DRAMA, GB 1995, 93 min Regie: Danny Boyle,
Buch: John Hodge nach einem Roman von Irvine Welsh,
Musik: Damon Albarn, Bedrock u.a.,
Kamera: Brian Tufano,
Darsteller: Ewan McGregor (Mark Renton), Ewen Bremner (Spud), Johnny Lee Miller
(Sick Boy), Kevin McKidd (Tommy), Robert Carlyle (Begbie) Kinostart: 13/9/1996
Was für einen richtigen "Trainspotter" eine Diesellok, das ist für Mark
Renton die Droge. Er geht seinem Hobby mit leidenschaftlicher Hingabe nach,
läßt sich keinen Zug, keinen Schluck und keinen Schuß entgehen. Renton ist
ganz unten angekommen und meistens high. Aber sein Zug ist noch nicht
abgefahren: Irgendwann, denkt er, wird er mal ohne den Stoff auskommen. Die
Mitreisenden auf Rentons Trip sind der einfältige Spud, Sick Boy, der hier
und da vom verbotenen Stoff kostet, dessen wahre Sucht sich jedoch auf
James-Bond-Filme und Sean Connery bezieht, und Tommy, der Drogen ablehnt
und eher auf die freie Natur steht. Dann ist da noch Begbie, eine wahre
Psychozeitbombe. Sein Treibstoff ist der Alkohol, seine Liebelingsdroge
eine richtige Schlägerei. Im Gossenalltag dieser Heroin-Helden läuft nichts
nach Fahrplan...
"Natürlich ist der Film schwierig, natürlich ist er düster
und schmutzig, gewalttätig und gemein, aber gleichzeitig ist er auf
kraftvolle Weise einnehmend, eine rasiermesserscharfe, von schwarzem Humor
geprägte Vision menschlicher Degradierung. (...) Wenn SHALLOW GRAVE der
beste britische Film des letzten Jahres war, dann ist TRAINSPOTTING der
beste britische Film des Jahrzehnts" (Ian Nathan, Empire).
(Katalog Filmfest München 1996)
Die Typen sind dumpf. Harte, picklige Gesichter. Die Sprache der Dialekt von Leith, einem Vorort von Edinburgh - zerfleddert in Fetzen. Die Trips machen nicht high, sondern dröge: Heroin taugt nicht für Höhenflüge. Die Wohnungen sind das letzte.
Sie fälschen Morphium- und Methadonrezepte, klauen sich im Altersheim den nächsten Schuß zusammen, spritzen pakistanisches Äitsch oder kolumbianischen Braunen, saufen, vögeln, dröhnen sich zu und verraten ohne Not den besten Freund. Begbie steht auf Schlägereien, Tommy auf Heimpornos, Renton auf Haß gegen alle Normalos. Sie gehören zum white trash: Totalverweigerer, die mit Nachdruck nein sagen zum Leben.
Gelegentlich versucht Rentboy einen Entzug. Kauft sich Dosenfraß und Paracetamol, stellt drei Eimer neben sein Bett, für Urin, Kot und Erbrochenes, und verpaßt sich zum Trost zwei Opiumzäpfchen. Als er die Zäpfchen durchfallbedingt wieder verliert, steigt er - auf dem "widerlichsten Abort Schottlands" - ins Klo und taucht ab in ein schimmeliges Unterwasserparadies. Die Szene dreht einem den Magen um, aber Renton hat fun.
"Trainspotting" ist ein merkwürdiger Film. Er zeigt die Junkies nicht als Opfer, aber sympathisiert auch nicht mit ihnen. Er setzt auf die Innenansicht einer Alptraumexistenz, nicht jedoch auf Identifikation, auf den Trip für den Zuschauer. Er kommt so indifferent, roh und kaputt daher wie seine Protagonisten. Er stilisiert den Ekel zur no-future-Komödie. Renton, Sick Boy und die anderen amüsieren sich, der Zuschauer nicht. Aber er bekommt eine Ahnung davon, warum jemand auf Heroin steht.
Trainspotter, das sind Leute, die in ihrer Freizeit Zugnummern notieren. Ein garantiert sinnloses Hobby. "Trainspotting" markiert die Obsession der neunziger Jahre: "Aids & Drugs & Rock 'n' Roll" (Presseinformation), das Ende aller schönen Aussichten.
Den Tod nimmt man in Kauf, Iggy Pop und Lou Reed liefern den Punk dazu, und die Filmemacher Danny Boyle, Andrew MacDonald und John Hodge ("Kleine Morde unter Freunden") nennen sich selbst eine Popgruppe. Was den Verdacht nahelegt, daß es sich bei ihrem zweiten Gemeinschaftswerk weniger um Kino als um ein Stück TripHop handelt: um den Zelluloidclip zum Soundtrack. (Christiane Peitz, DIE ZEIT Nr.34 vom 16. August 1996)
Wie man Dreck als Seife verkauft.
Man kann auch aus Scheiße Helden machen. Man kann dieser Scheiße durch Heroin eine Seele einspritzen und sie dann mit geiler Rockmusik schick einkleiden. Wenn sich diese abschaumgeborene Stinkergestalten nun ausreichend im Hohlspiegel originellen, selbstverstümmelnden Humors selbstbetrachten, wirkt Scheiße sogar sympathisch. Man könnte es die künstlerische Pyrolyse schwarzverkrusteter Charaktere nennen. Daß ihr genau dieses perverse Wunder gelungen ist, ein Stück Dreck als Seife zu verkaufen, muß man der Verfilmung des gleichnamigen britischen Kultromans von Irvine Welsh lassen. Der Schotte wirbelte literarischen Staub auf, indem er sich ungeniert der Gossensprache der Junkies bediente, um eine bizarre Versagerpartie Jugendlicher auf der Verliererstraße ein Stück zu begleiten. Triefender Hohn auf die Wohlstandsspießer als ständiges Echo dabei.
Icherzähler Mark hängt an der Nadel, finanziert sich mit Kleinkriminalität und Schnorren, legt sich mit Polizei, Mädchen und den Eltern an, steckt bis zum Haaransatz in Schwierigkeiten und wühlt sich letztlich immer wieder raus. Seine Freunde ein erschreckendes Panoptikum aus Giftlern, Gewalttätern, Psychopathen und sexbesessenen Elendsgestalten der Jungarbeitslosenszene Edingburghs. Sex and Drugs and Rock' n' Roll als tödliches Überlebensrezept abfeiern, auch wenn am Ende Scheiße in Gold verwandelt wird, ist eine bedenkliche Tour; Buch und noch mehr der Film reiten sie im Rhythmus eines hypnotischen Soundtracks. Natürlich wird bestritten, daß man damit die Senkgrube Drogenszene glorifiziert. Aber was sonst außer seinem gellenden Witz sollte Schmuddelbuch und -film so erfolgreich zum Szenemuß gestylt haben?
Wobei die Filmemacher, die uns bereits mit "Kleine Morde unter Freunden" einschlägig vorbestraften, gern maßlos übertreiben. "Nimm deinen besten Orgasmus, nimm das Gefühl mal zwanzig und du bist noch immer meilenweit davon entfernt", schreibt Walsh über Heroin, als Botschaft für naive Kids gefährlich genug. Doch der Film macht aus zwanzig gleich 1000, und seine immer behauptete Sozialkritik kann man nicht einmal aus dem Abspann herauslesen. "Wir hätten sogar Vitamin C gespritzt, wenn's verboten wäre", weiß seine Fragwürden, Held Mark, was für ihn eine ziemliche Hellsicht darstellt. Auch wenn einen gelegentlich auf diesem giftig schillernden Höllentrip Erkenntnis und Ekel überwältigen: Unbequeme Wahrheiten über die Gesellschaft und ihre Früste werden bestenfalls durch Umwegrentabilität wirksam. Eine Schüssel Erbrochenes statt einer Leibspeise zu servieren hält ja auf Dauer auch nicht vom Essen ab, oder? (Rudi John - KURIER)
BRD / GB 1995 Regie: Michael Verhoeven,
Buch: Michael Verhoeven nach George Tabori,
Musik: Julian Nott, Simon Verhoeven,
Kamera: Michael Epp, Theo Bierkes,
Darsteller: Pauline Collins (Elsa Tabori), Ulrich Tukur
(SS Offizier),
Natalie Morse (Maria), Heribert Sasse (Kellerman),
Robert Giggenbach (Cornelius Tabori), Buddy Elias (Rabbi),
Günter Bothur (Schnauzbart), George Tabori (Tabori),
Hana Frejková (Martha), Otto Grünmandl (Julius), Peter Radtke,
Simon Verhoeven, Horst Hiemer, Jiri Knot, Eddi Arent,
Wolfgang Gasser, Johanna Mertinz, Tatjana Vilhelmova,
Istvan Iglodi, Jindrich Bonaventura
Kinostart: 13/9/1996
Im besetzten Budapest werden 1944 Juden zum Abtransport nach
Auschwitz zusammengetrieben. George Taboris Mutter gelingt es,
sich vo dem Todestransport abzusetzen und zu retten.
(...) Doppelte Verfremdung also. Erinnerungsgrotesken in einer
fast stoischen Heiterkeit: Tabori erzählt die Geschichte vom
Überleben seiner Mutter (ein deutscher Offizier war gerade gut
gelaunt und hat sie gerettet) - und nur Tabori darf diese
Geschichte so erzählem, so abgrundkomisch lachhaft, so sanft
und zart und romantisch verklärt, dabei so makaber pointiert
wie ein jüdischer Witz. Verhoevens Stilmittel sind entsprechend
skurril. Da ist diese hinreißende Pauline Collins in der Rolle
der Frau Tabori - eine Naive zwischen Muttchen und Dame, mit
artigen Manieren und dem unerschütterlich diskreten Charme der
Bourgeoisie. Um sie herum die Figuren eines Moritaten-
Kasperltheaters: Die beiden Wichtigtuer Klapka und Iglodi
verhaften sie auf der Straße - zwei wehleidige Dummschwätzer,
die sie seit langem kennen und sich nun wie unverschämte Lümmel
zu ihr benehmen. (...)
Die Psychologie des SS-Offiziers (Kulturmensch als Beherrscher
der Primitiven: Ulrich Tukur) ist schlüssig: Er zeigt seine
Macht. Läßt die wohlerzogene jüdische Dame (samt ihrem
nichtjüdischen Schützling) laufen, um seinen grölenden SS-
Proleten klarzumachen, wer hier das Sagen hat. Etwas verspätet,
aber unverdrossen erscheint Frau tabori danach, kaum dem
Todestransport entronnen, bei den Verwandten zum verabredeten
Bridge-Abend. (...)
"Mutters Courage" ist weder Holocaust-Idylle noch Nazi-Comic,
sondern schwarze Familienpoesie in einer historischen Satire.
Ein wunderbarer Film vom Glück und Pech des Zufalls (oder
Schicksals). (Ponkie, AZ, 22.2.96)
Wenn es um den Holocaust geht, verfallen Deutsche sofort in
äußerste Verkrampfung. Das ist nur zu verständlich. Es ist
allerdings auch schrecklich, wenn diese Verklemmung noch
ausgestellt wird, wie in "Mutters Courage". Michael Verhoevens
Film, gerade mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet, legt
die Vermutung nahe, daß die Kindergeneration der Nazi-Barbaren
offenbar immer noch nicht reif ist, sich angemessen mit dieser
deutschen Ungeheuerlichkeit auseinanderzusetzen. (...)
Natürlich kannte Verhoeven die Problematik seines
Unternehmens. Aber statt sich ihr zu stellen, weicht er ihr
aus. Mit niemandem will er es verderben, weder mit den Opfern
noch mit den Tätern. Die gute Elsa Tabori ist gutmütig bis
arglos, und von der Gefahr, die ihr droht, nimmt sie nichts
wahr. Das ist vermutlich sogar die einzige Genauigkeit des
Films. Der Rest ist Groteske, die in ihren Ansätzen
steckenbleibt: Das Opfer schiebt die Täter an, und zur eigenen
Rettung muß es geradezu gezwungen werden. Das alles ist bei
Verhoeven überdeutlich, und doch ist es nicht einleuchtend.
(...) (Peter Buchka, SZ, 22.2.96)
Budapest 1944, besetzte Stadt. Ein Tag im Leben von George
Taboris Mutter Elsa. Auf dem Weg zu ihrer Schwester Martha wird
die Mutter von ungarischen Geheimpolizisten verhaftet und zum
Westbahnhof gebracht, wo etwa viertausend Menschen zur
Deportation zusammengetrieben werden. Unter dem Oberbefehl
eines SS-Offiziers werden die Juden in Viehwaggons zum
sogenannten "Tor des Himmels", einem kleinen Ort an der Grenze,
gefahren. In einem alten Kornspreicher zusammengepfercht,
warten die Menschen auf den Zug aus Deutschland. Unter all den
vielen Menschen trifft sie Kelemen, einen Bekannten ihres
Mannes. Kelemen, eine gescheiterte Existenz, dem Wahnsinn nahe,
versteht nicht, daß ausgerechnet sie, die Frau seines Gönners
Cornelius Tabori, sich in diesem Zug befindet. So schiebt er
sie zum Tor hinaus. So hinausgestoßen, überwindet sie alle
Fesseln der Erziehung und der Vergangenheit und geht unbeirrbar
auf einen Offizier zu. Mit List und plötzlicher Unbotmäßigkeit
gelingt ihr der Ausbruch in die Freiheit. (Verleihprogramm)
Problemfilm, GB / F 1996 Regie: Mike Leigh,
Buch: Mike Leigh,
Musik: Andrew Dickson,
Kamera: Dick Pope,
Darsteller: Timothy Spall (Maurice), Phyllis Logan
(Monica), Brenda Blethyn (Cynthia), Claire Rushbrook (Roxanne),
Marianne Jean-Baptiste (Hortense)
Kinostart: 13/9/1996
Nach dem Tod ihrer Adoptivmutter möchte Hortense, eine
27jährige schwarze Londonerin, ihre leibliche Mutter finden.
Als es soweit ist, gibt es für Hortense eine irritierende
Überraschung: Cynthia, ihre Mutter, ist eine Weiße, dazu mit
einer 20jährigen Tochter. Zunächst wehrt sich Cynthia gegen
Hortenses Wunsch, einander kennenzulernen, doch bald entwickelt
sich zwischen beiden eine echte Mutter-Tochter-Beziehung.
Allerdings hat jetzt Cynthia ein Problem: Sie muß ihrer Familie
verständlich machen, daß sie eine schwarze Tochter hat...
"SECRETS & LIES handelt von unseren Wurzeln und von unserer
Identität, von den ständig wechselnden Bildern, die wir alle
von uns selbst und von anderen haben, und unserem zwanghaftem
Bedürfnis, uns immer wieder zu versichern, wer und was wir sind
und woher wir kommen" (Mike Leigh).
"Leighs Film ist britisches Kino in seiner schönsten Form: Ein
wunderbares Ensemble von Schauspielern (Brenda Blethyn wurde
für ihre Darstellung der von jedem guten Geschmack erfrischend
freien Schlampe Cynthia in Cannes mit dem Preis als beste
Schauspielerin ausgezeichnet) fängt für zweieinhalb Stunden das
Leben ein, in seiner ganzen bunten, traurig-komischen, häßlich-
schönen Vielfalt" (Blickpunkt Film).
Auf Geheiß lächeln sie alle. Das Hochzeitspaar, die Kleinfamilie, die Punkerin, der Sportler: Wer zum Portraitphotographen geht, zeigt sich von seiner besten Seite. Nur das Unfallopfer stellt Narben und eine finstere Miene zur Schau, der Versicherung wegen. Aber auch diese Frau posiert willig, und der Photograph staffiert sie aus, mit dem richtigen Hintergrund und dem passenden Licht.
Maurice, der Photograph, wartet, bis das Bild stimmt. Mike Leigh, der Filmemacher, wartet nicht. Er lenkt den Blick auf den Moment, bevor die Person zum Bild erstarrt, auf die letzten Handgriffe und Korrekturen, auf das kurze Zögern oder den kaum spürbaren Unwillen, mit dem der Ehemann seinen Arm um die Gattin legt. Die Selbstinszenierungen des Kleinbürgertums im Photostudio, mit denen Leighs neuer Film "Lügen und Geheimnisse" beginnt, verwandelt er in Miniaturen von Normalität. Wer sich verstellt, verrät sich, solange die Maske nicht sitzt.
"Lügen und Geheimnisse", so der Regisseur, "handelt von unserem zwanghaften Bestätigungsbedürfnis, wer wir sind und woher wir kommen." Leider erliegt sein Film selbst diesem Zwang, denn die Photoportraits bleiben Randerscheinung einer Familienstory, die, erstmals bei Leigh, auf eine vorschnelle Versöhnung im Kreise der Lieben hinausläuft. Willkommen daheim.
Hortense (Marianne Jean-Baptiste), eine junge Optikerin, macht sich nach dem Tod der Adoptivmutter auf die Suche nach ihrer biologischen Mutter. Sonst werden im Kino meistens die Väter gesucht, neuerdings haben die Mütter, zumal die leiblichen, Konjunktur. Sei es Woody Allens "Geliebte Aphrodite", sei es die Hippie-Mom in "Flirting with Disaster": Selbstredend spotten sie jeder Erwartung. Auch Hortenses Fund ist ein Schock. Denn Mutter Cynthia (Brenda Blethyn) ist weiß, die Tochter hingegen schwarz. Hinzu kommt die Klassenschranke: Hortense führt eine gepflegte Angestelltenexistenz, Cynthia ein verpfuschtes Proletarierdasein. Schmuddeliges Reihenhaus, Fabrikjob, türkiser Häkelpulli, fettige Haarsträhnen, breite Hüften, verkniffener Mund - das Leben, ein Frust. Tochter Roxanne kommt, wenn überhaupt, morgens nach Hause, grunzt oder keift und geht auf die Straße; sie arbeitet bei der Stadtreinigung. Bruder Maurice, der Photograph, hat sich im ehelichen Eigenheim eingerichtet, Gattin Monica widmet sich der Innenausstattung und schämt sich für Schwägerin Cynthia.
Cynthia und Hortense treffen sich erstmals, auf einen Tee. Zwei Frauen am Kneipentisch, nebeneinander, frontal photographiert. Cynthia kratzt sich am Nacken, zwitschert "Sweetheart" und plappert über all die nicht gesagten Sätze hinweg. Ihre Fispelstimme zerrt an den Nerven. Eine qualvolle Szene, fast ohne Bewegung und ohne Schnitt. Hortense, das kluge Kind, zeigt Verständnis.
Sonst ist Mike Leigh ungnädiger. Immer auf Seiten der Arbeiterklasse, hat er seine Helden, all die vom Schuften mürbe gewordenen Typen, doch nicht geschönt. Sein Kino, von "Bleak Moments" bis "Naked", ist voller Sympathie für die Underdogs, für ihre rüden Sätze und Verzweiflungstaten; dennoch besänftigte die Parteinahme nie den Blick. Mike Leigh verbat sich das Melodram, so geriet jeder Film zur Höllenfahrt.
Zwar bleibt er auch diesmal dokumentarisch genau, wenn etwa die Sozialarbeiterin im Gespräch mit Hortense fahrig und forsch deren Fall mal eben erledigt. Aber die Beweglichkeit seiner Kamera, die bisher nichts durchgehen ließ, wird von der Scheu vor der Bloßstellung gebremst. Die Begegnung zwischen Mutter und Tochter spitzt sich nicht zu, sie klingt einfach aus. Violine, Harfe und Cello überbrücken die Entfernung zwischen den Frauen. Harmonie statt Bedrängnis.
Die Frauen leiden, an Menstruations- oder Weinkrämpfen, an sich und der Welt und ändern sich nicht. Die Männer, vor allem Maurice, leiden mit. Wie im Photostudio will Maurice es allen recht machen, tröstet, ermutigt, beschwichtigt, hält Händchen, füllt Wärmflaschen auf: der gute Mensch aus der Vorstadt. Mit Vollbart, Kurzhaar und gedrungener Gestalt sieht Timothy Spall als Maurice Mike Leigh sogar ähnlich.
An Roxannes 21. Geburtstag lädt Maurice die Sippschaft zum Barbecue; Cynthia bringt Hortense mit und stellt sie als Arbeitskollegin vor. Man reicht einander Schüsseln, Bestecke, Würste und Steaks, ein irrwitzig choreographiertes Ritual, das Mike Leigh ausnahmsweise nicht theaterhaft, sondern filmisch auflöst, indem die Kamera den Eiertanz zwischen Höflichkeit, Beklemmung und verworfenen Gefühlen selbst mitvollführt.
Aber dann platzt Cynthia mit der Wahrheit über ihre verheimlichte Tocher heraus, und dem Familienfest folgen, sollte man meinen, Katastrophe und Chaos: Vorwürfe, Anklagen, Offenbarungen. Nichts wäre vernichtender, und in der Negation käme die Sehnsucht zum Ausdruck, die unter dem ständigen Keifen, der Hysterie und Erschöpfung verschüttet liegt. Statt dessen folgen Tränen, Geständnisse, Eintracht. Plötzlich sprechen Leighs Helden nicht mehr, sie halten Reden, tun Absichten kund, und der Friede tritt ein, bevor ein Krieg überhaupt ausbrechen konnte.
"Lügen und Geheimnisse" ist Mike Leighs unpolitischster Film, ein Werk der Altersmilde. Der Familiensinn löst sogar die Klassenfrage, die keiner im Kino schärfer stellte als er. Barbecue sei Dank: Plötzlich sind Angestellte, Arbeiter und Kleinbürger am Stadtrand Londons ein Herz und eine Seele. So weicht die Endzeitstimmung von "Naked" der Sonntagsruhe. Idyllen werden nicht wahrer, wenn sie proletarisch daherkommen. (Christiane Peitz, DIE ZEIT Ausgabe Nr.38 vom 13.September 1996)
KOMÖDIE, Hongkong/Taiwan/China 1994 Regie: Stanley Kwan,
Buch: Edward Lam, Liu Heng nach einem Roman von Eileen
Chang Rehyer,
Musik: Johnny Chen,
Kamera: Christopher Doyle,
Darsteller: Winston Chao (Tung Zhen-bao), Joan Chen
(Wang Jiao-rui), Veronica Yip (Meng Yen Li), Zhao Chang (Tung
Tu-bao), Shi Ge (Rose), Shen Tong Hua (Wang Ze Hong), Lin Yan
Yu (Wu Ma), Shen Hua (Mr. Chang), Tong Zhen Fen (Schneider),
Shen Fan Qi (Wei Ying), Hong Rong, Yao Yuen, Zhou Li Qin, Fan
Jin Hua, Xu Yi Yun, Li Bin Bin, Wang Da Gen, Yin Ru Jia
Kinostart: 13/9/1996
Fernöstliche, aber sehr europäisch wirkende Version des Themas
"Mann zwischen zwei Frauen": In hermetisch abgeschlossenen
Räumen erfährt ein Mann die Liebe zur Frau eines andern und
gerät damit zwischen "weiße" und "rote Rose", zwischen
"Heilige" und "Hure" sozusagen. Der Verrat an der
leidenschaftlichen Liebe - er verläßt die "rote Rose" - läß ihn
nicht "anständiger" werden, der Verrat an der Ehefrau läßt ihn
verkommen. Ein kunstvoll inszenierter und trauriger Film, der
das unlösbar scheinende Dilemma zwischen Begehren,
gesellschaftlicher Anpassung und Selbstfindung präzise
beschreibt. (Zoom)
In einer wilden Mischung der Stile (expressionistisch,
surrealistisch, realistisch) adaptierte Kwan einen Roman von
Eileen Chang Rehyer. Angesiedelt in den 30er Jahren mit allen
Ost-West-Konflikten, umreißt die literarische Vorlage ironisch
das ewige Dilemma kultureller Reibungen. Der in Großbritannien
erzogene Manager (edel-gemein: Winston Chao) ist in Hongkong
hin- und hergerissen zwischen sexueller Obsession und
chinesischer Ehrenverpflichtung. Die rote Rose ist die
leidenschaftliche Geliebte (zum Niederknien sexy: Joan Chen),
die weiße Rose die unbeholfen brave Ehefrau. Mit der
Entscheidung für eine gnadenlose Bürgerlichkeit handelt sich
der zerrissene Mann nur Tristesse ein. Lebensliebe futsch, Ehre
gewahrt. So kann es gehen. (Angie Dullinger, AZ, 13.2.95)
(...) Ein Mann zwischen zwei Frauen, sozusagen Heilige und
Hure, die beiden weiblichen Archetypen. Kwan baut eine
hermetische schwelgerische Welt auf, die Kamera saugt sich an
Gesichtern und Tapetenmustern fest, sie berauscht sich an
Aufzugfahrten und Marienbildern. Während im Off über das Wesen
der Liebe gesprochen wird, sehen wir dem Protagonisten beim
Fliegenfangen zu, immer wieder werden längere Romanzitate
eingeblendet, leider in einer nahezu unlesbaren Schrift. Der
Film gehört folglich zu den eher rätselhaften Kinoerfahrungen,
ein Meer aus Schwulst und Studiopappe, nicht reizlos, aber sehr
fern. Auch das Fühlen ist eben ein Menschenrecht, und die
Grenze zwischen Pathos und Kitsch verläuft in China halt anders
als hier. Doch nicht jeder Mensch kann Chinese sein. (Harald
Martenstein, Der Tagesspiegel, 12.2.95)
LÜGEN HABEN LANGE BEINE
(THE TRUTH ABOUT CATS AND DOGS)
KOMÖDIE, USA 1996 Regie: Michael Lehmann,
Buch: Audrey Wells,
Musik: Howard Shore,
Kamera: Robert Brinkmann,
Darsteller: Uma Thurman (Noelle), Janeane Garofalo
(Abby), Ben Chaplin (Brian), Jamie Foxx (Ed), James McCaffrey
(Roy), Fritz (Kater), Hank (Hund)
Kinostart: 13/9/1996
Liebt er mich oder mein Aussehen? Um das herauszufinden, greift
die Tierärztin und Radiomoderatorin Abby zu einer List. Denn
obwohl sie Witz, Charme und Humor besitzt, hat die kleine,
rundliche Brünette oft genug erlebt, daß Männern vor allem
eines gefällt: große, schöne, blonde Frauen. Als der charmante
Fotograf Brian in ihrer Sendung anruft und sich mit ihr
verabreden will, beschreibt Abby dem Unbekannten kurzerhand
ihre Freundin und Nachbarin, das Model Noelle. Brian ist bald
begeistert von Noelle, die sich für Abby ausgibt, und auch
Noelle beginnt, sich für Brian zu begeistern. So hatte Abby das
nicht geplant. Sie führt mit Brian stundenlange Telefonate und
weiß, daß sie sich in ihn verliebt hat. Wie soll sie ihre Lüge
aufdecken, ohne Brian und ihre Freundin Abby zu verlieren?
(Katalog Filmfest München 1996)
USA 1996 Regie: Jon Avnet,
Buch: Joan Didion und John Gregory Dunne,
Darsteller: Robert Redford, Michelle Pfeiffer, Stockard Channing, Joe
Mantegna
Kinostart: 13/9/1996
Protegiert von Nachrichtenchef Warren Justice schafft Sally Atwater, ein Mädel
aus der Provinz, den Aufstieg zum Superstar unter den TV-Reportern. Ein
Liebesfilm vor der Kulisse der Bilschirmwelt, der Stars in vertrauten Rollen
zeigt: Redford (den Unbestechlichen) und Michelle (die Wunderbare, wieder mal
auf Karriere-Trip). Okay. (FALTER)