FAZ Samstag, 10. Juni 2000, Nummer 134 • III
Foto Woifgang Eilmes

Andacht vor der Weltgemeinde
Der Karlspreis und das globale Dorf: Wie Bill Clinton Europäer und eine schöne Rede wahr wurde • Von Michael Jeismann

In der Gaststätte „Nudelmanufaktur“ war man guter Dinge. Hier wie anderswo waren die Leute vor die Tür getreten und betrachteten die Prozession von Ehrengästen und Journalisten, die durch Aachens Innenstadt zog, um bei der Verleihung des Karlsprcises an Bill Clinton zugegen zu sein. Die Zuschauer hatten eine Abwechslung beim späten Frühstück und machten mit den Vorüberziehenden über den Cappuccino hinweg Witze über diese Rollenverteilung. Beide aber waren gehobener Stimmung. Die einen, weil sie außeralltäglich demonstrieren konnten, dass ihr Alllag ihnen mindestens so lieb war wie der hohe politische Gast aus Amerika. Und die anderen begannen auf ihrem kurzen Fußweg, sich schon ein wenig wie Pilger zu fühlen. Vor dem Katschhof angekommen, mussten sie die letzte Sicherheitskontrolle passieren und traten nun in die festliche Erwartungsstimmung des besonnten Platzes ein. Die deutsche Polizei war bei alledem entspannt, und an einem weniger frequentierten Sicherheitseinlasspunkt hatte man sogar beobachten können, wie ein Polizist seiner Kollegin in der warmen Vormittagssonne den Twist vormachte. The Big Easy in Aix-la-Chapelle.

Auf dem Katschhof, von Dom und Rathaus eingefasst, sitzt das Aachener Bürgertum schon seit längerem in den Stuhlreihen. Man wartete auf das Ereignis und hoffte, es würde sich hier anders ausnehmen als im Fernsehen. Nicht nur, dass die Gäste in dieser Erwartung nicht enttäuscht wurden; gerade weil man nicht vor dem Fernseher saß, kam man überhaupt zu Empfindungen und Gedanken, das Ereignis selbst betreffend, wie sich noch zeigen sollte. Nun begrüßt und mustert man sich und gehort dazu; bei der Hutmode der Damen überwiegt entschiedene, aber dezente Aachener Eleganz, die sich noch sehr in der heißen Sonne bewähren sollte. Denn man saß hier schon eine, bald zwei Stunden. In der Not traf man sich wieder in der Schlange beim Wasserstand und konnte das Ereignis gleich bereden. Je wärmer es auf dem Katschhof wurde, desto sehnlicher wünschte man das Ereignis herbei, desto erhebender musste es auch werden.

Noch ist die Tribüne leer. Jemand hat die gute Idee, mit dem Handy zu Hause anzurufen und sich erzählen zu lassen, was gerade im Dom geschieht, der zum Greifen nah und doch verschlossen vor der Festgesellschaft steht. Der amerikanische Präsident interessiert sich länger, als das Protokoll es vorgesehen hat, für den Thron, der im Obermünster steht.

Der Thron Karls des Großen interessierte den amerikanischen Präsidenten besonders. Vielleicht erinnert er sich der berühmten amerikanischen Anhänger der Weltreichslehre wie Andrew Carnegie, für die die Welt in die Ära übernationaler Großagglomerationen einzutreten hatte.

Im Jahr 936 hatte Otto I. Aachen als Ort der Krönung bestimmt, und in den folgenden Jahrhunderten bestiegen über dreißig Könige diesen Thron, der gar nicht imposant wirkt, sondern fast wie aus der Puppenstube. Solange die von Karl dem Großen erneuerte Reichsidee noch lebendig war, überschaute die Christenheit, wer hier saß. Vielleicht malte Clinton sich für einen Moment aus, wie der deutsche Außenminister und Jean-Pierre Chevenement sich auf den Thronstufen darum stritten, wer hinaufdürfe zum politischen Himmelszelt über Europa.

Da brandet Beifall, die Reihen stehen auf, nur zu sehen ist niemand auf der Tribüne. War es die hysterische Frühzündung einer durch die Hitze dringlicher werdenden Sehnsucht, das Ereignis möge heginnen? Nein, tatsächlich waren von der Seile zu ihren Plätzen die hohen politischen Gäste geleitet worden, der Bundespräsident und der Außenminister, so lief die Nachricht durch die Gästereihen. Aber als man die Personen zum Applaus nun sehen wollte, sah man nichts, weil die hohen Gäste schon wieder saßen, die gewöhnlichen Ehrengäste aber noch applaudierend standen. Lange Minuten vergingen, die Zeiger der Uhr überschritten schon halb zwölf, da ertönte - ganz wie bei der Bahn AG - eine freundliche Service-Stimme und klärte die Gäste darüber auf, dass der Präsident ein wenig später als vorgesehen in den Katschhof kommen werde. Und weil Bill Clinton den Dom und seine bewegte Geschichte gar nicht mehr verlassen mochte, durfte die Service-Stimme dann noch einmal auf die Verspätung aufmerksam machen.

Dann endlich traten die Protagonisten auf die Bühne, man erkannte Schröder und jeder versuchte, den Präsidenten zu identifizieren. Der freilich war noch gar nicht zu den anderen hinaufgestiegen, sondern betrat erst jetzt, mit einer kleinen Verzögerung, das Podium. Auch von hinten aus betrachtet, sah dieser Mann da vorne unzweifelhaft aus wie Bill Clinton. Für die Kameras hatte man eine bessere Kulisse nicht einmal erfinden können. Nun erklang das Allegro aus Mozarts Jupiter-Sinfonie, live gespielt vom Aachener Sinfonieorchester, aber merkwürdigerweise gehört nur über die Lautsprecher an den Seiten des Platzes. Es war, als hätte die Übertragung das Übertragene vollständig verschluckt, nur ab und zu konnte man hören, dass irgendwo auch wirklich jetzt gespielt wurde. Talsächlich kamen jene Bürger Aachens, die nicht auf den Katschhof geladen waren, dem Ereignis optisch am nächsten. Sie konnten die Staatsmänner aus der Nähe verfolgen und ihnen ins Gesicht sehen. Am Ende der festlichen Veranstallung aber befragte das Fernsehen doch jene, die im Hof gesessen und viel weniger gesehen hatten: Wie es gewesen war? Hier spielt nicht nur der Glaube eine Rolle, dass das unmittelbare Erleben, wie bruchstückhaft es sein mag, eben doch das Wesentliche zu erfassen vermag. Tatsächlich ist das, was über Erfolg oder Misserfolg einer solchen Feierstunde entscheidet, vom Fernsehen schwer zu bebildern, zumal wenn das Ereignis der Preisübergabe mitsamt den Reden, von der eindrucksvollen Kulisse abgesehen, kaum Spektakuläres zu bieten hat. Auch die Reaktion der geladenen Gäste hatte sich in den Grenzen der protokollarischen Sittsamkeit zu halten. Was also könnten die Anwesenden wahrgenommen haben, was den Kameras entgehen mochte? Wonach ist zu beurteilen, ob der feierliche Akt etwas barg, das vom Zeremonium allein nicht erzeugt werden konnte?

Der Karlspreis der Stadt Aachen, der im Jahr 1950 erstmals verliehen wurde, war der erste politische Preis, der in der Bundesrepublik vergeben wurde. Dass es kein Staatspreis, sondern ein Preis ist, der im Namen einer Stadt vergeben wird, erklärt sich nicht allein aus den politischen Verhältnissen der Nachkriegszeit, sondern ist selbst Ausdruck der deutschen Geschichte, in der die Städte der eigentliche Hort einer freiheitlich-föderalen Verfasstheit waren. Die Berufung auf Karl den Großen fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war alles andere als bescheiden, spiegelt aber das enorme Bedürfnis, irgendwo anknüpfen zu können, den Faden der Geschichte aber nicht an der Nationalgeschichte, nicht am Bismarckreich wieder anzunähen. Das Zeitalter des Nationalismus in Europa wollte man über die Brücke einer Tradition verlassen, die hinter die Zeit des Nationalhasses führte, in die Zeit der Kathedralen und weiter noch zum ersten nachrömischen Versuch einer zivilisatorischen Neugründung Europas. Ein Anspruch, der zuallererst die Wiedereingliederung Deutschlands in die Politik und in eine politische Zivilisation zum Ziel hatte und mit dieser Emphase und alles Bedenkenhafte hinter sich lassend, wohl nur aus Trümmern und Ruin geboren werden konnte. Und so war das Motiv des Karlspreises bis in die sechziger Jahre für alle unmittelbar greifbar, sichtbar in der Verwüstung der Städte.

Es war ganz folgerichtig und Ausdruck der politischen Dringlichkeitsempfindung jener Zeit, dass ein Europa-Aktivist, nämlich Richard Graf Coudenhove-Kalergi, der Begründer der paneuropäischen Bewegung, der erste Träger des Karlspreises war. Die Reden der frühen Preisträger sind geprägt durch das Grauen des zwanzigsten Jahrhunderts und durch eine politische Naherwartung, die von Jahr zu Jahr teils ferner rückte, teils ihre Konturen wechselte. Statt des unmittelbaren politischen Anstoßes und der Willensbekundung wurde es nun wichtiger, den Traditionsfaden, den man aufgenommen hatte, nicht in die Gegenwart, sondern in die Zukunft zu führen, als Erinnerung nicht nur an das europäisch Machbare, sondern auch an das europäisch Wünschbare. Was sich heute wie eine etwas lahme Selbstverständlichkeit anhört, war tatsächlich etwas Ungewöhnliches, in einer unendlich fern scheinenden europäischen Vergangenheit, da in Spanien und Griechenland Diktatoren herrschten, England und Frankreich unverhohlen und mit politischen Konsequenzen um die Leitrolle in Europa kämpften. Es war eine Welt voller scharf umrissener Antagonismen, aus deren Muster herauszufinden unendlich schwer war. Hier aber, bei der Karls-preis-Verleihung, war es möglich. Und es war gerade deshalb möglich, weil die Reden, die hier gehalten wurden, sich von einer aktivistischen Nahkomponente lösten und lösen mussten und stattdessen nicht immer, aber doch häufig ein Szenario jenseits der Tagespolitik zu entwerfen suchten. Winston Churchill tat dies mit besonderem Aplomb, als er in seiner Dankesrede 1955 das politische Schachbrett umstellte und erklärte, es sei durchaus vorstellbar, dass Russland einst in die Nato aufgenommen werde und dass man gemeinsame Sicherheitsinteresen verfolge.

Aus der Welt von gestern: Winston Churchill bei der Entgegennahme des Preises. Churchill war einer der Preisträger, die eine ungewöhnliche und staub-aufwirhelnde Rede in Aachen hielten.

Der ehemalige britische Premier dachte in weltpolitischen Dimensionen und sah am Horizont die Gefahr eines chinesischen Imperialismus: und es ging ihm darum, für und in Europa eigene Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Es war keine kleine Sensation, als er im Hinblick auf die Nato bemerkte: „In einer wahren Einheit Europas muss Russland seine Rolle erhalten.“ Und er fügte hinzu, ohne die Bedeutung der Verbindung zu den Vereinigten Staaten zu mindern: „Es kann sehr wohl sein, dass die großen Probleme, die uns so viel Sorge bereiten und zu denen als eines der ersten die Wiedervereinigung Deutschlands gehört, als dann leichter gelöst werden könnten, als wenn feindliche Blöcke einander mit Misstrauen und Feindschaft gegenüberstehen. Dieser Gedanke gehört der Zukunft an.“ Im Foreign Office herrschte, da diese Äußerungen nun so gar nicht auf der Linie der offiziellen britischen Politik lagen, Betretenheit. Und man sprach etwas spitzmündig vom „besonderen Genie Churchills“, das sich hier wieder einmal offenbare, aber keinen allzu engen Kontakt mit der „rauen Gegegnwart“ habe. Man kann sich vorstellen, wie eine solche Rede gewirkt haben muss, und es steht außer Frage, dass die Festgäste im Dom bewegt und angerührt waren. Heute ist der Gedanke, der der Zukunft angehörte, weitgehend Wirklichkeit geworden. Welches sind nun die bewegenden öffentlichen Reden? Reden, die ein Fenster mit Aussicht aus der Enge der Gegenwart öffnen, die hinter der Gemeinsamkeit aller Interessen-rivalität eine Gemeinsamkeit der Interessen sichtbar machen. Wurden solche Reden dieses Jahr bei der Preisverleihung in Aachen gehalten?

Aachen lag immer schon im Westen und war die erste deutsche Stadt, in die die Amerikaner im Herbst 1944 einzogen; hier erschien die erste freie Tagespresse. Oberbürgermeister Linden beschwor die „Wertegemeinschaft“ zwischen Europäern und Amerikanern und hoffte, dass „dieses Jahrhundert zum größten Menschheitsertolg in der Geschichte“ werden möge. Die Gäste aber mussten sich eingestehen, dass der Oberbürgermeister in seinem Elan den Erfolg der Stadt Aachen, den der Besuch Clintons bedeutete, schon mit dem der Menschheit gleichgesetzt hatte. Um zurückzufinden, sang die Festgesellschaft erst einmal „die Karlshymne“ aus dem 12. Jahrhundert: „Aachen, Kaiser-stadt, Du Hehre, Alter Städte Krön und Ehre. Königshof voll Glanz und Ruhm!“

Die Laudatio von Gerhard Schröder war eine Mischung aus Jovialität gegenüber seinem Freund Bill und einem hölzernen „Wir wollen . . .“-Katalog für die Menschheit und Europa: Wir wollen die Welt lebenswert erhalten und wir wollen aus der globalen Vernetzung den größten Nutzen ziehen. Die Sicherheit gegen Schurken-Raketen sollte eine gemeinsame sein, weil das amerikanische Sicherheitskonzept in seinen Auswirkungen auch Europa betrifft. Natürlich Clintons Rolle im Kosovo-Konflikt. Und schließlich: Karl der Große habe sein Reich niemals abgeschottet -was die Sachsen, die er lange und hart bekämpfte, sich wahrscheinlich auch gedacht haben. Ein bisschen Historie, aktueller politischer Weltbezug und ein herzlich-feierlicher Ton - die Ingredienzien für eine weniger gewöhnliche Rede waren da, aber nichts passierte. Niemand hörte plötzlich genauer hin und auch Schröder selbst blieb immer in der gleichen Tonlage. Er hat rhetorisch gesehen den Staatsmann noch nicht erreicht, aber das war nicht der eigentliche Grund, warum die Rede so farblos wirkte. Ganz am Schluss erst wurde sichtbar, warum sie am Boden kleben blieb. Schröder erinnerte an das Kennedy-Wort „Ich bin ein Berliner“ und attestierte Clinton nun, er sei nun ein Europäer geworden. Die Analogie war gut gemeint und also das Gegenteil von gut gemacht. Denn in der Situation des Juni 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau, halte das Wort Kennedys als Unterpfand eine präzise Bedeutung. Es war mutig, und es war zugleich Programm. Dieses Wort nun umzukehren und Clinton zu versichern, er sei ein Europäer, stößt sich nicht nur mit der Tatsache, dass Clinton zunächst einmal Präsident der Vereinigten Staaten und noch nicht Rentner ist. Darüber hinaus passt die Analogie nicht zur politischen Situation der Gegenwart, die anders als während des Kalten Krieges durch diffuse und schwer vorhersehbare Konfliktlinien geprägt ist.

Was heißt denn das also: Europäer zu sein? Das hätte man von Schröder gern gehört. Ist der Begriff so wenig abgeschottet wie das Reich Karls des Großen nach der Lesart Schröders? Politisch geht es bei der europäischen Integration darum, Zugehörigkeiten zu definieren, aber auch zu differenzieren und auszuschließen. Um Letzteres wird man nicht herumkommen, nur gilt es, die europäische Staatenbildung nicht wie einst bei der Nationalstaatsbildung durch das Feuer der Feindschaften und Kriege zu härten. Das wäre wohl eine Herausforderung, die genuin europäisch zu nennen ist. Planetarisch betrachtet ist alles eine Welt, irdisch aber gibt es viele Welten, deren komplizierte Beziehungen nicht größeren Abstand, sondern größere Nähe verlangen, sollen sie nicht ein Herd heilloser Auseinandersetzungen werden. Die reine Willensbekundung verschlägt da wenig. Anders gesagt: Es gibt nicht nur die Gutmeinenden in der einen Welt und einen Rest übel wollender Schurken, die draußen vor der Tür bleiben mögen.

Diese Unschärfe der Einen-Welt-Rhetorik wird auch Clintons Rede prägen. Die Zuhörer aber waren zunächst aufs angenehmste gefangen genommen von der sonoren, leicht angerauten Stimme Clintons, von seiner weichen Südstaaten-Modulation und der metaphorischen Intelligenz seiner Rede. Mühelos stellte er sich in die Tradition der europäischen Einigung und freute sich, ein oder zwei Steine an der Kathedrale der europäischen Einheit gesetzt zu haben. Auch hier aber fiel auf, dass rhetorisch wohl Unterschiede, aber keine Gegensätze zugelassen wurden, wie nicht bloß mancher Wink an Russland deutlich machte. Politik erscheint plötzlich als eine weltweite Service-Veranstaltung: für Internet-Anschlüsse, für Börsenhandel und für Freiheit und Menschenrechte. Clinton spielt so gewinnend Pingpong zwischen Alter und Neuer Welt, dass hinterher alles eins ist und die Türkei auch bald Mitglied der EU. Die Rede Clintons aber war schön, sie schwebte über dem historischen Platz und beseelte die Zeremonie. Und weil sie schön war, wurde sie für einen Moment auch wahr und als solche empfunden. Allein dies rechtfertigte schon die Preisvergabe an den amerikanischen Präsidenten. Die Presse hat dies so bis in die Stimmung hinein sofort registriert und den schönen wahren Schein ganz richtig zur Nachricht gemacht. Das Fernsehen dagegen hat die Resonanz dieser Climax nicht einfangen können. Die kritischen Fragen wurden in den Kommentaren später gestellt, ohne dass die augenblickliche Wahrheit der Rede davon betroffen worden wäre.

Eine Stunde später sah man am Bahnhof die Karlspreis-Verleihung im Fernsehen. Die Reden waren zu sehen und zu hören, aber das Ereignis, dem man beigewohnt hatte, war nicht auf dem Schirm.



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