen Rundgang durchs Dorf. Sie besuchte ihre Klatschkumpankas und besah sie sich durch die Brille. „Gott, Bertka, was bist du alt geworden, die Zeit, wo ich nicht hier war!"

Die Klatschbase besah sich Großmutter. „Der Herr steh mir bei, ein Zentner Brille und keine Nase!"

Großmutter kam recht unzufrieden von ihrem Rundgang zurück. „Wie alt und runzelig sie alle schon sind, und unsereins immer fidel und jung, fast eine Schande!" Sie besah sich mit der neuen Brille im Spiegel und wurde still; sie drehte sich und besah sich von der Seite und wurde noch stiller.

„Amen!" sagte Großvater.

Da tat Großmutter die Brille herunter und setzte sie fortan nur beim Strümpfestopfen und beim Essenzubereiten auf.

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