Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 27. September 1996 neu angelaufene Kinofilme


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ALASKA (ALASKA)

USA 1996
Regie: Fraser C. Heston, Buch: Andy Burg, Scott Myers, Musik: Reg Powell, Kamera: Tony Westman, Schnitt: Rob Kobrin, Darsteller: Thora Birch (Jessie Barnes), Vincent Kartheiser (Sean Barnes), Dirk Benedict (Jake Barnes), Charlton Heston (Perry), Gordon Tootoosis (Ben)
Kinostart: 27/9/1996

Der 14jährige Sean und seine 12jährige Schwester Jessie durchstreifen die Wildnis Alaskas. Sie sind auf der Suche nach ihrem Vater, der mit dem Flugzeug abgestürzt ist. Unterwegs freunden sie sich mit einem Eisbärbaby an, dessen Mutter vom Pelzjäger Perry getötet wurde. Und der hat seine Jagd noch nicht beendet. (Verleihprogramm)

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ANTONIAS WELT (ANTONIA'S LINE)

DRAMA, NL 1995, 93 min
Regie: Marleen Gorris, Buch: Marleen Gorris, Musik: Ilona Sekacz, Kamera: Willy Stassen, Schnitt: Michiel Reichwein, Wim Louwrier, Darsteller: Willeke van Ammelroy (Antonia), Els Dottermans (Danielle), Jan Declair (Sebastian), Marina De Graaf (Deedee), Mil Seghers (Crooked Finger), Veerle van Overloop (Thérèse)
Kinostart: 27/9/1996

Antonia kehrt nach dem 2. Weltkrieg als Witwe mit ihrer Tochter in ihr Heimatdorf zurück. Von den Dorfbewohnern vorerst mißtrauisch beäugt, ist sie entschlossen, ein kompromißlos selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein alter Verehrer macht ihr einen Heiratsantrag: "Meine fünf Söhne brauchen eine Mutter." Sie lehnt lachend ab: "Ich brauche deine fünf Söhne aber nicht." Ihre Tochter Daniælle hingegen möchte ein Kind, aber keinen Mann. Frauen-Beziehungen machen es möglich: Therese wird geboren. Das Wunderkind braucht eine Lehrerin, Lara, die gleichzeitig die Liebe in Daniælle entfacht. Antonia und ihre Frauensippe entlarven nach und nach die rigiden und heuchlerischen Strukturen der dörflichen Gesellschaft, und ihr Gehöft wird zu einem Anziehungspunkt für die Ausgestoßenen und zur Toleranz Bekehrten... - "Von der Regisseurin als feministisches Märchen bezeichnet, skizziert ANTONIA mit leichter Hand, Witz und Ironie fünf Frauengenerationen" (Zoom). - Der Film gewann in diesem Jahr den Oscar als bester ausländischer Film.

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GEORGIA (GEORGIA)

USA, F 1995
Regie: Ulu Grosbard, Buch: Barbara Turner, Musik: Otis Redding, Don Redman; Steven Soles (Produzent), Kamera: Jan Kiesser, Schnitt: Elizabeth Kling, Darsteller: Jennifer Jason Leigh (Sadie), Mare Winningham (Georgia), Ted Levine (Jake), Max Perlich (Axel), John Doe (Bobby), John C. Reilly (Herman), Jimmy Witherspoon (Trucker)
Kinostart: 27/9/1996

Georgia besitzt eine propere Familie und feiert zudem Erfolge als Country-Sängerin. Sadie, ihre jüngere Schwester, hat ein Leben lang in ihrem Schatten gestanden, und vermag sich auch jetzt als Erwachsene noch nicht daraus zu lösen. Verzweifelt kämpft sie darum, selber als Sängerin Anerkennung zu finden. Aber ihr Talent reicht nicht aus, deshalb verliert sie sich immer wieder in Exzessen und Abstürzen. Ulu Grosbard zeichnet die sensible Skizze einer Geschwisterbeziehung, die von Grund auf mißglückt ist, weil eine der beiden Frauen nie Raum für eine eigenständige Entwicklung hatte und so gezwungen ist, sich in einem ihr fremden Lebensplan zu verheddern. (Zoom, 5/96)

"Grosbards leiser, unspektakulärer Film ist angefüllt mit starken Szenen und noch stärkeren Darstellungen." (Blickpunkt Film)

Zwei Sängerinnen: zwei Schwestern - Georgia und Sadie. Die eine singt in den großen Musikhallen im Zentrum, die andere in den dunklen Kaschemmen on the road. Seit ihrer Kindheit lieben sie es, miteinander zu spielen, füreinander zu musizieren, gegeneinander zu konkurrieren.
Georgia ist die Erfolgreiche: Sie ist berühmt, anerkannt, beliebt. Sadie ist die Außenseiterin: Sie lebt am Rande und läßt nichts aus. Georgia singt klar, rein und virtuos: wie ein Engel - so, als müsse sie den Zauber des Paradieses beschwören. Sadie singt frivol, schmutzig und schamlos: wie der Teufel - so, als müsse sie all ihre Drogen- und Alkoholsünden in die Stimme legen. "Worauf ich hören muß? Bass and drums. Du darfst nicht spielen, nichts vorlügen!"
Georgia und Sadie, und die Geschichte ihrer Aufs und Abs. Wenn sie zusammen sind, ertragen sie sich nicht. Wenn sie getrennt sind, halten sie es erst recht nicht aus. Sie streiten, loben, schelten sich, mal distanziert, mal zugeneigt. Sie platze vor Bewunderung, Stolz und Liebe, erklärt Sadie einmal ihrer Schwester, um einen Augenblick später zu sagen, sie habe stets das Gefühl, wenn sie ihr gegenüberstünde, daß keiner zu Hause wäre.
Zwei Schwestern. Sie küssen - und sie schlagen sich. Nicht daß sie in ihrem Innersten einander feindlich wären; nur gegensätzlich bis zum Äußersten. Vergleichbar dem sanften Schneeweißchen und dem ungestümen Rosenrot im Märchen. Oder der reinen, heiligen, familienversöhnenden Iphigenie und der wilden, maßlosen, muttermordenden Elektra in der griechischen Mythologie. Oder auch der sympathischen, wohlklingenden Joan Baez und der zügellosen, exzessiven, rauhen Janis Joplin in der Popkultur der sechziger Jahre.
Georgia lebt in geordneten Verhältnissen, sie besitzt ein großes, komfortables Haus in idyllischer Umgebung, sie hat einen netten Mann und zwei freundliche Kinder. Und sie will nichts weiter, als in aller Ruhe ihr beschauliches Leben zu genießen. Der Refrain ihres Lieblingssongs: "No more hard times" - Nie wieder schwere Zeiten.
Sadie dagegen ist ein Kind der Hölle. Sie besitzt nichts und ist nirgendwo zu Hause. Für sie ist der Himmel immer schwarz, die Sonne blendet, statt zu wärmen, und Amerika ist ein Niemandsland ohne Grenzen. Ihre Männer wechselt sie so häufig, daß Georgia kaum darauf achtet, wie sie heißen. Als sie dann den jungen Axel kennenlernt, der sich voller Liebe um sie kümmert, wie sonst nur Frauen um ihre karrieresüchtigen Männer, weiß sie sofort, welche Chance sich ihr da bietet. Sie ist aufgeschlossen, engagiert, zärtlich - und doch unfähig, diese Chance zu ergreifen.
Sadie ist eine chanteuse maudite, eine Verfluchte, die aus dem normalen Rahmen fällt und jede Grenze überschreitet, die ihre Schwester nicht einmal kennt. Die Titel der Songs, die sie voller Inbrunst singt: Elvis Costellos "Almost blue", Van Morrisons "Take me back", Lou Reeds "I'll be your mirror".
Der belgisch-amerikanische Regisseur Ulu Grosbard, der eigentlich vom Theater kommt und seine Lehrzeit fürs Kino bei Elia Kazan und Sidney Lumet verbracht hat, gilt seit Jahren als Außenseiter, den nichts weniger interessiert als die Dutzendware aus Hollywood. Sechs Filme nur hat er in den letzten dreißig Jahren gedreht. Alle zeichnen sich durch die ungewöhnliche Intensität ihrer Darsteller aus. "Georgia", eine Mischung aus Musikerportrait und Psychodram, ist nach einer Idee der Schauspielerin Jennifer Jason Leigh entstanden - und nach einem Buch, das ihre Mutter Barbara Turner ihr auf den Leib geschrieben hat.
Grosbard und sein Kameramann Jan Kiesser, bekannt für seine märchenhaften Licht- und Farbeffekte für Alan Rudolph, haben viele Szenen in dunklen Innenräumen gedreht, in den Clubs und Kneipen Seattles, und die Geschichte dieser so verschiedenen Schwestern im bedächtigen Rhythmus eines Country-Songs erzählt. Es gibt die stets wiederkehrenden Szenen um Sadie als schwarzen Engel - wie bei einem Refrain. Und es gibt das stete Fortschreiten in der Handlung - im Krieg zwischen Georgia und Sadie. Dabei fordert Grosbard seine beiden Darstellerinnen voll und ganz: die wunderbar entspannte Mare Winningham (als Georgia); und die aufregend verrückte Jennifer Jason Leigh (als Sadie).
Sie wisse genau, was sie empfinde, sagt Sadie einmal zu ihrer Schwester. Georgias Antwort: "Nein, das kannst du nicht, denn du bist nicht ich!" Für diese Antwort hat Sadie nur ein kurzes Lächeln. "Das sollten wir lieber nicht vertiefen."
Später, nach endlosem Krieg und oft zu kurzem Frieden, bekennt Georgia, sie hasse Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Woraufhin Sadie ihr vorhält, sie lasse keine Gefühle zu, weder Leidenschaft noch Schmerz. Georgias verletzte Reaktion darauf ist Vorwurf, Wunsch und Demütigung in einem: "Sing nicht, Sadie, du kannst nicht singen!"
Doch Sadie singt und singt und singt. In der schönsten Szene des Films - sie dauert über acht Minuten - legt Sadie alles, was sie in sich hat, in ein Lied: ihre Rebellion, ihre Poesie, ihre Seele. "There's too much confusion in the world. / Take me back, take me way back . . . / Help me understand . . . / Take me back, take me way back." Für Sadie ist - das hat sie von Arthur Rimbaud gelernt, dem verfluchten Poeten - die erste Aufgabe des Sängers: "die volle Kenntnis seiner selbst". Der Sänger muß "nach seiner Seele tauchen", sie erproben und bilden und "ungeheuerlich machen" - durch "alle Arten von Liebe, Leiden, Wahnsinn". Davon erzählt Grosbards Film: "Die Stricke reißen / Du fliegst Dich frei . . . / Du brennst, wie es sich gehört." (Norbert Grob, DIE ZEIT Nr.40 vom 27. September 1996)

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GEFÜHL UND VERFÜHRUNG (STEALING BEAUTY)

Komödie, I / GB /F 1996
Regie:Bernardo Bertolucci, Buch: Bernardo Bertolucci, Susan Minot, Musik: Richard Hartley; Peter Afterman (supervisor), Kamera: Darius Khondji, Schnitt: Pietro Scalia, Darsteller: Liv Tyler (Lucy Harmon), Sinead Cusack (Diana Grayson), Donal McCann (Ian Grayson), Jeremy Irons (Alex Parrish), Jean Marais (Monsieur Guillaume), Rachel Weisz (Miranda Fox), D.W. Moffett (Richard Reed), Stefania Sandrelli (Noemi), Carlo Cecchi (Carlo Lisca), Iganzio Oliva, Rebecca Valpy, Francesco Siciliano, Roberto Zibetti, Joseph Fiennes, Jason Flemyng, Leonardo Treviglio
Kinostart: 27/9/1996

Ein junge Amerikanerin verwirrt mit ihrem Temperament und ihrer Schönheit die angejahrten Gäste einer Luxus-Villa in der Toskana. Unter ihren neugierigen Blicken sammelt sie in wildromantischer Landschaft unter Olivenbäumen erste Liebeserfahrungen und wird zur Frau. Altmeister Bernardo Bertolucci scheint bei dieser Lolita-Variante von allen guten Geistern verlassen. Die peinliche Jungfrauen-Story mit Newcomerin Liv Tyler erinnert fatal an einen kitschig-bunten Lore-Roman. (M.K.)

Lucy, Amerikanerin 17 Jahre jung, unkompliziert und unglaublich attraktiv, taucht plötzlich in einem toskanischen Landhaus auf. Alle Bewohner des Hauses, Intellektuelle, Künstler, Aussteiger der zynischen Art, sind fasziniert von dem spontanen Temperament und der Schönheit dieses Mädchens. Als Lucy nach drei Tagen wieder verschwindet, hat sie sämtliche eingespielten Beziehungen und festgefügten Lebensvorstellungen in diesem Haus verwirrt und zerstört... (Verleihprogramm)

Ein neunzehnjähriges Mädchen, das ausnahmsweise nicht Alice, sondern Lucy heißt, kommt des weiten Weges von New York in ein abgelegenes Landhaus in der Nähe von Siena. Alles weist mächtig und bedeutsam auf den Dialog zwischen Kunst und jener erdrückend schönen Toskana-Landschaft hin, die sich als Bühne für den melancholischen Stillstand so aufzudrängen scheint, wie sie auf eine Sinnlichkeit deutet, die anderswo, zu anderer Zeit, überwältigend sein mußte. Ein schönes Grab der Träume, ikonographisch leicht vernutzt - purer, unwiderstehlicher Kitsch.
Selbstverständlich liegt alles in tiefem Schlaf unter den üblichen Bäumen und der üblich flirrenden Hitze, als Lucy (Liv Tyler) ankommt. Ihre tote Mutter, die in einer ungeklärten intimen Beziehung mit den Besitzern des Hauses stand, hat sie testamentarisch hierhergeschickt, damit der Maler und Bildhauer Ian ein Portrait von ihr erstelle. Aber das war, wie Lucy gleich am Anfang feststellt, nur ein Vorwand. Wofür?
Es ist schon eine wunderliche Gesellschaft, die hier versammelt ist: Ian (Donal McCann) , der obsessive Künstler, der sich die Menschen zu Modellen macht und sein Holz wie verletztes Fleisch bearbeitet; Diana (Sinead Cusack) , die davon träumt, das Haus zu verlassen, weil sie es leid ist, stets für die anderen dazusein; ein kauziger alter Franzose, der mit Slippern wirft und beim PizzaEssen ausfällig wird und den Jean Marais traumhaft präsent gibt: wie nicht von dieser Kunst-Welt; der todkranke Schriftsteller Alex (Jeremy Irons) , der die "Obszönität des Sterbenden" für sich in Anspruch nimmt, wenn er mit Lucy spricht, darüber zum Beispiel, daß es für ihre Jungfräulichkeit andere Gründe gibt als ihr Warten auf die Erfüllung des Versprechens, das ihr der erste Kuß an diesem Ort zu geben schien; die "Briefkastentante" Noemi (Stefania Sandrelli), die zum Vergnügen aller die Briefe ihrer Leserinnen bei Tisch verliest, die träge, leicht verblühte Schönheit Miranda (Rachel Weisz) und ihr treuloser Liebhaber (D. W. Moffett), der Lucy seltsamen Schauspielunterricht gibt; dazu der aristokratische Nachbar und seine Familie.
Und da ist Daisy, Dianas kleine Tochter, die sich zum wer weiß wievielten Mal "The Wizard of Oz" angesehen hat, bevor sie in Lucy eine neue Freundin findet. All diese Personen haben mehrfach überkreuzte, teils offene, teils verborgene Beziehungen zueinander, ebenjenes träge emotionale Durcheinander von Eros und Familie, Intimität und Verrat, das sich an den Schnittstellen von bürgerlichem Luxus und ästhetischer Produktion zu bilden pflegt und das uns existenzgeplagte Kleinbürger zu dem Ausruf verleitet: "Deren Sorgen möchte ich haben!"
Dabei sind die Sorgen von Bertoluccis zweifelhaften Heldinnen und Helden durchaus fundamental. Mit dem Eintreffen des Mädchens beschleunigt sich die Agonie zum Zerfall, werden die Tragödien der lächerlich Begehrenden deutlich. Doch es gibt nichts zu entlarven, nicht einmal den narzißtischen Niedergang einer Klasse. "Stealing Beauty" ist alles andere als eine neue "Régle du jeu". Welche Regel? Welches Spiel?
Die Tücke in der Inszenierung aller Nichtereignisse dieses Films liegt darin, daß Lucy am Ende weder als Erlöserin noch als Opfer gewirkt hat. Sie hat nur auf die unterschiedlichsten Weisen die Blicke auf sich gezogen, sie hat geheult, geredet, Haschisch geraucht, zur rechten Zeit die falschen Männer vermieden und beim richtigen die Jungfräulichkeit verloren - aber das ist auf eine durchaus grausame Weise ganz und gar ihr eigener Roman. Selbst daß sie am Ende ihr (familiäres) Geheimnis löst, den möglichen Grund für den Vorwand ihrer Reise findet, erscheint eher in seiner Trivialität erleichternd, als daß es tiefer in eine beständig angedeutete, von den Protagonisten vielleicht gesuchte, vielleicht inszenierte mythische Konstruktion von Leben und Wahrnehmung führte. Die alten Männer der toskanischen Kunsthölle träumen vom Mädchen, träumen von der kraftspendenden, leidvollen Defloration, träumen mit einer bemerkenswert schamlosen Kamera, den Weg zum "unberührten" Geschlecht zu finden (zum Ursprung des Lebens, zur Bestätigung der eigenen Macht); sie träumen in Bildern, die sie sich unter wechselnden Vorwänden machen oder die sie nebenbei zu erbeuten versuchen. Das alles ist ganz und gar vergeblich.
Worum es also, in einem Fluß von eher prätentiös als großartig, eher gestohlen als gefunden erscheinenden Bilder gehen mag, ist die Rekonstruktion einer magischen sexuellen und ästhetischen Situation und ihre Entzauberung. Es ist die Verweigerung eines erotischen Kunstmärchens. Diese Struktur hat Bertolucci, darin ist er nach wie vor ein Meister, schon in einer kurzen Sequenz am Anfang zusammengefaßt, die zugleich von Lucys langer Reise und vom Status der "Stealing Beauty" als sich verweigerndes Objekt des Blickes erzählt: Lucy sitzt hingekauert in einem Zugabteil, eine Videokamera nimmt die Schlafende auf, die Schweißperlen, die Hand, die zwischen den Beinen liegt. Dann wird sie geweckt: Man habe Siena erreicht, sagt eine männliche Stimme.
Sie hastet aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig versucht sie ihre Sachen zu ordnen, bindet ihre Schuhe, während die Videokamera sie aus dem Abteil heraus weiter beobachtet. Nun wird sich Lucy dieser Beobachtung gewahr. Was er denn da tue, ruft sie dem Video-Voyeur zu. Fast ein wenig kleinlaut gibt der Mann zurück, er habe nur Spaß gemacht, und wirft ihr die Kassette zu. Sie fällt auf das Bahngleis, und Lucy holt sie sich, nachdem der Zug abgefahren ist. Um nichts anderes als um die gestohlenen Bilder und ihre Rückgabe wird es in der eigentlichen Intrige des Films gehen - darum, daß die Unschuld kein anderes Bild als das des Begehrens selber erzeugt.
Bertolucci freilich kann offenbar seiner eigenen Warnung nicht folgen, er rumort in der selbstgestellten Wahrnehmungsfalle, findet selber zu keiner radikalen Geste, sondern nur zu ebenjener kraftlosen, wenn auch durchaus ehrlichen Handlung, die erbeuteten Bilder ihren "Originalen" wieder vor die Füße zu werfen, bevor der Zug abfährt. Das Sterben der Männer (oder, anders gesagt: die Nutzlosigkeit der Kunst im Toskana-Nirwana) und das Glück des Mädchens haben nichts, nein: fast nichts miteinander zu tun.
"Bertolucci" ist der Markenname einer europäischen Bildermaschine, die aus dem unlösbaren Widerspruch von Revolte und Regression in die Tragödien des Lächerlichen zu entkommen trachtet. Es ist durchaus nicht antiaufklärerisch, das kleine obsessive Begehren im selben opernhaften Breitwandformat abzubilden wie die spirituelle oder ästhetische Erleuchtung. Und es ist eine gute Tradition der modernen europäischen Erzählweise, das Erhabene gerade in seinem scheinbaren Gegenteil, dem Lächerlichen, zu suchen. Freilich gibt es diesmal kaum noch jene letzte moderne Unterscheidung von Maskerade und Natur: Die Toskana-Landschaft als Wandtapete in Lucys Zimmer, die exakt den Blick imitiert, den man hat, wenn man aus der Tür tritt, erscheint sehr viel wirklicher als das Original, so wie im Schauspielunterricht das Spiegelbild begehrt und bedeutender wird als das Subjekt, das es produziert.
Bertoluccis Film ist Ausdruck und Reflexion der Krise von Symbol, Drama und Psyche im europäischen Film. Er erzählt vom Verschwinden der Zuhörer und der Entleerung des Blicks. Das macht ihn, die Balance von Kitsch und Kunst hin, die Möglichkeit, dem Lächerlichen ohne eine Spur von Humor zu begegnen, her, durchaus interessant. Aber Bertolucci löst sich nirgendwo von den Mythen, an die er nicht mehr glaubt, vom Blick, der ihm leer geworden ist (und daher oft in triste Komplizenschaft mit den Phantasien seiner lächerlichen Helden verfällt). Er ist, so scheint es, ermattet in jene Kultur zurückgesunken, der er einst die Revolution, dann wenigstens den Schock und schließlich immerhin den spirituellen Flash gewünscht hat. Der Blick des Films ist wie der Blick seiner Protagonisten: die Perspektive der Gefangenschaft. Das macht "Stealing Beauty" so bleischwer wie einen Nachmittag in der Toskana, an dem man eine Sehnsucht in sich aufsteigen fühlt, aber zu müde ist, sich zu fragen: wonach. (Georg Seeßlen, DIE ZEIT Nr.40 vom 27. September 1996

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DER UNHOLD

DRAMA, D / F / GB 1996
Regie: Volker Schlöndorff, Buch: Jean-Claude Carrière, Volker Schlöndorff nach dem Roman "Der Erlkönig" von Michel Tournier, Musik: Michael Nyman, Kamera: Bruno de Keyzer; Michael Sutor (Tierkamera), Schnitt: Nicolas Gaster, Darsteller: John Malkovich (Abel), Armin Mueller-Stahl (Graf von Kaltenborn), Gottfried John (Oberforstmeister), Marianne Sägebrecht (Frau Netta), Volker Spengler (Reichsmarschall Göring), Heino Ferch (Obersturmbannführer Raufeisen), Dieter Laser (Professor Blättchen), Agnès Soral (Rachel), Sasha Hanau (Martine), Caspar Salmon (Abel als Kind), Ilja Smoljanski (Ephraim), Daniel Smith (Nestor), Marc Duret, Luc Florian, Laurent Spielvogel, Philippe Sturbelle, Erick Deshors, Lyece Boukhitine, Jerome Keen, Sylvie Huguel, Patrick Floersheim, Simon McBurney, Vernon Dobtcheff, Jacques Ciron
Kinostart: 27/9/1996

Der kinderliebende französische Kriegsgefangene Abel Tiffauges erlebt den deutschen Faschismus als Faktotum auf einem Schloß in Ostpreußen, läßt sich von der Ideologie blenden und wird zum Handlanger des Systems. Zu spät begreift er die Propaganda der Nazis. Volker Schlöndorff entwirft nach Michel Tourniers Buch "Der Erlkönig" ein arisches Universum in opulenten Bildern, bekommt aber den schwierigen Stoff nicht in den Griff. (M.K.)
Der französische Kriegsgefangene Abel wird zum Jagdgehilfen Görings und Rekruteur der Elite- Schule Napola. Erst als Abel den kleinen Ephraim aus einem Todeszug von Häftlingen retten kann, begreift er den Wahnbsinn dieses Krieges. Aus dem Unhold, der Kinder fängt, entwickelt sich ein ungeheurer Gegner des todbringenden Systems. (Verleihprogramm)

"Das Buch von Michel Tournier hat mich zugleich fasziniert und geängstigt. Es ist eine sehr französische Sicht auf Deutschland, eine Art realistisches Schauermärchen. Es ist die Geschichte von einem, der zu Hause ein Nichts ist, dann in den Krieg gerät und auf einmal glaubt, daß sich nun sein Schicksal erfüllt, große Dinge auf ihn warten, und der dann in jedem Zufall, den er erlebt, eine geheimnisvolle Vorbestimmung sieht. Er ist ein wunderbarer Spinner, ein tumber Tor mit stark illuminierten Zügen. Und ganz zum Schluß erkennt er, daß es nichts Schlimmeres gibt, als zu glauben, man hätte ein Schicksal, dem man vertrauen kann." (Volker Schlöndorff)

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DIE WELT DER MAYAS

Dokumentarfilm, CAN 1996
Regie: Barrie Howells, Kinostart: 27/9/1996

Bis die Inschriften der Steinreliefs entziffert waren, hat es Jahre gebraucht: Mitten im Dschungel Mexikos und Guatemalas hatte sich eine Hochlultur entwickelt, deren Hintergründeman bis heute nicht vollständig kennt. Wie ein Puzzle tragen Archäologen die Reste der Maya-Welt zusammen.
Im Wiener IMAX-Kino hört man die Trommeln der Maya schlagen. Dringt in die Tiefen einer königlichen Grabkammer vor. Und hält den Atem an bei der Entdeckung prachtvoller Wandmalereien in einem Tempel. Lebendiger Geschichtsunterricht auf 400 Quadratmeter Leinwand... (Kurier)








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