32 WIRTSCHAFT  Die Zeit No.23 31.Mai 2000
"Den Schamfaktor nutzen"
Der WWF-Präsident Ruud Lubbers über die Globalisierung und die Gefahren für die Umwelt - ein ZEIT-Gespräch

picture of Ruud LubbersRuud Lubbers war von 1982 bis 1994 Ministerpräsident der Niederlande. 1991 bereitete er als EG-Ratspräsident den Maastricht-Gipfel und damit den Euro-Beschluss vor. Nach seinem Rückzug als Premier kandidierte Lubbers, Mitglied der konservativen Partei CDA, erfolglos für die Posten des EU-Kommissionspräsidenten und des Nato-Generalsekretärs. Seit Ende 1999 ist der 61-jährige Ökonom Präsident des Umweltverbandes WWF

DIE ZEIT: Herr Lubbers, vor fünf Jahren kandidierten Sie für die EU-Präsidentschaft, dann für den Posten des Nato-Generalsekretärs. Seit Dezember vergangenen Jahres sind Sie WWF-Präsident. Können Sie auf diesem Posten wirklich etwas bewegen?

RUUD LUBBERS: Sehr wohl, denn der Einfluss von Nichtregierungsorganisationen wächst. Das habe ich gemerkt, als ich mich in den vergangenen Jahren als Hochschulprofessor viel mit der Globalisierung beschäftigt habe, vor allem mit der Frage, ob die Globalisierung mit dem Ziel der Nachhaltigkeit vereinbar ist. Die Zivilgesellschaft mischt sich da immer mehr ein. Sie wird neben der Politik zu einer wichtigen Kraft.

ZEIT: Wo sehen Sie die wichtigsten Probleme der Globalisierung?

LUBBERS: In der Tatsache, dass sie sich bisher allein auf die Wirtschaft beschränkt. Soziale Fragen und die demokratische Verankerung von Entscheidungen hinken hinterher — die Leute haben das Gefühl, alles werde nur noch in Washington und Brüssel beschlossen. Und, ganz zentral, gibt es natürlich Defizite in der Umweltpolitik.

ZEIT: Etwas genauer, bitte.

LUBBERS: Globalisierung treibt das Wachstum und den technischen Fortschritt an. Mehr Handel, mehr Wohlstand und mehr Wachstum sorgen aber noch längst nicht automatisch dafür, dass auch die sozialen und die ökologischen Probleme gelöst werden. Wenn die Welthandelsorganisation WTO diesen Eindruck kreiert, macht sie es sich zu leicht.

ZEIT: Sind Sie etwa ein Wachstumskritiker?

LUBBERS: Na ja, ich gehöre auf jeden Fall nicht zu den Wachstumsfetischisten.

ZEIT: Der holländische Expremier, ein Wachstumsskeptiker?

LUBBERS: Eine gewisse Skepsis war vor zehn, zwanzig Jahren ja durchaus normal, und zwar vollkommen zu Recht. Denken Sie doch nur an die Berichte des Club of Rome. Doch dann verschwand der Sozialismus, und jeder hat sich darüber gefreut, dass der Markt sich überall ausbreitete, auch in der Dritten Welt: Markt, Markt, Markt. Für die Umwelt und damit vor allem auch für die armen Länder ist das mit Risiken verbunden. Und nach meiner Erfahrung sind die Politiker allein überfordert, diese Risiken zu begrenzen — trotz aller Bekenntnisse von Rio. Ohne die Zivilgesellschaft und ohne die großen Unternehmen bleibt das langfristige Ziel der Nachhaltigkeit eine Illusion.

ZEIT: Wie wollen Sie denn als WWF-Präsident für Nachhaltigkeit sorgen?

LUBBERS: Unser Ziel ist, die Vielfalt der Arten zu schützen und die ganze Schatzkammer der Natur zu bewahren. Sie ist schließlich unsere Lebensgrundlage. Das geht natürlich nur, wenn wir die Ursachen der Zerstörung bekämpfen. Also müssen wir Produktion und Konsum mit neuen Technologien so verändern, dass Wasser, Luft und Boden nicht mehr vergiftet werden, dass die Erdatmosphäre nicht weiter aufgeheizt und dass die Natur als Ganzes nicht immer weiter zerstört wird.

ZEIT: Sie meinen, trotz aller Erfolge der Umweltpolitik gehe es mit der Natur weiter bergab?

LUBBERS: Natürlich tut es das. Man kann zwar nicht sagen, dass nichts getan wurde. Beim Kampf gegen das Ozonloch beispielsweise haben wir seit zehn Jahren schöne Fortschritte gemacht. Aber ist das genug? Der Auftrag von Rio ist nicht wirklich erfüllt worden.

ZEIT: Warum werden denn die Überlebensfragen in der Politik so vernachlässigt?

LUBBERS: Ganz so ist es ja nicht. In den Niederlanden beispielsweise haben wir schon in den sechziger, siebziger Jahren angefangen, für saubere Luft und sauberes Wasser zu arbeiten, und es ist auch viel erreicht worden. Aber damals war es für die Politiker einfacher, solche Entscheidungen durchzusetzen. Die Probleme konnte man sehen und riechen. Heute liegen sie nicht mehr unmittelbar vor der eigenen Haustür. Außerdem muss man bei der Klimapolitik oder beim Schutz der tropischen Regenwälder international zusammenarbeiten. Auch das ist schwerer zu vermitteln und interessiert die Wähler weniger. Und doch habe ich den Eindruck, dass die Bevölkerung insgesamt mehr politisches Engagement für die Umwelt verlangt, als die offizielle Politik anstrebt.

ZEIT: Fehlt den Politikern der Mut, sich mit mächtigen Interessengruppen anzulegen?

LUBBERS: Sie sagen gerne, es gebe so viel anderes, Wichtigeres zu tun. So verschaffen sie sich Alibis. Das ist ein alter Trick, über den ich stundenlang reden könnte. Deshalb warten wir beim WWF auch nicht mehr ab, bis Regierungen sich endlich zum Handeln entschlossen haben. Wir gehen den direkten Weg und bemühen uns um praktische Lösungen.

ZEIT: Um welche beispielsweise?

LUBBERS: Gemeinsam mit der Weltbank arbeiten wir an der Förderung der unabhängigen Zertifizierung nachhaitiger Forstwirtschaft. Mit Unilever ...

ZEIT:... dem Marktführer bei Tiefkühlfisch ...

LUBBERS: ... bemühen wir uns darum, die . Ozeane vor totaler Ausbeutung zu retten. So verknüpfen wir den Artenschutz mit den Zielen nachhaltiger Fischerei und entsprechendem Konsumentenverhalten.

ZEIT: MUSS man trotz solcher Erfolge nicht manchmal eher konfrontieren als kooperieren?

LUBBERS: Sie haben Recht. Bei uns ist es zwar andersherum als bei Greenpeace: Wir versuchen erst zu kooperieren, ehe wir an die Öffentlichkeit gehen. Aber wenn das nicht ausreicht, dann muss man in Konfrontation gehen. Dabei lässt sich nutzen, was ich den Schamfaktor nenne.

ZEIT: Die Angst der Manager davor, als Umweltsünder bloßgestellt zu werden?

LUBBERS: Genau. Das funktioniert vor allem dann, wenn man den Unternehmen zeigen kann, dass andere es längst besser machen.

ZEIT: Sie nutzen den Schamfaktor, die Industrie nutzt mit dem WWF-Stempel den Imagefaktor. Haben Sie manchmal Sorge, als Umwelt-Alibi missbraucht zu werden?

LUBBERS: Das Gleichgewicht zu halten - also die Natur zu schützen und nicht das Wachstum der Konzerne — ist nicht immer ganz leicht. Wenn man kooperiert, läuft man das Risiko, dass man eingepackt wird, wie wir in Holland sagen. Aber möglich ist es dennoch, unabhängig zu bleiben und die eigenen Prioritäten zu bewahren.

ZEIT: Können denn Ihre beispielhaften guten Taten mehr als Peanuts sein?

LUBBERS: Ich denke schon. Bei der nachhaltigen Forstwirtschaft zum Beispiel sehen wir deutliche Fortschritte, Ob ich mit der Weltbank rede oder mit Regierungen - sie alle verstehen langsam, dass man viel mehr tun muss. Wir haben auch gar keine Probleme, bei den großen Unternehmen Partner zu finden. Das Interesse wächst enorm. Es muss allerdings auch vorangehen, denn in den nächsten zehn, zwanzig Jahren entscheidet .sich, ob die Natur endgültig ausverkauft wird oder ob wir eine Wende zum nachhaltigen Wirtschaften schaffen. Dafür werden wir auch bei der Expo 2000 in Hannover werben. Am Beispiel von etwa 200 ökologischen Schlüsselregionen, den „Global 200", wollen wir dort demonstrieren, dass sich soziale, wirtschaftliche und ökologische Interessen durchaus in Einklang bringen lassen. Vor allem für die Länder der Dritten Welt ist das wichtig.

ZEIT: Trotzdem bleiben Ihre Ökoregionen Inseln im Meer des Wachstumsdenkens, wenn sich nicht die ökonomische Logik insgesamt ändert. Der WWF hat den Ruf, politisch ein wenig harmlos zu sein ...

LUBBERS: Zu Unrecht. Wir sind ja politisch keineswegs abstinent. Beispielsweise haben wir uns daran beteiligt, das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) zu verhindern. Und wir haben bei der WTO-Konferenz in Seattle darauf bestanden, dass das Thema Umwelt auf die Tagesordnung kommt. Wir wollen verhindern, dass die Liberalisierung weiter vorangetrieben wird, solange unklar ist, wie sich das auf die Umwelt auswirkt: Wenn das Risiko hoch ist, muss man auch mal etwas lassen können.

ZEIT: Seattle haben viele als Fiasko empfunden.

LUBBERS: Das hat mich überrascht. Tatsächlich war es ein Triumph! Es war das Signal für ein neues Bewusstsein: Die Wirtschaft ist zwar wichtig - aber sie darf nicht die ganze Richtung vorgeben und den Rest der Gesellschaft in ihre Gefolgschaft zwingen.

ZEIT: „Die Natur kennt keine Kompromisse" -unterschreiben Sie diesen Satz?

LUBBERS: Im Grundsatz ja. Es ist wie beim Menschen. Die Integrität einer Person, das, was jemanden ausmacht, darf man nicht verletzen. So sollten wir auch mit der Natur umgehen. Man kann sie gemeinsam nutzen. Aber es gibt dafür Grenzen - und wenn die erreicht sind, führen Kompromisse ins Verhängnis.

ZEIT: Sie sind nicht der einzige frühere Staatsmann, der sich um Umweltfragen kümmert; ähnlich engagiert sich beispielsweise auch Michail Gorbatschow. MUSS man erst von offiziellen Ämtern frei sein, bevor man sich den wirklich wichtigen Dingen zuwenden kann?

LUBBERS: Als ich mich von der Politik verabschiedete, haben mich viele gefragt: Warum bleiben Sie nicht. Sie könnten doch die Wahl wieder gewinnen? Ich habe geantwortet, dass es nach zwölf Jahren besser sei zu gehen. Denn wenn man über den Abschied selbst entscheidet, dann hat man noch genug Energie, andere, wichtige Dinge zu erledigen, die weiter gehen als das kurzfristige Alltagsgeschäft; genau das mache ich gerne. Bleibt man immer in der Politik, geht einem am Ende die Luft aus.

Das Gespräch führten Christiane Grefe und Fritz Vorholz



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