Sonntagsstimmung
Früh werde ich wach - und kann liegen bleiben. Und wünschte mir, ich müßte jetzt schnell aufstehen, weil ich in die Schule muss. Ich stehe auf, mache Tee, setze mich auf eine der Wohnzimmercouchen. Langsam, unendlich langsam. Ich rühre in meiner Teetasse und starre in den Wirbel, der beim Rühren entsteht. Ich rühre langsam, schnell, mittel, einmal linksherum und einmal rechtsherum, einmal mit dem Löffel ganz in der Tasse, einmal nur ganz wenig, dann wieder schnell, bis der Tee überschwappt und sich über das weiße Tischtuch ergießt.
Ich betrachte den Fleck, der sich ausbreitet bis ihm die Kraft ausgeht, dann trinke ich meinen Tee. Der Geschmack ist widerlich.
Ich drehe den Fernseher auf. Programm eins, Programm zwei und wieder Programm eins - mehr gibst nicht. Das Programm ebenfalls! Ich starre ins Leere, nein, eigentlich starre ich auf die Tapete und den Kasten davor und den Teppich kann ich auch noch sehen, aber das kommt auf dasselbe raus.
Ich lege mich wieder ins Bett, schließe die Augen - und weil ich weiß, daß ich nicht mehr einschlafen kann, kann ich es auch nicht mehr. Trotz der bleiernen Müdigkeit, die mir geblieben ist. Weil mein Herz einfach nicht stillstehen will, sondern wie verrückt schlägt. Warum bleibt es eigentlich nicht stehen? Dann würde ich sterben. Und?? Ja, eigentlich könnte ich jetzt ruhig sterben, aber eigentlich ist es mir auch egal, wenn ich nicht sterbe und überhaupt habe ich auch keine Lust zu sterben, ist mir zu mühsam. Mühsam, wie der ganze Tag.
Ich stehe zum zweiten Mal auf. Nun wird der Tag genutzt. Wäre es mir nicht zu mühsam, würde ich laut über diesen Gedanken lachen, über diesen Tag, über den Nutzen.
Ich wasche mich, ziehe mich an, räume das Zimmer auf, die Wohnung, ordne mein Bett, lüfte, öffne die Jalousien, ordne Bücher und Schulunterlagen, bleibe in Bewegung, immer in Bewegung, Bewegung, Bewegung, Aktivität, Aktivität, Aktivität. Erst elf Uhr? Erst elf Uhr!
Lernen....... Vokabel, Grammatik........... Der Zettel liegt vor mir. Figura, figurae, feminin - Gestalt; forma, forma, feminin - (schöne) Gestalt; formosus - schön....... heute ist kein sehr schöner Tag, der Himmel ist bedeckt, wirkt bedrohlich und kalt. Eigentlich müßte ich auch noch ein Englischessay schreiben, nicht zu vergessen die Deutschrezension, Russischhausübung, Französischgrammatik und Vokabeln in Russisch und Französisch und Latein, die Mathehausübung............ Lieber Mathematik zuerst, dann die Vokabeln weiter. Zettel wird weggelegt. Zwölf Uhr? Hm, zwölf Uhr!
Mathematik, einfache Denkaufgabe. Ich rechne und schreibe und rechne. Ohne Ablenkung.
Halb zwei? Halb zwei, die Zeit verging so schnell und leider - fertig mit Mathematik. Familienmittagessen. Streitereien, Gespräche, Anekdoten, Geschichten.
Das Essen schmeckt nach Sonntag, nicht weil es schlecht ist, sondern weil Sonntag ist. Fad und sinnlos, nicht einmal ein bitterer Nebengeschmack, der dem Ganzen etwas Ablenkung und Abwechslung bringen würde. Und außerdem fühle ich mich mit jedem Bissen,........, aber egal, das ist ja sowieso immer so.
Zeitung. Tote, Verletzte, Katastrophen, Affären, Intrigen, dazwischen ein wenig Politik.
Drei Uhr!
Weiter mit den Vokabeln. Unda, undae, feminin - Woge, Welle...............alle tot gewesen bei dem Unglück, kein Überlebender. Wie geht man mit dem Tod seiner Tochter um? Oder seiner Eltern? Bei einem Unglück? Bei Mord? .............aequor, aequoris, masculin - Meer(esoberfläche), pontus, ponti, masculin - Meer.....................jetzt auf einmal im Nichts zu stehen. Sich im Nichts auflösen, ins Nichts auflösen, besser als tot sein?!
Vier? Vier!
Spaziergang. Es ist kalt. Ausgestorbene Straßen, niemand da. Einöde, Stille. Was wäre, wenn alle Menschen tot wären, ich der letzte Mensch auf Erden wäre? Selbst in diesem Fall, würde diese Stadt lebendiger wirken als jetzt. Zigarette für Zigarette. Beschäftigung. Sinnlos an einem Stück Papier mit Kräutern drinnen ziehen. Mit viel Einbildung, fühle ich mich jetzt besser.
Glockenschläge. Sechs Uhr!
Den ganzen Tag - nichts getan. Tag verschissen und noch immer nicht berechtigt schlafen zu gehen.
Abendessen vor dem Fernseher. Programm wie am Vormittag. Essen wie zu Mittag.
Sitze vor dem Computer. Starre auf den Bildschirm, während der Computer heraufgefahren wird.
Surfe im Internet. Keine Mails, auch sonst nichts Interessantes.
Schreibe eine Hausübung. Englisch. Sitze zwei Stunden daran. Nicht weil es so schwer ist. Weil ich dazwischen weggehe, wegdenke, wegdrehe, so wie den ganzen Tag schon. Englisch fertig - eine Katastrophe!
Zehn Uhr!
Lege meinen Kopf auf meine Arme, auf meinen Schreibtisch. Höre Mozarts Klaviersonaten. Möchte nicht mehr. Weine und lache ein trauriges Lachen. Weiß nicht warum.
Liebe Mozart, drehe lauter, lauter. Möchte versinken in seiner Musik. Möchte die Musik spüren, fühlen, sie sein. Möchte dieses Klavier sein, damit ich ganz von ihr erfüllt werde.
Halb elf.
Gehe mich waschen und umziehen.
Lese noch zwei, drei Seiten.
Die Vokabel! Nicht gelernt. Wie immer. Verdammter Sonntag.
Richte meine Sachen für den nächsten Tag, die nächste Woche.
Zwölf Uhr! Sonntag vorbei!
Lege mich hin, stehe wieder auf. Stelle meinen Wecker für morgen.
Lege mich wieder hin.
Decke mich fest zu, rolle mich in meinem Bett ganz klein zusammen. Schließe die Augen. Kann nicht schlafen. Fühle mich leer, müde, sinnlos, ausgelaugt. Tränen rollen über mein Gesicht. Ich will schlafen. Für immer. Nur mehr schlafen. Aber mein Herz schlägt und schlägt.
Verdammter Sonntag.
Verdammte Sonntagsstimmung.
Verdammtes Leben.