Samstag, 10. Juni 2000, Nummer 134, I
Frankfurter Allgemeine Zeitung
BILDER UND ZEITEN
Konrad Adam
Wissen, das kein Glück bringt
Warum die Gentechnik mit Widerstand zu kämpfen hat

Unter den vielen Vorkämpfern des wissenschaftlichen Fortschritts nimmt der Physiologe Emil du Bois-Reymond eine Sondersteilung ein. Wort-mächtiger als die meisten seiner Kollegen, war er auch wirkungsmächtiger als sie. Wo er auftrat, strömten ihm die Hörer in Massen zu, das akademisch vorgebildete Publikum genauso wie das profane Volk. Seine Botschaft verstanden nämlich alle: Du Bois-Reymond feierte den Anbruch eines neuen, besseren Zeitalters. Dabei verband er Tatsachen und Spekulation in der Weise, dass die Fakten durch Prophetie verklärt und die Prophetie durch Fakten beglaubigt wurde. Wo er, selten genug, auf Grenzen der Naturherrschaft zu sprechen kam, geschah das in Gestalt von rhetorischen Fragen:
„Was kann der modernen Kultur etwas anhaben?“, rief er seiner Gemeinde zu. „Wo ist der Blitz, der diesen babylonischen Turm zerschmettert?“ Und gab die Antwort dann gleich selbst: „Man schwindelt bei dem Gedanken, wohin die gegenwärtige Entwicklung in hundert, in tausend, in zehntausend, in hunderttausend und in immer noch mehr Jahren die Menschheit führen werde. Was kann ihr unerreichbar sein? Sollte sie, wie sie maulwurfsähnlich durch Gebirge, unter der See fort Wege bahnt, nicht noch den Vogelflug nachahmen? Sollte sie, wie die Rätsel der Mechanik, nicht noch die Rätsel des Geistes lösen?“

Doch damit, mit der Frage nach den Ursprüngen und der Bestimmung des Geistes, tat du Bois-Reymond sich schwer. In der berühmten Rede, die er 1872 in Leipzig hielt, gab er auf alle Schicksalsfragen, mit denen sich die Menschheit seit ihren Anfängen herumgeschlagen hatte, die immer wieder gleiche, durch ihn sprichwörtlich gewordene Antwort: Ignoramus, ignorabimus, zu Deutsch: Wir wissen es nicht, und wir werden es nicht wissen. Der Agnostiker und der Positivist, der Fortschrittler und der Zweifler gingen in seiner Person zusammen. Was du Bois-Reymond an Verheißungen zu bieten hatte, beschränkte sich auf die angewandten Naturwissenschaften, erwies sich in einer Verbesserung der ihnen eigenen Methodik des Rechnens und Zählens, Messens und Wiegens.

„In der Naturforschung und -beherrschung allein gibt es keinen Stillstand, wächst stetig der Besitz, zeugt unablässig weiter die schaffende Kraft“, lautete sein Credo. „Hier allein steigt sicher jedes neue Geschlecht auf des vorigen Schultern. Hier allein entmutigt kein nec plus ultra den Schüler, drückt ihn keine Autorität, findet auch Mittelmäßigkeit einen ehrenvollen Platz, wenn sie nur emsig und aufrichtig die Wahrheit sucht.“ Wahrheit gab es hier, aber auch nur hier, im engeren Bereich der Empirie. Was darüber hinausging, war Metaphysik, von der du Bois-Reymond genauso wenig hielt wie die meisten seiner naturwissenschaftlich eingeschworenen Kollegen. Er glaubte an den Fortschritt wie kein anderer, mochte über seine Richtung aber nicht spekulieren, über sein Ergebnis schon gar nicht.

Sein großer Vorgänger, der Engländer Francis Bacon - ein Mann, dem Goethe nachsagt, er habe den Augiasstall der Philosophie von scholastischem Mist gesäubert, um ihn mit empirischem Mist zu füllen -, hatte es da leichter. Er redete von dem Segen, den die Naturbeherrschung versprach, mit derselben Emphase wie du Bois-Reymond, .glaubte aber und durfte damals ja wohl auch noch glauben, dass er sich im Übrigen auf die bindenden und haltenden Kräfte der Tradition verlassen durfte. Der Vorwurf, Mittel zu propagieren, ohne den Zweck zu kennen, schreckte ihn nicht, denn für den Sinn und Zweck des Ganzen waren andere zuständig, an allererster Stelle die damals noch recht einflussreiche Kirche. „Erwerbe sich nur das menschliche Geschlecht die Herrschaft über die Natur, wozu es von Gott bestimmt ist; bewältige es nur erst die Masse“, machte er seinen Anhängern Mut. „Für die rechte Anwendung wird die gesunde Vernunft und die Religion schon Sorge tragen.“ Gottvertrauen und Selbstvertrauen schienen damals, in den Kinderjahren der Naturwissenschaft, noch Hand in Hand zu gehen. Und Bacon war klug genug, die Entlastung, die ihm da angeboten wurde, auch zu nutzen.

Inzwischen ist man weiter als er, und das heißt: schlechter dran als Bacon. Was der Ahnherr der Empiristen noch nicht ahnen konnte und was du Bois-Reymond mit mehr Erleichterung als Bedauern festgestellt halte, das Verblassen der Wertewelt, ist zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Das große Arbeitsprogramm der modernen Naturwissenschaft, die Entzauberung der Welt bis in den letzten Winkel, ist über alle Erwartungen hinaus erfolgreich gewesen; so erfolgreich, dass nicht nur die Erde, sondern der Himmel gleich mit von allem metaphysischen Hokuspokus gereinigt worden ist.

Von den Traditionsbesländen, auf die Bacon in seinen Programmschrillen so unbefangen zurückgriff, ist nicht mehr viel übrig. Die Nebenwirkungen des Fortschritts haben seine intendierte Hauptwirkung eingeholt und vielfach autgezehrt. Der schwäbische Dichterling, der sich in den Glanzzeiten du Bois-Reymonds an die Verherrlichung der Wissenschaft gemacht und dabei folgende Verse zustande gebracht hatte:

Christus dort und Darwin hier
Leuchten als des Geisten Zier.
Christus lehrt als Glauhensheld,
Dass verwandt die ganze Well.
Darwin hier hat's auch erkannt,
Dass die Körperwelt verwandt

- dieser wackere, aber ziemlich unbedarfte Mann mochte noch glauben, seinen ererbten Pietismus mit der progressiven Wellsicht vereinigen zu können, die damals in Mode kam. Inzwischen macht das aber Schwierigkeiten.

Denn die Botschaften der beiden Heroen, die da nebeneinander gestellt und gemeinsam verherrlicht wurden, passen nicht zusammen. Wirklichkeil kausal zu erklären ist etwas anderes, als sie final zu deuten, weshalb denn auch die Gesetze, die aufzuspüren der Ehrgeiz der Naturforscher ist, mit denen der Prediger und Sittenlehrer nur den Namen gemein haben. Die Naturwissenschaftler, die Leittiere der Moderne, haben das Rennen allerdings für sich entschieden. Die Folge ist, dass ihnen die Moralisten, die Rechtskundigen und die Sittenrichter, nicht mehr viel anhaben können. Wenn sie Verdacht schöpfen und den Fortschritt lenken wollen, sind die Naturforscher mit ihren Versuchsserien und die Geschäftsleute mit ihren Patentanmeldungen längst schon fertig. Sie haben Tatsachen geschaffen, die das Leben verändern, sich ihrerseits aber kaum noch verändern lassen. Schadensbegrenzung ist das Einzige, was die Anwälte der öffentlichen Ordnung dann noch tun können; aber das ist wenig, und selbst das wenige wird nur selten erreicht.

Die Mittel bestimmen den Zweck

Je gründlicher die Natur entschlüsselt und enträtselt worden ist, desto unglaubwürdiger erschien sie in jener Rolle, in der sie von der Antike verehrt und geachtet worden war, als magna mater rerum, Weil sie in dieser Eigenschaft nichts mehr galt, fühlte man sich frei, mit ihrer Unterdrückung oder Unterwerfung Ernst zu machen. Die Abenteurer der Moderne glaubten, auch ohne Orientierung fertigzuwerden, und begannen, es der naiven Reisegruppe nachzutun, deren Strategie Mark Twain mit dem Satz beschreibt:

Nachdem sie die Richtung verloren hatten, beschleunigten sie das Tempo. Das ist der Befund, der in akademischen Festveranstaltungen seit hundert Jahren um und um gewälzt wird. Das Resultat ist immerzu dasselbe: Man beklagt den Verlust an Orientierungswissen, verlangt aber gleichzeitig, so viel Verfügungswissen anzuhäufen, dass die Orientierung schwierig wird.

Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen den beiden aus dem Lot geraten. Das Gewicht des technischen Wissen, des Know-how, ist so erdrückend geworden, dass für das Oricntierungswissen, das Know-why, kaum noch Raum bleibt. Auch in der Gedankenwelt bestimmt das Angebot die Nachfrage, nicht umgekehrt. Die Regeln der „Supply Side Economy“ haben sich durchgesetzt und den älteren Lehrsatz, der das Bedürfnis vorangestellt hatte, außer Kraft gesetzt. Das Universum der Wissenschaften hat es nicht nötig, auf eine wie auch immer geartete Nachfrage zu warten; indem es die Mittel bereitstellt, verfügt es auch über die Zwecke. Im Zeitalter der Machbarkeit sind Wünsche nichts Ursprüngliches; sie werden geweckt und manipuliert, und eine riesige Industrie, die Werbebranche, ist mit nichts anderem beschäftigt als eben-dem. Kein Mensch hat nach dem Transrapid verlangt; er war das Kind von Technikern und Industriellen, gegen deren Koalition die Bürger, die Kunden, die Steuerzahler nicht mehr viel ausrichten konnten. Es ist, wie Helmut Schelsky seinerzeit gesagt hatte, das Mittel ist zum Zweck geworden, das die Anwendung erzwingt.

Die Zeit der kontemplativen Wissenschaft, die das Leben erklären und deuten, aber nicht verändern wollte, ist vorbei. Unter den Bedingungen der Wirtschafts- und Informationsgesellschaft heißt Wissen immer auch Können, und Können erweist sich eben nicht bloß im gelungenen Laborversuch, sondern im gelungenen Geschäft. In allen Ländern der Welt dürfte die Mehrheit der Menschen den Wissenschaften nur deshalb so viel Geld bewilligen, weil sie auf praktische Anwendung hofft. Nicht auf das Wissen ist man scharf, sondern auf den Nutzen, den die Sache abwerfen soll. Und weil dieser Nutzen wirtschaftlich definiert ist, schließt er, dem Wortsinn zuwider, den Schadensfall mit ein: Wenn die Ballistiker von Nutzlast sprechen, meinen sie das, was die Rakete an der Spitze trägt, den atomaren Sprengkopf genauso wie das Weltraumteleskop oder den Fernmeldesatelliten. Der Syllogismus ist unwiderstehlich: Weil Wissenschaft auf Nutzen aus ist, nutzt sie auch dann, wenn sie Zerstörung bringt.

Vor einigen Jahren hatte sich der Soziologe Arnold Gehlen die Frage vorgelegt, wie es mit einer Wissenschaft, die dazu neigt, über den Mitteln die Ziele zu vergessen, weitergehen soll. Er versuchte sich vorzustellen, was sich dem galoppierenden Fortschritt in den Weg legen könnte, wagte aber nicht mehr als die vage Vorhersage, dass eine durchgreifende Änderung „fast nur so verstellbar ist, dass sie an den extremen Enden angreift, beim Wissenwollen, dem Anfangspunkt, oder beim Konsumierenwollen, dem Endprodukt des Prozesses“. An diese Worte muss man denken, wenn man von dem Widerstand hört, auf den das Bündnis von Wirtschaft und Wissenschaft bei seinen Siegesfeiern in Seattle, Davos und anderswo gestoßen ist. Er kann als Zeichen dafür verstanden werden, dass Gehlen mit seiner Vermutung gar nicht so weit danebenlag.

Die Rebellenarmee, die da unter Führung von Greenpeace, Woridwatch, Friends of the Earth und wie sie sonst noch heißen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft mobil machte gegen die Verwüstungen des technischen Fortschritts, vertrat die alte Sache des Konservatismus in neuen Formen. Sie wehrte sich gegen die Handwerker, die immer nur ihr Werkzeug vor Augen haben, bei der Frage, was sie damit anstellen wollen, aber ins Stottern geraten oder auf Allgemeinplätzen Zuflucht suchen. Und sie tat das genau so, wie es Gehlen vorausgesagt hatte, durch demonstrative Zurückhaltung beim Wissen- und beim Konsumierenwollen.

Nicht zufällig ist das latente Unbehagen in dem Augenblick zu Tage getreten, in dem die kommerzialisierte Wissenschaft in eine Region einbrach, die lange Zeit als unverletzlich, als sakrosankt und heilig gegolten hatte. Die rote Gentechnik - rot nach der Farbe der lebenden Organismen, an denen sie ihre Entdeckungen macht - bekam und bekommt es mit Gegnern zu tun, die das ihnen angediente Wissen bewusst ausschlagen. Sie ahnen, dass sie durch detaillierte Auskunft über ihre Erbausstattung vor Entscheidungen gestellt werden, die zu treffen sie selbst und alle anderen denkbar schlecht gerüstet sind.

Aufklärung gerät unter solchen Umständen zu jenem wabernden Geschwätz, für das Peter Sloterdijk mit seinen Regeln für den Menschenpark ein schönes Probestück abgeliefert hat. Viele Menschen sind klüger als er und verzichten bewusst auf das Angebot, das ihnen da ungefragt und unerbeten autgedrängt werden soll. Wissen, das als unabänderlich betrachtet wird und weit in die Zukunft vorausgreift, wirkt eben nicht befreiend, sondern belastend. Die genanalytisch abgestützte Diagnose kommt nicht wie ein Appell daher, die letzten Kräfte anzuspannen, sondern wie ein Urteilsspruch, der den Willen lahmt. Weshalb in ihrem Fall der Verzicht aufs Wissen die Freiheit besser schützen könnte als alle Wissenschaft.

Die grüne Gentechnik, die so heißt, weil sie sich mit Agrarchemie und Pflanzenzucht befasst, bekommt es mit den anderen zu tun, mit Leuten, die zwar Bescheid wissen, aber nicht konsumieren wollen. Dass die Verbraucher wild darauf wären, gentechnisch veränderte Äpfel und Birnen zu verzehren, wird man nach allem, was den Herstellern und den Händlern solcher Produkte an Feindseligkeiten begegnet ist, im Ernst nicht mehr behaupten können. Das Unbehagen ist keineswegs auf Europa beschränkt, die Amerikaner verspüren es genauso und haben das Firmen wie Monsanto, den Marktführcr von gentechnisch manipuliertem Mais und Soja, auch merken lassen. Was die Verbraucher wollen, ist Kennzeichnungspflichl, Aufklärung also über Produkte, die sich natürlich nennen, es aber nicht sind.

Doch dieser Wunsch wird nur recht zögerlich erfüllt. Dieselben Leute, die alles daransetzen, die Menschen mit den Errungenschaften der roten Gentechnik vertraut zu machen, wollen von Aufklärung nichts wissen, wenn sie die grüne Gentechnik verkaufen wollen: Erlaubt ist, was gefällt. Es sind die Forscher und die Unternehmer selbst, die mit ihrem widersprüchlichen Verhalten Zweifel wecken an der frommen Legende, sie hätten nichts anderes im Sinn, als sich zum Wohle und im Dienste des Kunden abzurackern. Letztlich entscheiden die Interessen der Forschungsindustrie und der Industrieforschung darüber, was den Menschen an Aufklärung zugemutet oder vorenthalten wird. Seitdem die Fortschrittsbilanz wie ein Geschäftsbericht aufgemacht wird, gehorcht sie anderen Gesetzen als denen der Wissenschaft. Das merken die Leute und verhalten sich danach.

Wenn die Wirtschaft kontrolliert

Wie rudimentär auch immer: Der von Gehlen nur hypothetisch angedeutete Wunsch nach Wissens- und Konsumverzicht macht sich bemerkbar. Käme er auf breiter Front zum Zuge, brächte er allerdings den Leitsatz des modernen Wirtschaftslebens in Gefahr, das unbedingte Wachstumsgcbot. Um diesem größten aller anzunehmenden Unfälle vorzubeugen, müssen die asketischen Anwandlungen der Verbraucher unter Kontrolle gehalten werden; was angesichts der Tatsache, dass modernes Wissen Fachwissen ist, das nur von wenigen verslanden wird, nicht allzu schwer fällt. Die Gentechnik kommt dieser Absicht weit entgegen, sie begünstigt die Fachleute, die Statthalter des Staates und der privaten Wirtschaft, die es so einrichten können und es ja auch so eingerichtet haben, dass ihre eigenen Interessen bei diesem Innovationsschub nicht zu kurz kommen.

Wissen ist Macht, hatte Bacon dekretiert. Sein Dogma hat sich tief im Gedächtnis der Nachwelt eingegraben, wo es bis heute dafür sorgt, dass jeder, der über Macht spricht, zunächst einmal an die Regierung denkt. Aber damit hat er den falschen Gegner im Visier. Persönliche Freiheiten werden heute weniger vom Staat bedroht als durch die Wirtschaft, die von der Kunst, Wissen zu sammeln und zu nutzen, zu verwalten und auszubeuten, erheblich mehr versteht als jede Behörde. Die Klügeren unter den Politikern haben längst eingesehen, dass sie in vielen Dingen nur noch zweitrangig sind. Sie sind zurückgefallen hinter die Führungskräfte der Wirtschaft und der Wissenschaft, die es verstehen, die Macht konvertibel zu machen, das heißt: sie in Geld und in Wissen umzumünzen.

Das Manhattan-Projekt, die Entfesselung der Atomkraft im Zweiten Weltkrieg, lag noch vom ersten bis zum letzten Allgenblick in der Hand des Staates. Beim Renommierprojekt von heute, bei der milliardenleuren Entzifferung des menschlichen Genoms, sehen die Machtverhältnisse aber schon ganz anders aus. Dem staatlich hoch subventionierten Großvorhaben ist in Gestalt von einigen Privatunternehmern eine Konkurrenz entstanden, die gar nicht leicht zu bestehen, geschweige denn auszustechen ist. Es ist an der Zeit, Bacon zu revidieren und das Verhältnis von Wissen und Macht neu einzuschätzen.

Mehr Wirtschaft, weniger Staat: Nach dieser Parole wird sich in Zukunft auch die Forschung auf der Suche nach Geld und Einfluss richten müssen. Sie wird sich dabei tief verändern, und sicher nicht zu ihrem Vorteil. Gewiss gilt, was Lessing den Künstler auf die hochherrschaftliche Frage nach seinem Wohlergehen antworten lässt, seit jeher auch für die Wissenschaft: Auch sie geht wie die Kunst nach Brot. Es macht jedoch einen großen Unterschied, ob sie ihr Brot vom Staat empfängt oder von der in diesem Falle nicht ganz so freien Wirtschaft. Man muss die gängige Phrase vom Humankapital nur ernst genug, also wörtlich nehmen, um zu begreifen, was da vor sich geht: dass nämlich die Wissenschaft in großem Stil dabei ist, sich zu verkaufen, zur Ware, zum Patent, zum Eigentum zu werden.

Denen, die dabei mitmachen, mag das viel einbringen; es verlangt aber auch einen hohen Preis. Denn frei ist diese Wissenschaft nicht mehr. Was manche Wirtschaftsleute von der Forschung halten, hat der Vorstandschef von Philip Morris zu erkennen gegeben, als er im Streit um die krebserregende Wirkung des Rauchens öffentlich versprach, alle seine Fabriken zu schließen, „wenn meine eigenen Forscher herausfinden, dass Zigaretten Lungenkrebs bewirken“. Meine eigenen Forscher - der Gebrauch des Possessivpronomens verrät schon alles. Die privat organisierte Forschung mag erfolgreicher, schneller und kostengünstiger arbeiten als ihre träge Konkurrenz unter der Obhut des Staates; nur frei ist sie nicht. Sie ist ein Geschäft, das kaufmännischen Regeln folgt, und die haben sich von den im Wissenschaftsbetrieb gültigen seit eh und je aus guten Gründen unterschieden.

Die Grenzen der Erkenntnis

So verändert die Wissenschaft, nachdem sie die halbe Welt verändert hat, am Ende auch die eigene Gestalt. Als Kapital, das dazu dient, Gewinn zu machen. zeigt sie ein anderes Gesicht als jene Wahrheit, die mit dem Versprechen verbunden war, die Menschen frei zu machen. Ich will, hatte Nietzsche am Ausgang des vorletzten Jahrhunderts geschrieben, „ein für alle Mal vieles nicht wissen. Die Weisheit zieht auch der Erkenntnis Grenzen.“ Das war kein Obskurantismus, denn Nietzsche wusste über die Abgründe der menschlichen Seele einiges mehr als die meisten seiner Zeitgenossen, denen du Bois-Reymonds dröhnendes Fortschrittspathos besser in den Ohren klang als Nietzsches schwarze Skepsis. Das hat sich aber, wie man weiß, geändert. Hiroshima und Tschernobyl, Bophal und Seveso sind die in aller Welt bekannten Chiffren für die Gefahren, die sich aus der Anwendung des organisierten Wissens ergeben können.

Heute wird so etwas wie ein Recht auf Nichtwissen selbst von denen anerkannt, gegen die Nietzsche seine Polemik gerichtet hatte, von den Vertretern des etablierten Forschungsbetriebs. Zumindest für eine Übergangszeit sollte beides respektiert werden, meint etwa Ernst-Ludwig Winnacker, zurzeit Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft: das Recht auf genetisches Wissen genauso wie der bewusste Verzicht darauf.

Das unbedingte Glücksversprechen, das sich so lange Zeit mit der Aussicht auf mehr Wissen verbunden hatte, ist fadenscheinig geworden. Zumindest für diejenigen, die nicht nur etwas von Aufklärung, sondern auch von ihrer Dialektik gehört haben, spricht aus den Worten, die David Hilberl, der große Mathematiker, auf seinen Grabstein setzen ließ, nicht bloß Zuversicht, sondern auch Fatalismus: „Wir müssen wissen, wir werden wissen“, hieß seine späte Antwort auf du Bois-Reymond. Dessen Ignoramus, Ignorabimus war ja nur das leere und wertlose Gegenstück zum ungebrochenen Fortschrittsglauben seiner Zeit. Du Bois-Reymond resignierte lediglich vor den Problemen, für die er ohnehin nichts übrig hatte. Tatsächlich lud er die Menschen dazu ein, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ihr Wissen anzuwenden und sich die Erde endgültig zu unterwerfen. Verglichen damit, klingt Hilberts Grabspruch wie eine stille Drohung: Ob ihr wollt oder nicht, ihr habt keine Wahl. Ihr seid zur Wissenschaft verurteilt.



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