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Deutschsprachige CD-Besprechungen von Robert Stubenrauch (rstubenr@iicm.edu)
Harmolodic/Verve, Juli 1996
Das Werk in Form von zwei separaten CDs nennt sich "Sound Museum" mit den Untertiteln "Three Women" und "Hidden Man" und bezieht sich konzeptuell auf die Idee eines Bilder-Museums, was durch entsprechende Covergestaltung unterstützt wird. Das Material der CDs spannt einen Bogen über die letzten 30 Jahre von Colemans Schaffen. Hauptsächlich sind es Stücke, die man in verschiedensten Varianten von Prime Time schon gehörte hat, jedoch befinden sich auch alte Hits im Repertoire, wie der Walzer "European Echoes", erstmals aufgenommen 1965. Eine Gospelvariation läßt aufhorchen ("What A Friend We Have in Jesus"), eine Vokalnummer dagegen eher weghorchen. Triefend vor Emotion - nein, nicht von Coleman gesungen - rüttelt sie einen hoch und läßt einen Augenblick an einen Fehler des CD-Wechslers denken.
Diese Produktion bietet in mehrfacher Hinsicht Besonderheiten: Es ist die erste akustische Aufnahmen seit fast 10 Jahren, und es ist im wesentlichen die erste Aufnahme mit einem Pianisten seit 1958, ganz am Beginn seiner auf Tonträgern dokumentierten musikalischen Tätigkeit. Geri Allen ist die ideale Partnerin: sensibel und schnell reagierend, immer im Hintergrund - aus dem sich nur Coleman ständig abhebt - und doch stets präsent. Sie vermag den Schattierungen der Coleman'schen Tonkunst noch weitere Nuancen hinzuzufügen, ohne sich in den Vordergrund spielen zu müssen. Soli im herkömmlichen Sinn gibt es in dieser Musik sowieso keine, genauso wenig wie "Begleitung". Auch der Bassist ist neu in der Band, wenn auch kein Unbekannter: Charnett Moffett, Sohn des Charles Moffett, Schlagzeuger in Colemans Trio Mitte der 60-er Jahre. Moffett spielt - in auffallendem Gegensatz zu Coleman seinerzeitigem Bassisten Charlie Haden - gerne sehr viele schwirrende Töne, setzt öfters auch wuchtig-krachende Akzente und greift häufig zum Bogen.
Dieses Quartett ist also mit hochkarätigen Solisten besetzt, was man von der momentanen Besetzung der Prime Time nicht sagen kann. Sogar Denardo Coleman, der seit seinem Drum-Debut als 10-jähriger in seines Vaters Band regelmäßig als Anti-Drummer verhöhnt wird, spielt variantenreich, und scheint seine Kritiker endgültig in die Schranken weisen zu wollen. Ja, oft ist tatsächlich so etwas wie abstrakter Swing oder Puls zu spüren, der sich am musikalischen Geschehen der Anderen orientiert.
Die Aufnahmen sind kurz, im Schnitt um die 3 Minuten. Faszinierend, zu welch intensiver Dichte sich die Klanggebäude in so kurzer Zeit auftürmen können. Nicht langsame Entwicklung und Steigerung ist das Ziel, sondern das rasche Abgeben der überbordenden musikalischen Energie soll Befreiung bringen, so scheint es. Die Gruppe ist äußert homogen, und geradezu nachtwandlerisch die Kommunikation, vor allem zwischen Allen und Moffett. Die "Rhythmusgruppe" - eine gänzlich ungeeignete Bezeichnung für dieses Trio - ist eine wirkliche Einheit; sein Bandbreite reicht von freien impressionistischen Klanggemälden bis zu swingenden Passagen. Ornette schwingt sich - fast möchte man sagen unabhängig davon - darüber auf; er spielt die Melodien, die einen wie eh und je unweigerlich in ihren Bann ziehen mit ihrer phantastischen Einfachkeit. Sein Ton ist voller als zuletzt, er wirkt in allen Phasen konzentriert - in hektischen Klangkaskaden ebenso wie in den klagenden blues-getränkten Balladen.
Wodurch unterscheiden sich nun die beiden CDs? Könnte man die eine gegenüber der anderen hervorheben? Nein, sie sind gleichwertig und gehören zusammen. Die Tatsache, daß beide CDs praktisch die gleichen Kompositionen enthalten ist irrelevant. Man widersteht leicht derVersuchung, einzelne Versionen einem direkten Vergleich auszusetzen; denn wer in Colemans Musik eintaucht, für den existieren alle Melodien gleichzeitg in allen möglichen Varianten. So ähnlich muß es auch gemeint sein, wenn Coleman in den Liner Notes wieder einmal versucht, sein harmolodisches Konzept zu erklären: "Angewandte Harmolodik wird - wo eine Antwort oder ein Konzept eine Meinung ist - die gleiche Beziehung zu allen Informationen erlauben". Zum Glück muß man das nicht verstanden haben, um die Musik wirken zu lassen.
Mit dieser Gruppe schafft Coleman noch einmal den Rahmen für jenen zeitlos rauschhaften Zustand, wie man ihn beim Hören der frühen Prime Time Aufnahmen oder des Doppelquartetts Anfang der 70-er Jahre erfahren kann. Für Ornette Colemans ein Meilenstein und für den Jazz Aufnahmen von bleibender Gültigkeit.
PS: Übrigens gibt Coleman diesen Sommer zwei Duo-Konzerte mit dem deutschen Pianisten Joachim Kühn, der kürzlich zu Colemans Label Verve übergewechselt ist. Offenbar ist Ornettes Lust auf Piano noch nicht gestillt!
Robert Stubenrauch, August 1996
Eine Fülle von CDs von und mit Ornette Coleman schließt endlich die Lücken, die jahrelang das vielfältige Schaffen Colemans in den 70-er Jahren schwer nachvollziehbar gemacht haben. Die Platten waren nur noch nach langem Suchen und zu Sammlerpreisen erhältlich.
Auf seinem "Harmolodic" Label hat Ornette Coleman nun wieder die Möglichkeit, nach eigenem Gutdünken eigene und von ihm empfohlene Musik anderer herauszubringen. Neben eigenen aktuellen CDs ("Tone Dialing" mit Prime Time im Herbst 1995, "Sound Museum" mit einem akustischen Quartett ganz aktuell) nutzt er die Gelegenheit, um zwei klassische Aufnahmen aus den 70-er Jahren, erstmals auf CD aufzulegen. Die Aufnahmen sind - ebenso wie Ulmers "Tales of Captain Black" - ursprünglich auf dem kurzlebigen Edel-Label "Artists House" erschienen. Coleman besitzt selbst die Rechte an den meisten seiner Aufnahmen und so ist zu hoffen, daß in naher Zukunft noch einiges davon zum Vorschein kommen werden.
PS: Für die Glücklichen, die die Original-Ausgaben besitzen: Nein, leider enthalten die CDs keine zusätzlichen "Bonus Tracks".
Robert Stubenrauch, August 1996
Die erste Veröffentlichung der elektrischen Prime Time, in
der ursprünglichen Star-Besetzung mit Jamaaladeen Tacuma
(Bass), Ronald Shannon Jackson (Schlagzeug) und den Gitarristen
Bern Nix und Charles Ellerbee. Im Gegensatz zum - bei der
gleichen Session aufgenommenen - "Dancing in Your Head", wo eine
Nummer fast die ganze Platte füllte, liegen hier fünf eher kurze
und variantenreiche Stücke vor, u.a. eine "elektrifizierte"
Version des Walzer-Klassikers "European Echoes". Man muß
sich auf diese Dichte einlassen - phantastisch, psychedelisch!
Herrliche Duos mit dem langjährigen Bassisten Charlie
Haden. Coleman spielt nicht sein Stamm-Instrument Alt-Sax, sondern
ausschließlich Tenor-Sax und Trompete. Schöne Melodien,
sensible Improvisation. Zwei Meister, die einander viel zu sagen haben -
wir hören gerne zu!
DIW. Aufgenommen Dezember 1978
Eine der ganz wenigen Aufnahmen mit Ornette Colemen als Sideman. Ulmer spielte insgesamt fast 10 Jahre mit Coleman; dies ist die einzige veröffentlichte Aufnahme dieser Partnerschaft. Denardo Coleman am Schlagzeug und Jamaaladeen Tacuma sorgen für den "schrägen" Hintergrund. Alle Stücke sind von Ulmer; sie zeigen den großen Einfluß des harmolodischen Prinzips von Lehrer Coleman, sind jedoch eigenständige Werke. Ein bißchen von Freejazz, Funk und Blues, und Melodien, die im Ohr bleiben. Dieses (seinerzeitige) Plattendebut des späteren Blues- und Funkmeisters ist ein Juwel, das sich kaum einordnen läßt.
Jazz Door. Aufgenommen November 1971
Diese Bootleg-Aufnahme des Ornette Coleman Quartett (Dewey Redman: Tenor-Sax und Musette; Charlie Haden Bass, Ed Blackwelll: Schlagzeug) der frühen 70-er Jahre ist die beste ihrer Art bisher. Die Tonqualität ist im Hinblick auf die Umstände perfekt. Musikalisch bringt die CD nichts Neues - die Kompositionen sind bekannt, solistische Leistungen (z.B. Hadens langes Solo auf seinem "Song For Che") und Gruppenintegration auf dem für diese perfekt eingespielte Gruppe üblichen hohen Niveau. Da aus dieser Schaffensperiode und mit dieser Gruppe keine "offiziellen" Veröffentlichungen vorliegen, ist der Ornette Coleman Fan leider auf derartige "Schwarzware" angewiesen.
Ornette Coleman: as, tp, v
Joachim Kühn: p
Live aufgenommen am 31.8.1996 in der Leipziger Oper
Ornette Coleman hat das Material für diese musikalische Begegnung (die sich zuvor nur noch in Verona und danach heuer in Paris ereignet hat) eigens neu komponiert, so kann man lesen. Wer aber neuartige, vielleicht überraschende musikalischen Strukturen erwartet hat, verkennt Coleman. Seit eh und je variiert er - ganz im Sinne seiner harmolodischen Theorie - eher das "Environment", die Szenerie, in die er seine musikalischen Äußerungen stellt, als diese Äußerungen selbst. Längst sind die Elemente seines Sound-Kosmos fertig entwickelt; durch die Wechselwirkung mit anderen Welten werden sie allerdings gelegentlich in neue Umlaufbahnen gestoßen. Und das tun sie hier, wie auch in den letzten Coleman-Produktionen, ganz ordentlich.
So ist die Überraschung dieser Einspielung natürlich die Wahl des Duo-Partners: Joachim Kühn ist einer, der schwer in Ornettes Welt paßt, so könnte man meinen. Pianist zu sein allein ist ja seit Colemans Arbeit mit Geri Allen kein Argument mehr gegen eine Zusammenarbeit mit ihm. Kühn aber ist ein hörbar klassisch ausgebildeter Pianist mit sehr europäischem Touch, bei aller Intensität und Spontaneität doch immer sehr kontrolliert, abstrakt. Nicht einmal in rhythmisch intensiven Phasen, bei denen sich der Gedanke an Gospel aufdrängt, gibt es dieses ekstatische "Abheben", das man sich in diesem Zusammenhang erwarten - und wünschen - könnte. Zuweilen denkt man: Wie würde Jarrett das spielen! Tatsächlich geht das Gerücht um, Ornettes Wunschpianist für ein New Yorker Konzert unlängst wäre Jarrett gewesen, was dieser - jedenfalls aus gesundheitlichen Gründen - ablehnen mußte. Aber zurück zur Realität: Kühn ist am besten in den romantischen, impressiontischen - eben europäischen - Ausflügen, zu denen er hier reichlich Gelegenheit hat - auch solo.
In für Coleman typischer Weise wechseln hektisch-intensive Nummern mit wunderschön schmachtenden Melodien, die etwas archetypische Einfaches an sich haben. Immer wieder blitzen in den "Neukompositionen" bekannte Elemente aus fast allen früheren Schaffensperioden auf. Colemans Musik ist ein immer wieder neu gelegtes Mosaik aus den gleichen Bausteinen. Das betrifft sowohl die komponierten - so singbaren - "Melodien" als auch die Improvisationen. Wenn dann aus dieser vertrauten Welt der unkonventionellen Harmonie Tonfolgen an Bizarrheit oder Schönheit noch herausragen sind es wirklich große Momente. Selten seit Colemans Trio in den 60-er Jahren und den Duos mit Charlie Haden hatte man Gelegenheit, seine Improvisationen so klar und pur zu verfolgen.
Coleman ist von den heute noch wirkenden Schöpfern des Freejazz der frischeste; er vereint persönliche Integrität mit zeitgemäßer Kreativität und ist in diesem Sinne ein wirklicher Künstler. Die Bandbreite seiner Aktivitäten der letzten Jahre ist erstaunlich und endlich scheint in seiner Person die Intergation von breiter Anerkennung und kompromißloser Kreativität Realität zu werden. Während andere glauben, den "Jazz" in Ehre retten zu müssen, indem sie dessen halbe Geschichte konserviert präsentieren, wandelt Coleman in faszinierender Konsequenz entlang eines Weges, den nur er sich selbst vorgibt. Manche Teile dieses Weg beschritt er schon mehrmals und manche mögen sie dann für ausgetreten gehalten haben, aber in den letzten Jahren wurde der Weg durch das Einmünden verschiedenster Seitengäßchen geradezu dramatisch breiter. Wir erwarten mit Spannung den nächsten Einblick, der uns gewährt wird.
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