Homo oeconomicus nennen die Wissenschaftler den rationalen Menschen, der nur den eigenen Interessen folgt. Er ist die Grundlage aller Lehrsätze. Jetzt wird klar: Die Ökonomen haben sich getäuscht. Der Mensch ist anders
Mediziner befreiten die Menschheit von Pocken und Pest. Ingenieure erfanden den Kühlschrank und das Auto. Und die Ökonomen? In komplizierten Modellen formulieren sie Gesetze, nach denen die Wirtschart funktioniert. Kluge Köpfe, denkt man. Dann stürzt Asien in die Krise. Erleben die USA den längsten Aufschwung ihrer Geschichte. Fällt der Büro immer tiefer. Und kaum ein Wirtschaftswissenschaftler hat es kommen sehen. ,Wir erleben den ständigen Irrtum", sagt der Grazer Ökonom Heinz Kurz über seine eigene Profession. Die Wirklichkeit hält sich oft nicht an die ökonomischen Lehrsätze. Wie aber soll sich die Politik dann auf die Empfehlungen der Ökonomen verlassen?
Kein Wunder, dass die Wirtschaftswissenschaft in Bewegung gerät. Als wollten sie ihre Disziplin neu erfinden, beschließen immer mehr Ökonomen von vorne anzufangen: bei den Grundlagen. An zahlreichen Universitäten vor allem im deutschsprachigen Raum entstanden in den vergangenen Jahren Labors, Lehrstühle, Forschungsprojekte und Sonderfor-schungsbereiche. In Bonn, Berlin, Bielefeld, Magdeburg, Mannheim oder Zürich arbeiten seitdem Wissenschaftler, die auch Ökonomen sind, aber andere als die meisten ihrer Kollegen. Sie nennen sich experimentelle Wirtschafisfor-scher.
Zum Beispiel Ernst Fehr, Professor an der Universitär Zürich. Aussagen über die Weltwirtschaft darf man von ihm nicht verlangen. „Damit beschäftige ich mich nicht." Statt der großen Fragen interessieren ihn die kleinen. Wie honoriert ein Unternehmer die Leistungen seiner Angestellten? Dreht er einem Kunden schlechte Qualität an, wenn der es nicht merkt? Die Antworten geben experimentelle Wirtschaftsforscher wie Fehr, indem sie die entsprechenden Situationen im Labor simulieren. Es sieht ganz danach aus, als hätten sie so einen Grund für die Unzulänglichkeit der Wirtschaftswissenschaft gefunden. Einen Grund, der banal klingt, und rundamental ist: Die traditionelle Ökonomie hat sich im Menschen getäuscht.
Ökonomische Größen wie Zinsen, Löhne oder Geldmengen bewegen sich nur in zwei Richtungen: nach oben oder nach unten. Weil es aber Menschen sind, die Geld ausgeben und Gehälter beziehen, müssen sich Ökonomen nicht nur mit Zahlen befassen, sondern auch mit Menschen und damit, was Menschen antreibt, wie sich Menschen verhalten und wonach Menschen streben. Als hätten sie Angst gehabt, ob dieser Fragen gar nicht erst zu Zinsen und Löhnen vorzudringen, haben die traditionellen Ökonomen es vorgezogen, sie alle auf einen Schlag zu beantworten. Indem sie eine Annahme trafen. Am Anfang war plötzlich nicht mehr der Mensch, sondern ein theoretisches Kon-strukt, der so genannte Homo oeconomicus -die Grundlage der traditionellen Ökonomie.
Der Homo oeconomicus bewegt sich immer nur in eine Richtung: nach oben. Sein Ziel ist, mehr zu bekommen; mehr Geld, mehr Profit, mehr Lohn. Er folgt nur einem Interesse, dem eigenen, und er ist nicht nur ein kluger Kopf, sondern auch ein kühler. Ein Gedankenspiel als Beispiel: Ein Wohltäter trifft zwei Männer. Einem der beiden überreicht er 100 Mark mit dem Auftrag, sie nach Belieben aufsich und den zweiten Mann aufzuteilen. Dieser hat zwei Möglichkeiten: Er nimmt das Angebot des ersten an, oder er lehnt ab. Dann aber, so die Spielregel, nimmt der Wohltäter die 100 Mark wieder an sich, und keiner bekommt etwas.
Was wird der erste Mann tun? Wie viel Geld wird er an den zweiten abgeben, und wird dieser annehmen oder ablehnen? Schwere Fragen, die zu simplen werden, wenn man davon ausgeht, bei jedem der beiden Männer handle es sich um einen Homo oeconomicus. Dann nämlich wird der erste Mann 99 Mark für sich behalten und nur eine Mark an den zweiten weitergeben, der das akzeptiert. Dass der andere offenbar ein Geizhals ist, ist ihm egal, eine Mark ist immer noch besser als gar keine.
Nimmt man an, alle Menschen verhielten sich so, wird die Ökonomie plötzlich einfach. Klarheit entsteht. Es lässt srch vorhersehen, wann Unternehmen Arbeitskräfte einsteilen und wann sie welche endassen. Wann die Leute Autos kaufen und wann nicht, ökonomische Gesetze lassen sich formulieren. Zum Beispiel, dass die Höhe der Arbeitslosigkeit von der Höhe des Lohnes abhängt oder dass eine Firma den Preis senken muss, um mehr Produkte abzusetzen. Prognosen lassen sich erstellen.
Außenseiter der Disziplin formulierten immer wieder ihr Unbehagen mit dem strikten Konstrukt des Homo oeconomicus. Der Nobelpreisträger Amanya Sen sagte, es gehe gar nicht darum, das Eigeninteresse als eine menschliche Motivation zu leugnen, solange man nur akzeptiere, dass es auch noch andere Antriebskräfte gebe. Den Mainstream hat solche Kritik selten gestört. „Man hatte sich an den Homo oeconomicus gewöhnt", sagt der Bonner Ökonom und Nobelpreisträger Reinhard Selten - einer der Väter der experimentellen Wirtschaftsforschung und einer der ersten, deren Arbeit für Aurruhr sorgte. Ihm folgten Wissenschaftler wie der Zürcher Ernst Fehr.
Fehr nimmt für seine Experimente gerne Soldaten. Weil die in der Schweiz, wo auch erwachsene und berufstätige Männer regelmäßig in die Uniform schlüpfen, aus allen Schichten und Altersgruppen kommen. Damit sie sich im Experiment nicht anders verhalten als im Alltag, geht es um echtes Geld, das Fehr seinem Budget entnimmt. Zum Beispiel beim so genannten Ultimatumspiel. Fehr nimmt zwei Männer und stellt dem einen 100 Schweizer Franken zur Verfügung, mit der Auflage, das Geld aufsich und den zweiten Mann aufzuteilen. Der, man ahnt es, kann das Geld annehmen oder die ganze Sache platzen lassen. Wie verhält sich der Homo sapiens? „Der Großteil der Spieler teilt in etwa 50 zu 50, der Großteil der Geschenke von weniger als 30 Franken wird abgelehnt", sagt Ernst Fehr. Die Leute verzichten freiwillig auf Geld, wenn sie sich nicht fair behandelt fühlen. Sie sagen sich: lieber 30 Franken weniger und dafür dem Geizhals einen Denkzettel vcrpasst. Nach Homo oeconomicus klingt das nicht. Eher nach Homo reziprocans. Reziprokes Verhalten, sagt Fehr, das sei Verhalten nach dem Motto .Wie du mir, so ich dir".
In seinem Institut hat Fehr nach eigenen Vorstellungen ein Labor eingerichtet.
Dort sitzen die Probanden an Computerschirmen, manchmal mit Sichiblenden,
manchmal ohne, manchmal kennen sie sich, manchmal nicht. Sie schlüpfen
in die Rolle von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Verkäufern und
Kunden. Aber immer gilt dabei: Im Mittelpunkt steht echtes Geld. Die Versuchspersonen
können Gewinne machen und Verluste. Um den Vorwurf zu entkräften,
seine Probanden würden die Spielsituation nicht ernst nehmen, hat
Fehr seine Experimente auch in Russland und Indone
sien durchgeführt. Dort ging es für die Versuchspersonen
um Beträge in Höhe von drei Monatsgehältern. Ihr Verhalten
hat das nicht verändert, es war geleitet von sozialen Normen, von
Werten, von Reziprozität.
Ernst Fehrs Thema ist vor allem der Arbeitsmarkt. Insbesondere hat er das ökonomische Gesetz getestet, wonach flexible Löhne zu Vollbeschäftigung führen. Demzufolge müsste man, wie von vielen Ökonomen immer wieder postuliert, in Deutschland lediglich die Tarifverträge abschaffen. Dann, so die These, würde die Arbeitslosigkeit verschwinden. So einfach wäre das. Und so wirklichkeitsfremd. Fehr simulierte im Labor Lohnverhandlungen und stellte fest, dass Arbeitslosigkeit auch bei frei ausgehandelten Löhnen bestehen blieb.
Je simpler die Annahmen, desto klarer die Aussagen
Diese Ergebnisse haben Furore gemacht. Nach Einschätzung von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des ifo-Institurs für Wirtschaftsforschung, gibt es keinen Ökonomen der mit 45 Jahren so viele Veröffendichungen in den besten Fachzeitschriften vorweisen kann wie Fehr. Im vergangenen Jahr erhielt er den Gossenpreis des Vereins für Socialpolitik.
Spricht man mit traditionellen Ökonomen über die experimentelle Wirtschaftsforschung, gestehen sie oft ein, dass die Annahme des Homo oeconomicus unpräzise sei. Man brauche sie aber, um zu den klaren Aussagen zu kommen, die von ihnen verlangt würden. Tatsächlich haben auch traditionelle Wirtschaftswissenschaftler bei Detailfragen inzwischen Modelle entwickelt, in denen sie von ihrem strikten Menschenbild abrücken. Geht es jedoch um die großen Fragen, kehren sie um der Klarheit willen wieder zu ihm zurück.
Manches deutet daraufhin, dass die Annahme, jeder Mensch sei ein Homo oeconomicus, überhaupt erst deshalb getroffen wurde: weil
man dann exakte Thesen formulieren konnte. Der englische Ökonom Francis Edgeworth schrieb Ende des 19. Jahrhunderts, das theoretische Konstrukt des Homo oeconomicus erlaube den Transfer von aus der Mathematik und Mechanik bekannten Methoden auf die Sozialwissenschaften. So wurde die Ökonomie präziser - aber deshalb nicht weniger politisch. Weiterhin gab sie den Regierenden Empfehlungen, ob Löhne erhöht oder Märkte gelenkt werden sollten. Nicht zuletzt aber dank der Annahme des Homo oeconomicus waren die Aussagen jetzt eindeutig. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa beim Umweltschutz, gilt: Markt ist gut, Staat ist schlecht. Mindesdöhne und Gewerkschaften verursachen nur zweierlei: Arbeitslosigkeit und Effizienzverlust. Das theoretische Konstrukt hatte praktische Wirkungen.
Die experimentelle Wirtschaftsforschung kann diese Klarheit nicht bieten. Soll die Zentralbank die Zinsen erhöhen odernicht? Darauf hat sie keine Antwort. Und zeigt damit die Zwickmühle, in der die Ökonomen stecken. Politiker und Medien beklagen falsche Prognosen. Die Fehler liegen womöglich am Menschenbild. Wird dieses revidiert, sind keine exakten Prognosen mehr möglich - und Politik und Medien wieder unzufrieden.
Um das Dilemma zu lösen, ist die experimentelle Wirtschaftsforschung allerdings noch nicht weit genug. Ernst Fehr hat sich bisher fast ausschließlich mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt. Andere forschen über Finanz- und Gütermärkte. Auch dort sind Wahrheiten zwar ins Wanken geraten - neue aber nur selten entstanden.
Zum anderen sind sich die Experimental-ökonomen untereinander nicht einig. Die einen sehen sich als Revolutionäre, die anderen nur als Verbesserer im Detail, die höchstens die Formulierung der traditionellen Lehrsätze ändern, nicht aber die Aussagen. So haben sie zwar Bewegung in die Ökonomie gebracht. Ob sie aber auch deren Kurs ändern, wird sich erst noch zeigen.