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Freiheit
von Dihana

Das aggressive Klingeln des Weckers wurde immer lauter und lauter und brachte sie schließlich doch dazu, sich aus dem Bett zu bewegen. Nicht, dass sie unausgeschlafen war, nein! Sie lag schon seit einer guten Stunde wach in ihrem Bett, aber einen Grund, warum sie aufstehen sollte, sah sie nicht. Es war jeden Tag der selbe Ablauf, jeden Tag sehnte sie sich nach dem Ende des Tages und von Tag zu Tag ging es ihr schlechter.

Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, sie hatte das Gefühl sie seien langsamer ge-worden. Ja, selbst ihre Bewegungen schienen wie in Zeitlupe zu geschehen. Sie ließ Wasser in die Kaffeemaschine laufen, füllte neues Pulver in den Filter und startete das grimmig murmelnde Gerät. Langsam ließ sie sich auf den Fußboden gleiten, griff nach Zigaretten und Feuerzeug und steckte sich eine an. Während sie den blauen Dunst einatmete knurrte die Kaffeemaschine noch einmal laut und schwieg dann plötzlich. Sie nahm sich eine Tasse des schwarzen Gifts und trank sie langsam aus. Sinnloses Geldausgeben: Zigaretten, Kaffee, Lebensmittel,.....

Sie war es doch gar nicht wert!
Nachdem sie sich aufgerafft hatte, stand sie nun unter der Dusche und ließ warmes Wasser über ihren Körper laufen. Schon wieder so eine Verschwendung.

Beim Zähneputzen schaute sie in den Spiegel: Das war doch nicht wirklich ihr Ge-sicht. Es erschien ihr so fremd, so abstoßend. Wieder einmal liefen ihr Tränen über das Gesicht und dann fing sie an zu schreien. Sie schrie einfach so ihr Spiegelbild an, doch es verschwand nicht und machte ihr weiterhin alles nach. Sie sackte zu-sammen und blieb liegen. es hatte ja doch alles keinen Sinn.
Als sie zur dritten Stunde die schule betrat, hatte sie sich wieder halbwegs gefangen. Hauptsache war, alle freundlich anzulächeln, denn dass jemand merken könnte, wie schlecht es ihr ging, wäre das Schlimmste gewesen, das sie sich hätte vorstellen können.

Im Klassenraum setzte sie sich alleine auf die Fensterbank, sah nach draußen und zog sich zurück in ihre Welt. Der Lehrer kam. Zwar fünf Minuten zu spät, aber erkam. Was soll's? Stille Anteilnahme am Unterricht, das schaffte sie noch. Sie hatte die Hausaufgaben nicht, was für den Lehrer ein Anlaß war, ihr eine lange Predigt zu halten. Bevor der Gong zur vierten Stunde erklang, hatte sie das Schulgebäude, das momentan von einem Gerüst geschmückt war, schon wieder verlassen. Denn auch ihre Mathehausaufgaben waren nicht erledigt und noch einen Vortrag hätte sie nicht ertragen können. Sie dachte über einen Spaziergang im Park nach, kam aber schnell zu dem Entschluss, dass sie in ihrer Wohnung besser aufgehoben war. Was sollte sie denn auch im Park? Die Tiere erschrecken?
Sie schloss die Tür auf und setzte sich auf ihr Bett. Es fing an zu regnen. Beim Blick aus dem Fenster sah sie einen Himmel, so grau, wie ihr die ganze Welt erschien.
Die Musik, die sie kurz darauf einlegte, munterte sie nicht gerade auf. Es war das traurigste aller ihr bekannten Lieder und sie ließ es durch die ganze Wohnung schallen. ein einziges Lied den ganzen Tag lang, immer und immer wieder. So wie jeden Tag.

Sie saß weinend, völlig erschöpft und kraftlos in ihrem Zimmer, den ganzen Nach-mittag über. Wenn sich nicht bald etwas bessern würde, würde sie durchdrehen, das wusste sie. Also tat sie das, was sie schon so oft getan hatte. Wovon ihr Arm schon so geprägt war. Sie ließ die Rasierklinge einmal sanft über die Haut gleiten, dann griff sie fest zu und schnitt sich tief ins Fleisch. Das Blut quoll hervor und der Schmerz tat so gut. Wenn auch nur für fünf Minuten, immerhin spürte sie kurz, dass sie lebte und für kurze Zeit war sie durch körperlichen schmerz von ihrem psychischen Druck er-löst. Und wenn diese fünf Minuten nicht ausreichten, dann wiederholte sie den Vor-gang einfach. Und das tat sie an diesem Freitagnachmittag auch, und zwar mehrfach.

Die Dämmerung trat ein, sie schleppte sich noch einmal raus aus ihrer Wohnung. Sie ging durch die Straßen, sehr langsam und sehr nachdenklich. Sie war trist gekleidet, in schwarz und grau. Sie dachte nach über den Sinn des Lebens, über ihr Leben. Die Suche das Nichts nach dem Etwas. Ja, es war eine suche und sie hatte nicht mehr die kraft, weiter Ausschau zu halten.

Als sie an ihrer schule vorbei kam, fiel ihr Blick auf das Gerüst. Ihre Suche war beendet.
Sie stieg Stufe für Stufe hinauf, kam schließlich oben an, kletterte über das Geländer und sprang.
Sie sprang ihren Sprung in die Freiheit.

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