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erschienen in Jazz Live Nr.109/1995 (Nov 95)
Er ist zweifellos eine der interessantesten und wichtigsten Figuren des Jazz. Obwohl er jahrelang um Anerkennung und manchmal auch ums nackte Überleben kämpfen mußte ist er seinen, einmal eingeschlagenen Weg konsequent weitergegangen. Die Rede ist vom Saxophonisten und, eine Bezeichnung, die ihm persönlich lieber ist, Komponisten Ornette Coleman.
Vor mehr als fünfunddreißig Jahren tauchte er auf der Jazzszene auf und hat diese, gewollt oder ungewollt, radikal verändert. Von den Kritikern als Scharlatan abgetan oder einfach negiert, spielte Coleman immer "seine" Musik. Dies war oft genug mit Schwierigkeiten verbunden. Nach seiner Weigerung in Jazzclubs aufzutreten wurden seine, ohnehin nicht sehr zahlreichen Engagements noch weniger. Anfang der sechziger Jahre konnte Coleman zwar zahlreiche Aufnahmen machen (Atlantic, Blue Note), die sich aber mehr schlecht als recht verkauften.
Umso interessanter ist deshalb die Feststellung, daß in letzter Zeit Ornette Coleman "wiederentdeckt" wird. Atlantic brachte seine Complete Recordings auf den Markt. Junge Musiker bezeichnen ihn als jenen Mann, der schon immer ihr Vorbild war und zu guter Letzt bekam er auch noch einen Aufnahmevertrag bei einer Major Firma. Ornettes Label "Harmolodics" ist im Vertrieb der Polygram. Wie sieht der Saxophonist selbst die Zusammenarbeit mit Polygram und was steckt hinter dem Label "Harmolodics" und dem gesamten harmolodischen System?
Dazu möchte ich eine Geschichte erzählen, die ich erlebt habe: 1962 wurde ich von den Kritikern förmlich zerrissen. Jeder war der Meinung ich könnte nicht spielen. Meine Aufnahmen wurden als "unhörbar" bezeichnet. Deshalb beschloß ich meine Karriere selbst in die Hand zu nehmen. Ich hatte damals 2000 $ und damit mietete ich die Town Hall. Ich schrieb Musik für ein Trio mit Charles Moffett und David Izenzon und für Streichquartett. Das Konzert fand am 21. Dezember 1962 statt. An diesem Abend gab es einen Schneesturm, einen U-Bahn Streik, einen Streik der Taxifahrer und Zeitungen erschienen auch keine. Das Leben der ganzen Stadt war lahm gelegt. Und der Typ der das Konzert aufnahm beging Selbstmord. Ich hatte alles versucht und es ging schief, aber ich konnte trotzdem niemanden zur Verantwortung ziehen. An diesem Scheitern hatte niemand schuld. Es war einfach höhere Gewalt.
Ich hatte noch andere negative Erlebnisse was meine Musik oder meine Karriere betraf, zum Beispiel mit Plattenfirmen, Managern oder Konzertveranstaltern. Irgendwann beschloß ich dann Denardo zu meinem Manager zu machen. Denardo hatte das Glück an die Sache wesentlich unbefangener heranzugehen als ich. Denardo ist auch verantwortlich, daß ich heute hier sitze.
Wenn du etwas so radikal machst, wie ich das tue, dann erschien das vielen Leuten seltsam und sie halten dich für verrückt. Nun, ich bin weder verrückt oder seltsam, ich hinterfrage manche Sachen eben.
Um es kurz zu machen - ich hatte bis jetzt nicht das Glück eine Umgebung zu finden die mich beschützte und mir Sicherheit gab. Oder mir einfach die Möglichkeit gab zu arbeiten. Ich meine das jetzt in Bezug auf Plattenfirmen, Veranstalter usw. Zur Zeit ist es so, daß mir die Leute bei Polygram all diese Möglichkeiten bieten. Ich hatte bis jetzt noch kein einziges Problem mit dieser Firma.
Denardo, der auch mein Manager und Produzent der neuen CD ist, und ich wollen das harmolodische System in meiner Band weiterentwickeln. Das passiert auch auf der neuen CD. Wir haben beschlossen verschiedene Stile zu verbinden und das harmolodische System auf dieses Stile anzuwenden, damit der Zuhörer einen tieferen Einblick in dieses System bekommt. Es ist etwas anderes als Jazz, das muß man schon dazusagen. Ein gutes Beispiel um "Harmolodics" zu erklären, ist die Sprache. Nimm das englische "the". Im Deutschen kann ich dazu "die" sagen. Zwei verschiedene Wörter, mit denen ich aber dasselbe meine und sagen kann, obwohl sie aus zwei verschiedenen Sprachen kommen. Das ist "Harmolodics". Das harmolodische System bezieht sich also nicht nur auf Musik. Es geht auch darum, daß Wissen und Intelligenz so angewendet wird, daß es jemanden ermöglicht wird, sich in jeder Umgebung selbst auszudrücken.
Ich wäre sehr daran interessiert und wir sollten alle versuchen, daß in unserer Welt endlich eine höhere Kultivierung eintritt. Weg mit der Rassenfrage oder der Diskussion um das Klassenwesen usw.
Ich glaube aber, daß "Harmolodics" kein neuer Schritt in meiner Entwicklung ist. Es ist vielmehr eine Verbindung aller wesentlichen Dinge, die ich im Laufe der Zeit erfahren und gemacht habe. Ich versuche diese Dinge in Musik umzusetzen. Ich arbeite seit mehr als dreißig Jahren am harmolodischen Konzept. Es ist also nicht neu. Das einzig Neue ist meine Zusammenarbeit mit Polygram. Mein Interesse und meine Arbeit erfahren lediglich eine Fortführung.
Als wir das Konzept für die neue CD festlegten, wählten wir Musik aus verschiedenen Bereichen - Klassik, Jazz, Pop, Folk. Also alle möglichen Stile. Was wir dann gemacht haben, war der Versuch den "Schatten" des Stils zu entfernen, quasi die Musik aus ihrer Einengung, den sie durch die Zuordnung zu einem bestimmten Stil erhält, zu befreien. Die Musik soll dadurch eine breitere, größere Wirkung haben.
Für mich spielte Rhythmus immer eine sehr große Rolle. Ich habe mit jedem großen Schlagzeuger der letzten zwanzig, dreißig Jahren gespielt. Keiner konnte "Harmolodic Rhythm" so spielen, wie ich mir das vorstelle. Sie können alle "Time " spielen. "Rhythm" und "Time" und "Harmolodic" sind verschiedene Dinge. Nicht nur das, wenn du dir ethnische Rhythmen anhörst, wirst du feststellen, daß die Musiker die Rhythmen als Sprache benutzen. Das Schlagzeug im amerikanischen Jazz wurde immer dazu benutzt um zu "swingen". Dadurch sind die Schlagzeuger aber sehr beschränkt. Sie können annähernd das spielen was die Vorstellung hinter dem Ganzen ist. aber sie können dieser Vorstellung nicht gleichkommen. Ich kenne niemanden der das besser könnte als Denardo.
Nimm eine Rock'n'Roll oder eine Hiphop oder eine Tanzband her. Wenn der Drummer der Band mit seinem Equipment ins Lokal kommt, sagen die Leute: "Da kommt die Band". Der Schlagzeuger ist verantwortlich, daß er die Band zusammenhält. Er gibt die Time an, den Beat. Um harmolodisch zu spielen mußt du aber die Idee, die gespielt wird auch auf dem Drums umsetzen können, darfst aber dabei den Rhythmus nicht verlieren. Es ist nicht leicht das zu machen. Vielleicht auch nicht leicht zu verstehen.
"Harmolodics" ist also nicht mit Jazz gleichzusetzen. Bleibt die Schlußfolgerung, daß Ornette Coleman keinen Jazz spielt. Und doch war er verantwortlich, daß ein ganzer Jazzstil den Namen "Free Jazz" trug. Wie steht er heute zu diesem Begriff?
In den Sechzigern spielten viele Musiker eine Musik, die man als "Free Jazz" bezeichnete und für diese Musik war die Bezeichnung schon in Ordnung. Eine meiner Platten war ja für die Namensgebung verantwortlich. Doch habe ich auch damals schon harmolodisch gespielt. Die Platte wurde halt einfach "Free Jazz" betitelt. Der einzige Einfluß auf meine Musik ist das harmolodische System wahrscheinlich nicht. Einige Musiker die bei der Aufnahme von "Free Jazz" dabei waren, hatten keine Beziehung zum harmolodischen System. Obwohl das Ergebnis harmolodisch ist, gab es also zwangsläufig auch andere Einflüsse.
Der Ausdruck "Free Jazz stört mich nicht wirklich. Wenn man den Terminus "Free Jazz" frei, offen und ehrlich dazu benutzt, um etwas zu beschreiben, etwas anzuerkennen oder etwas zu erreichen, dann hat dieser Begriff seine volle Berechtigung. Ich würde sagen, daß Free Jazz sehr wohl eine Bezeichnung für Musik sein kann. Es gibt Musiker, die meiner Meinung nach Free Jazz spielen und das ist auch ihr gutes Recht.
Ich war immer sehr analytisch, bei dem was ich gemacht habe. Ich muß aber sagen, daß jeder, der mit mir spielt das Recht hat, er selbst zu sein.Dasist ein Prinzip der harmolodischen Philosophie. Nominell mag ich der Leader meiner Gruppen sein, in Wirklichkeit liefere ich nur Informationen, mit denen die anderen Musiker arbeiten können als wären sie ihre eigenen. Wenn man will, dann bin ich derjenige, der verschiedene Richtungen aufzeigt, in die sich die Msuik bewegen könnte.
Zur Zeit arbeite ich mit meiner Prime Time Band, die aus Klassischer Gitarre, Leadgitarre, Baßgitarre, Klavier, indischer Perkussion, Altsaxophon und Schlagzeug besteht. Und diese Band spielt genauso frei wie all die Bands die ich davor hatte, aber es ist harmolodisch.
Zur Etikettierung von Musik kann ich nur allgemein sagen: Ich habe nie daran gedacht, Jazz oder Bebop zu spielen. Ich wollte immer nur MUSIK spielen. Jazz - dieses Wort, diese Bezeichnung ist einfach zu begrenzt. Außerdem hat es immer noch diesen Hauch von Rassismus. Klassische Musik ist die Musik der Weißen. Jazz ist schwarz.
Der Free Jazz der sechziger Jahre war zum Teil auch eine sehr politische Musik. Viele Musiker waren in politischen Bewegungen aktiv. Danach war es in der Musik lange Zeit ruhig, was politische Inhalte betraf. In den Siebzigern und Anfang der achtziger Jahre herrschte unter den etablierten Jazzmusikern, von einigen Ausnahmen abgesehen, ein gewisses "Sicherheitsdenken" vor. Nur ja nirgends anecken hieß die Devise. Erst mit Aufkommen des Hiphop änderte sich das Bild wieder. Es gibt nicht wenige, die die Meinung vertreten, daß Hiphop im politischen Bereich dort fortsetzt, wo der Free Jazz der sechziger Jahre angefangen hat.
Nun ja, natürlich gibt es politische Musik. Aber wenn du Musik betrachtest, mußt du auch das Umfeld betrachten, in dem diese Musik entsteht. Nimm nur einmal die klassische Musik her. Ein weißer Musiker der Klassik spielt braucht sich um Politik nicht zu kümmern. Für ihn ist das keine Notwendigkeit. Das heißt jetzt nicht, daß dieser Musiker kein politischer Mensch sein kann, aber er muß nicht täglich ums nackte Überleben kämpfen. Und die Musik die er spielt ist sowieso unpolitisch. Aber durch das "nicht kämpfen müssen" tritt ein anderes Problem auf. Diese Musik stagniert, sie lebt nicht. Ich meine, da spielt einer seit dreißig Jahren diese Musik, die vielleicht vor einigen hundert Jahren geschrieben wurde, und dann braucht er noch immer sein Notenblatt dazu... Aber für diese Musik gelten eben andere Kriterien, andere Qualitätsansprüche. Klassische Musik wird akzeptiert. Das ist halt so.
Wenn jemand Free Jazz oder Hiphop macht, dann will er doch dadurch etwas verändern. Er sieht in der Musik die einzige Chance um etwas ändern zu können und sei es auch nur in Bezug auf seine Person. Der Großteil dieser Typen leben auf der Straße. Mit ihrer Musik können sie vielleicht überleben. Dazu benützen sie eine eigene Sprache - Streetlanguage. Es hat sich daraus eine eigene Kultur gebildet. Vor allem in den riesigen Städten Amerikas. Und es geht immer nur ums Überleben. Möglicherweise fangen solche Dinge ganz unpolitisch an. Aber irgendwann werden sie politisch - keine Frage.
1972 schrieb ich ein Gedicht - Sience Fiction. Es hat das selbe Format, daß ich auch für ein Gedicht auf meiner neuen CD verwendet habe. Der Unterschied: damals wurde das Gedicht von einem Mann gelesen, jetzt von einer Frau. Man könnte also sagen, ich habe bereits 1972 Rap ähnliche Dinge gemacht. Ich will damit aber nicht sagen: "Schaut her, auch ich verwende Hiphop!", ich will einfach mein harmolodisches Konzept auch auf dieses Idiom ausweiten.
Wenn du schwarz bist und du willst kreativ etwas ausdrücken, gibt es für dich keinen Qualitätsstandart in der Gesellschaft in der du lebst. Also versuchst du zu rebellieren, denn du denkst dir, daß dir die Rebellion diese Türen öffnet. Und plötzlich bist du eine politische Person.
Irgendwie trifft das auch auf mich zu. Ich habe sicher nicht politisch motiviert angefangen, das war nicht meine Intention. Ich habe angefangen Musik zu machen und das mache ich noch immer. Aber ich mußte sehr oft und sehr hart darum kämpfen, wenn es um elementare Dinge des Lebens ging, wie zum Beispiel essen oder wohnen. Jemand der diesen Druck nicht hat, versucht auch nicht die Gesellschaft zu verändern. Das wollte ich zum Ausdruck bringen, als ich über die (weißen) klassischen Musiker sprach. Das was sie spielen ist nicht ihre Musik, sind nicht sie selbst aber sie halten sich an die Bedingungen. Die Bedingung (fast) jeden Abend dasselbe zu spielen ist stärker als der Wille vielleicht etwas eigenes zu machen. Doch sie haben es ja auch gar nicht nötig etwas eigenes auf die Beine zu stellen. Sicher, John Cage geht da in eine andere Richtung. Aber das was er macht ist nicht politisch.
Leider wird die Welt immer noch vom Standpunkt des Geldes aus regiert. Wenn wir alle am höchsten Stand der Zivilisation wären, dann könnten wir gemeinsam versuchen eine andere Ebene zu erreichen. Aber wenn ich jetzt von euch verlange, das zu tun, was ich will, dann wirst du dich nicht weiterentwickeln, keine höhere Ebene erreichen. Du bist von mir gesteuert.
Natürlich kann Kunst in den verschiedensten politischen Systemen existieren. Sie kann aber nicht existieren, wenn nur der Weg gültig ist, den die jeweilige Regierung vorschlägt. Es müssen verschieden Wege Gültigkeit haben, es muß also verschiedene Möglichkeiten geben, sich auszudrücken. Vor allem muß es möglich sein, dabei eine bestimmte Qualität zu erreichen. Doch dieses Qualitätskriterium ist in der westlichen Welt sehr rassenabhängig.