USA 1996 Regie: Robert Altman,
Buch: Robert Altman, Frank Barhydt,
Musik: Hal Willner,
Kamera: Oliver Stapleton,
Schnitt: Geraldine Peroni,
Darsteller: Jennifer Jason Leigh (Blondie O'Hara), Mirinda Richardson (Carolyn Stilton), Harry Belafonte (Seldom Seen), Michael Murphy (Henry Stilton), Dermot Mulroney (Johnny O'Hara), Steve Buscemi (Johnny Flynn), Brooke Smith (Babe Flynn), Jane Adams (Nettie Bolt), Jeff Feringa (Addie Parker), A.C. Smith (Sheepshan Red), Martin Martin, Albert J. Burnes, Ajia Mignon Johnson, Tim Snay, Tawanna Benbow, Cal Pritner, Jerry Fornelli, Michael Ornstein, Michael Garozzo, Joe Digirolamo, John Durbin, Gina Belafonte Kinostart: 31/1/1997
Kansas City 1934. Die junge Blondie, deren leichtsinniger Mann Johnny den Zorn des schwarzen Gangster Seldom Seen erregt hat, entführt die Gattin eines Politikers, um Johnny mit dessen Einfluß zu retten. Es kommt zu einer scheinbaren Annäherung der gegensätzlichen Frauen, aber am Ende büßen Johnny und Blondie für ihre Übertretungen mit dem Leben. Kühl-komplexe, düstere Hommage an Altmans Heimatstadt, in der nur der Jazz einen Lichtblick bietet. Gut gespielt und formal ambitioniert, aber nicht wirklich einnehmend. (Zoom, 9/96)
Im Kansas City der 30er Jahre stört ein kleiner Ganove die Geschäfte eines großen Gangsterbosses, der an ihm sein Mütchen kühlen will. Als seine Frau am Vorabend von Wahlen eine Politikergattin entführt, um ihn freizupressen, beginnt ein gefährliches Spiel. Altmeister Robert Altman zeichnet seine Heimatstadt als Gangstermetropole mit der besten Jazz-Szene der USA (es spielen 21 Weltklasse-Solisten). Ein leidenschaftlicher und trauriger Film, verführerisch wie eine Droge. (M.K.)
Altman wird zum Altmeister. Er beweist es wieder mit dieser Entführungsgeschichte mit parteipolitischem Einschlag aus dem Kansas City der 30er Jahre. Allerdings ersheint die Story weniger wichtig als die faszinierende Milieuzeichnung und der gewaltige Jazzmusik-Soundtrack. (Thomas Engel, Der Gildendienst 514/15)br>
Weil ihr Ehemann Johnny, ein kleiner Ganove, eine große Dummheit begangen hat, begeht die Telegrafistin Blondie aus lauter Liebe eine noch größere: Sie kidnappt Carolyn Stilton, die drogenabhängige Ehefrau eines einflußreichen Politikers, um ihren Mann aus den Händen des legendären Gangster-Bosses und Jazzclub-Besitzers Seldom Seen zu befreien. Am Vorabend der Wahlen, zu den pulsierenden Klängen einer Non-Stop-Jam-Session der besten Musiker der Stadt, beginnt die tragisch-komische Odyssee von zwei ungleichen Frauen, die fast zu Komplizinnen werden. (Verleihprogramm)
Robert Altman vermischt in seinem neuen Film dokumentarische Jazzbilder mit einer Gangster-Story aus den dreißiger Jahren: streng musikalisches Kino, verraucht und mythenverhangen. Eine Ehrenrettung.
Das Geld bringt die Menschen auf dumme Gedanken. Robert Altman, der seine Filme derzeit nur mit Mühe finanzieren kann, spielt in seinem jüngsten, in Kansas City, von Anfang an die Kunst gegen das Geld aus. 1934: Die Korruption regiert die Stadt, in der das illegale gambling blüht wie die Wahlmanipulation, die Mafia und der Rassismus, wo die Gewalt sehr elegant, im Nadelstreifanzug Harry Belafontes auftritt. Ein Sündenpfuhl, der aber, wie alles im Werk Altmans, eine Kehrseite hat: In Kansas City ist es die Musik, der vitale Jazz, der der Depression Energie entgegensetzt.
Aber es gibt, neben dem Milieu, auch eine Geschichte in Kansas City: Ein Mädchen, das so heißt, als käme es direkt aus den funnies der Sonntagszeitung (Jennifer Jason Leigh als Blondie O'Hara), setzt einen absurden Plan in die Tat um. Blondies Leben, das dem einer Heldin der alten proletarischen Warner-Bros-Gangstermelo-dramen gleicht, wird von einer fixen Idee bestimmt: Sie entführt eine Dame der Gesellschaft (Miranda Richardson), um diese dem mächtigsten Gangster der Stadt (Belafonte) zu übergeben - im Austausch gegen ihren kleinkriminellen Liebhaber (Dermot Mulroney), der Belafontes Zorn erregt hat. Und die rauhe Leigh, mit ihrer knarrenden Stimme selbst eine Phantasiegestalt wie aus dem Film der dreißiger Jahre, liebt das Kino, imitiert Jean Harlow und Joan Crawford: Porträt einer Cinephilie.
Altman, seit jeher Amerika-Porträtist (Nashville, 1975; Short Cuts, 1993), hat mit Kansas City einen Film über seine Heimat gemacht. Mit 15, sagt er, war er schon Stammgast in den schwarzen Jazzclubs seiner Gegend - und seinen Film nennt er "a jazz memory".
Dennoch fühlt sich Kansas City nicht besonders nostalgisch an: ein Drama vielmehr über die komplexe Beziehung seiner Heldinnen, die ihr Opfer/Täter-Spiel - in halbdunklen Innenräumen meist - vollziehen, um schließlich zu einer Art Freundschaft, zu gegenseitigem Vertrauen zu kommen.
Die Musik ist der Rahmen dieser Geschichte, bringt sie immer wieder - luxuriös - zum Stillstand. Altman, der die Musik live, in verrauchten Bars, aufgezeichnet hat, gibt ihr Raum, verfolgt sie konzentriert: wie eine Hauptsache. Die charismatischen Interpreten (James Carter, Joshua Redman, Cyrus Chestnut) sorgen für Lust am Zuschauen, während sie ihre Kunst praktizieren, Blicke tauschen, live eben, lebendig ihre Arbeit tun. Kansas City ist ein Musikfilm.
Er sei primär an atmosphärischem Kino interessiert gewesen, nicht so sehr an einer linearen Story, sagt Altman über seinen Film, der so autobiographisch ist wie (in der Rekonstruktion eines längst vergangenen Kinos) cinephil. Aber das ist bei Robert Altman möglicherweise ohnehin dasselbe. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE)
LOOKING FOR RICHARD (AL PACINO'S LOOKING FOR RICHARD)
USA 1996 Regie: Al Pacino,
Buch: Al Pacino, Frederic Kimball, nach William Shakespeare,
Musik: Howard Shore,
Kamera: Robert Leacock, Nina Kedrem, John Kranhouse, Steve Confer,
Schnitt: Pasquale Buba, William A. Anderson, Ned Bastille, Andre Betz,
Darsteller: Al Pacino (Richard III.), Harris Yulin (König Edward), Penelope Allen (Königin Elizabeth), Alec Baldwin (Clarence), Kevin Spacey (Buckingham), Estelle Parsons (Margaret), Winona Ryder (Lady Anne), Aidan Quinn (Richmond), Kenneth Branagh, Kevin Kline, james Earl Jones, Rosemary Harris, Peter Brook, Derek Jacobi, John Gielgut, Vanessa Redgrave Kinostart: 31/1/1997
Wien – Was will er uns sagen, der William Shakespeare? Was soll es bedeuten, und liegt darin nicht jede Menge Aktualität? Wie legt man ihn an, den Richard III.? Wenn deutsche Starregisseure dafür monatelange Probenzeiten brauchen, dann dürften sie blaß werden, wenn sie sehen, wie exzessiv und aufwendig sich Al Pacino auf den Spuren des königlichen Hinkebeins umtut: Hier ein kleiner Ausflug zum Geburtshaus des Dichters, dort monologische Übungen vor angedeuteten Hungertürmen, dann wieder Interviews mit prominenten Kollegen: Also, wie geht das jetzt? Und vor allem: Wie macht man das alles wieder spannend für die Leute?
Looking for Richard, eine Low-budget-Dokumentation, die Pacino auch gleich selbst produziert und inszeniert hat, wird darüber weniger Infotainment über Weltliteratur als vielmehr eine unfreiwillig komische Abrechnung mit amerikanischer Theaterpraxis und dem vermeintlichen Allheilmittel method acting.
Wenn US-Kritiker diesen Volkshochschulkurs goutierten, dann bestätigt dies zwar Pacinos Befürchtungen, daß die Königsdramen in der Neuen Welt einiger Vorinformation bedürfen. Man könnte aber zum Kulturpessimisten werden, wenn man diese Hymnen liest und auf der Leinwand Geschmacksverirrungen sieht und hört, gegen die heimische Burgsommerspiele erlesen dastehen.
Ein Königreich für jeden sogenannten schlechten Unterhaltungsfilm möchte man hingeben, wenn man hier sieht, wie mickrig kostümierte "Stars" (von Alec Baldwin bis Winona Ryder) zu Knallchargen im Dienste falsch verstandener Hochkultur werden. Wie Pacino manieriert die Lesebrille ans äußerste Spitzchen seiner Nase treibt (Geistesanstrengung!) und dann wieder draufloslacht (Wissen macht Spaß!). Ausflüge ins Tierreich mit David Attenborough muten dagegen an wie Kältestudien von Robert Bresson. Ab morgen im Kino. (cp - DER STANDARD vom 30. 1.1997) br>
Al Pacino demonstriert in seinem heiteren Regiedebüt "Looking for Richard", daß Shakespeares Werk noch gut und wichtig ist. Obwohl ihm da kaum jemand je widersprechen würde. Um Lust & Laune geht es hier, auch dort, gerade dort, wo mancher ängstlich nur die Hochkultur wittert. Und die, so ein altes Gerücht, ist Arbeit für den Zuschauer. Kein Spaß.
Daß Shakespeare erstens doch Spaß sein kann, und daß dessen Werk zweitens noch immer, vier Jahrhunderte danach, "relevant" ist, wenn es darum geht, die Liebe und die Macht, Begehren, Politik und Staat, die Menschen also zu beschreiben, das zu zeigen hat einer sich zum Ziel gemacht, der wissen muß, wie Interpretationsarbeit abläuft. Der Mann ist einer der begehrtesten Mimen Hollywoods - und nun, mit Looking For Richard, ist er endlich auch Filmregisseur. Oder besser: Dokumentarist, denn Al Pacinos Regiedebüt ist der Wirklichkeit auf der Spur, auch wenn er diese (analog zu In Bed with Madonna) als Bilderbuch-Selbststilisierer letztlich kaum berührt.
So erblickt man in Looking For Richard vor allem Cool Al selbst (Baseballkappe, Sonnenbrille, hyperaktiv) als Straßeninterviewer ("Kennt ihr Shakespeare?") und als bebender "Richard III" auf der Bühne; oder Pacino im Kreise der Kunstkumpanen (Alec Baldwin, Winona Ryder, Kevin Spacey), beim Proben, Diskutieren, beim quasi-therapeutischen Rolleninterpretieren.
Dabei wird immerhin (noch einmal) deutlich, daß Pacinos Performances im Kino, ob Thriller (Heat) oder Romantik-Lustspiel (Frankie and Johnny), immer schon ein wenig - der ganze Spaß bei diesem Schauspieler - von der überlebensgroßen Tragödie infiziert waren.
Und Pacinos neue Lust am elisabethanischen Drama fällt jedenfalls zusammen mit manch anderem (Film-)Versuch derzeit, Shakespeare für das Amerika der späten Neunziger ehrenzuretten (als hätte der das nötig): Regisseur Baz Luhrmann wird etwa demnächst im Kino - mit den teen idols
Leonardo Di Caprio und Claire Danes - Romeo & Julia "modernisieren" (also heftig verkitschen); und der Brite Kenneth Branagh, seit Jahren strebsamer Shakespeare-Missionar, läßt sowieso auch weiterhin nicht locker. Unter all diesen Bemühungen, Shakespeare nahe zu sein, fällt Looking For Richard (ein ambivalentes Kompliment) noch am wenigsten unangenehm auf: weil es Pacino, bei allem eitlen Tun und aller MTV-Montage-Panik seines Films, nicht darum geht, Shakespeare zu verfilmen, sondern die Arbeit daran. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE)
Der eine Pfeil trifft seinen Buckel, der zweite die Brust, schließlich pfählt ihn ein Schwert von oben. Wie eine kaputte Marionette mit verhängten Fäden verröchelt Shakespeares blutrünstigste Königsbestie am grasigen Schlachtfeld. Weil aber dieser Greuelsmann die weltschmerzenden Augen, den selbstanklagenden Blick von Al Pacino besitzt, vernebeln dem Zuschauer dichte Mitleidsschwaden die Sicht, sogar schon zu ruchlosen Lebzeiten des Scheusals.
Pacinos Richard III. bleibt auch als Unmensch Mensch, und das beweist größte Schauspielkunst. Der vielfach preisgekrönte Hollywoodking Al der Erste glaubt an Shakespeare, pilgerte nach Stratford upon Avon ins Geburtshaus des Genies, zur Rekonstruktion des Londoner Globe Theatre und zu prominenten Shakespearekennern wie Sir John Gielgud und Kenneth Brannagh. Pacinos Glaube versetzte Berge - vor allem jene felsigen Probleme, die sich vor der Verwirklichung dieses Kingsize-Werbespots für den elizabethanischen Theatergiganten auftürmten.
Der improvisierte Mörtel zwischen den mitreißendsten Bühnenszenen, Probendiskussionen und Passantenbefragungen hält halbwegs. Und immer wiegelt Pacinos humorvolles Augenzwinkern den Ernst der Sache ab. Die Originalfassung bedingt, daß man des Englischen einigermaßen mächtig sein muß. Wenn Lehrer ihre widerstrebenden Schüler ins Kino vergattern, lohnt es sich absolutely. Roll over, Shakespeare. (Rudi John, KURIER)
USA 1996 Regie: Barry Levinson,
Buch: Barry Levinson, nach Lorenzo Carcaterra,
Musik: John Williams,
Kamera: Michael Ballhaus,
Schnitt: Stu Linder,
Darsteller: Kevin Bacon (Sean Nokes), Robert De Niro (Pater Bobby), Dustin Hoffman (Danny Snyder), Jason Patric (Lorenzo aka Shakes), Brad Pitt (Michael), Minnie Driver (Carol), Vittorioa Gassman (King Benny), Billy Crudup (Tommy), Ron Eldard (John), Terry Kinney (Ferguson), Joe Perrino (Shakes jung), Brad Renfro (Michael jung), Jonathan Tucker (Tommy jung), Geoffrey Wigdor (John jung), Bruno Kirby (Shakes'Vater), Frank Medrano (Fat Mancho), Aida Turturro (Mrs. Salinas) Kinostart: 31/1/1997
Vier Freunde kommen nach einem "Überfall" in eine Besserungsanstalt. Brutalen Wächtern ausgeliefert, erleiden sie Willkür und Vergewaltigungen. Nach der Entlassung trennen sich ihre Wege. Jahre später rächen sich zwei von ihnen an ihrem schlimmsten Peiniger. Ein Film über die Gratwanderung zwischen Recht und Gerechtigkeit. Eine provozierende Suche nach der Wahrheit hinter der Wahrheit. (M.K.)
Als der dem Film zugrundeliegende Roman erschien, wurde seine autobiographische Wahrheit schnell bezweifelt. Zu wild und unglaublich schien die Geschichte der vier Freunde in der Hells Kitchen von New York. Unter der Regie von Barry Levinson hat sich das Rachedrama nun zu einem brillant und kassenträchtig besetzten Ensemblefilm entwickelt, der mit den Mitteln des Hollywoodkinos effektvoll Sympathien schafft und Fragen nach der Authentität (und von Recht und Moral) erst gar nicht aufkommen läßt. (Andreas Fuchs, Filmecho/Filmwoche, 44/96)
(...) Der Film ist nicht wirklich unintelligent und auch nicht wirklich schlecht. Aber er findet sein zweifellos wichtiges Thema Kindesmißbrauch allzu langsam und bringt den Plot, ein Komplott für die gute Sache, zunehmend unglaubwürdig über die Runden. Wenn er seine Stars, freilich in mittelprominenten Nebenrollen, nicht hätte! Immerhin ist Robert De Niro als Priester einmal in der Rolle des bedingungslosen Gutmenschen zu besichtigen (fast so lieb wie Harvey Keitel in "Smoke"), doch erst Dustin Hoffman, als vertrottelter Suffkopp von Anwalt mit unvermuteten Parade-Qualitäten, rettet den so exponiert plazierten 140-Minuten-Film in der Nachspielzeit. (Jan Schulz-Ojala, Der Tagesspiegel, 30.8.96)
Barry Levinson demonstriert in einem ausholenden Filmepos, wie man den "amerikanischen Traum" zertrümmern - und mit wirkungsvoller Star-Action genußvoll reinszenieren kann.
Das Ausmaß einer Lebenstragödie mißt sich am besten an einer persönlichen Vergangenheit, in der die Welt noch irgendwie in Ordnung war. In diesem Sinn beginnen große Filmepen auch bevorzugt mit einem Abriß der anscheinend glücklichen Zeit der Kindheit.
"Es war einmal in Amerika" - ein Amerika der kleinen Abenteuer und der großen Träume; ein Amerika, das den naiven Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten als Zeit der süßen Unschuld feiert. Es war einmal in Amerika - so hieß auch der Film, in dem Regisseur Sergio Leone einst die prototypische Geschichte einer amerikanischen Karriere zwischen Abenteuerspielplatz und brutaler Wirklichkeit ansiedelte.
Eine krasse Variante dieser Geschichte wird - begleitet von einer etwas pathosgeschwängerten Off-Stimme - auch in Sleepers erzählt: Die "wahre Geschichte über eine tiefe, durch nichts zu erschütternde Freundschaft". Sie beginnt in einem New Yorker Stadtviertel namens Hell's Kitchen, einer Gegend, die wie eine Baustelle für robuste Charaktere anmutet.
Hin und her gezogen zwischen dem charismatischen Mafia-Boß King Benny (Vittorio Gassman) und dem integren, aber kollegialen Pater Bobby (Robert De Niro), erobern vier jugendliche Freunde in spielerischem Übermut die Straße. Erst als sie aus Leichtsinn einen schweren Unfall verursachen, beginnt für sie der sogenannte Ernst des Lebens: in einer Besserungsanstalt, in der sie vom sadistischen Wärter Nokes (Kevin Bacon) und dessen Freunden gefoltert und sexuell mißbraucht werden - und die sie viele Monate später als seelische Krüppel wieder verlassen.
Damit ist der amerikanische Traum geplatzt: nicht, im Gegensatz zur Hollywood-üblichen Gangsterbiographie, auf dem turbulenten Weg nach oben langsam ausgeträumt. An diesem Punkt macht Regisseur Barry Levinson (Rain Man, Disclosure) einen Sprung in eine andere Geschichte: die Geschichte eines Rachefeldzuges. Zwei von den vier jungen Männern sind inzwischen zu berüchtigten Kriminellen herangewachsen und lösen den Fall auf ihre brutale Weise - während die beiden anderen (Brad Pitt in der Rolle eines Staatsanwalts und Jason Patric als erzählende Hauptfigur) das Gesetz in ihrem Sinne krummbiegen und die Hilfe ihrer Freunde aus Kirche und Mafia in Anspruch nehmen, um die ehemaligen Peiniger trickreich aus dem Verkehr zu ziehen.
Im Laufe seiner zweieinhalb Stunden soll Sleepers also einerseits das existentielle Scheitern seiner Hauptfiguren Figuren durch harsche Institutionen- bzw. Sozialkritik begründen - während er andererseits einer Spannungsdramaturgie verpflichtet ist, die voll und ganz auf die (außergesetzliche) Integrität eines Teils seiner Helden baut. Man kann Sleepers daher als schmerz- und lehrhafte Fallstudie über den Konflikt gesellschaftlicher und individueller Moral (oder den unscharfen Begriff der Gerechtigkeit im allgemeinen) ansehen - oder aber ihn einfach als selbstbewußt gestylten Thriller ansehen.
Dem glanzvollen Auftritt seiner Stars ist es schließlich zuzuschreiben, daß es ihm besser zu Gesicht gestanden hätte, sich auf letzteres zu beschränken. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE)
Dieser verquere Vergeltungs-Thriller verläuft wie ein spannendes Match, das bereits zur Halbzeit abgepfiffen wird. Um nämlich anschließend als orgeldröhnender Gedenkgottesdienst fortgesetzt zu werden - in memoriam erste Hälfte. Teil eins dient eigentlich nur als Erklärung für jenen Rachefeldzug mit anschließender Gerichtsverhandlung, welcher den Bösen die gerechte Strafe, deren Vollstreckern aber den Freispruch einbringt - ist aber ein traumatisch brillantes Kinoerlebnis.
Die schachspielerisch angelegte Justizintrige dagegen wirkt säuerlich, fade, unbefriedigend. Diesen Makel hat der umstrittene Bestseller Lorenzo Carcaterras nicht. Der gab seine nunmehr verfilmte Story als eigene Leidensund Erfolgsgeschichte aus, blieb aber Beweise schuldig. Vier New Yorker Lausbuben spielen dem Würstelmann einen Streich und entführen seinen Wagen. Unglücklicherweise gerät der Karren außer Kontrolle, stürzt in eine U-Bahn-Station und auf einen unschuldigen Passanten.
Die Jugendstrafanstalt wegen schwerer Körperverletzung und boshafter Sachbeschädigung erweist sich als Folterhaft unter der Knute sadistischer Päderasten, die als Wärter dem Kleeblatt mit Spießrutenläufen aus Schikanen, Prügel, Vergewaltigungen die Hölle hinter Gittern bereiten. Während es zwei Burschen schaffen, später als Anwalt und Journalist die Vergangenheit wenigstens vordergründig zu bewältigen, werden die beiden anderen zu Drogendealern und Killern, denen eines Tages ihr schlimmster Peiniger vor die Läufe gerät...
Dustin Hoffman freakt brillant einen dodelhaften Anwalt, Robert De Niro inbrünstelt einen Priester, der an einen Gott der wahren Freundschaft glaubt, Brad Pitt schönt den gerissenen Jungstaatsanwalt usw. Nutzt alles nichts. Man wollte, man wäre zur Halbzeit gegangen. (Rudi John, KURIER)
CROW - DIE RACHE DER KRÄHE (THE CROW: CITY OF ANGELS)
USA 1996 Regie: Tim Pope,
Buch: David S. Goyer, nach James O. Barr,
Musik: Graeme Revell,
Kamera: Jean Yves Escoffier,
Schnitt: Michael N. Knue, Anthony Redman,
Darsteller: Vincent Perez (Ashe), Mia Kirshner (Sarah), Richard Brooks (Judah), Iggy Pop (Curve), Thomas Jane (Nemo), Vincent Castellanos (Spider Monkey), Thuy Trang (Kali), Eric Acosta (Danny), Ian Dury (Noah), Tracey Ellis (Sybil), Beverley Mitchell (Grace), Alan Gelfant (Bassett) Kinostart: 31/1/1997
Die Geschichte einer Liebe, die über den Tod hinausgeht: Im postapokalyptischen Los Angeles werden der Mechaniker Ashe und sein kleiner Sohn zufällig Zeugen eines Mordes - und daraufhin von den Killern des Drogenbarons Judah umgebracht. Die Krähe bringt Ashes ruhelose Seele in die Welt der Lebenden zurück, um die Schuldigen zu bestrafen. Dabei wird er von der jungen Sarah unterstützt. Angeführt von der Krähe beginnt Ashe seinen Rachefeldzug gegen Judah und seine Mörderbande. (Verleihprogramm)
Koksgeile, hinterfotzige Kanalratten meucheln hinterrücks einen Vater und dessen Sprößling. Das kräht nach Vergeltung. Der untote Vater treibt in der Finsternis des Drehbuchs irgendwie, irgendwo ein Rabenvieh auf, und - man ahnt es - der Feind muß Federn lassen. Der Feschak schultert die Zauberkrähe, die ihm kolossale Kräfte einflößt, und rupft die Mörder. In den Schlachtpausen läuft unser Held, kriegsbemalt wie ein Bandmitglied von KISS, wie eine aufgescheuchte Schnepfe durch die postapokalyptischen Gassen von L. A. und krächzt: "Ich werde sie bezahlen lassen!"
Damit könnte auch das Kinopublikum gemeint sein. Im Splatter-Showdown krallt sich der böse Ober-Ornithologe (mit dem Gfrieß eines Hühnerschänders) den Unglücksraben und . . . Ein Fall für Edith Klinger. Obwohl ernst gemeint, entpuppt sich die Fortsetzung des Kultfilms zum unfreiwilligen Lachschlager. Das kranke Hirn, dem dieses horrende Vogelei entschlüpft ist, könnte ein konkreter Fall von Hühnerwahnsinn sein. Einzig Iggy Pops hühnerbrüstiger Auftritt zeigt einen Anflug von Witz. Alle anderen Darsteller haben sich aus rein monetären Gründen verpflichtet - und die goldene Geiernase redlich verdient. (Monika Vanecek, KURIER)
USA 1996 Regie: Allison Anders,
Buch: Allison Anders,
Musik: Larry Klein, Karyn Rachtman,
Kamera: Jean Yves Escoffier,
Schnitt: Thelma Schoonmaker, James Kwei, Harvey Rosenstock,
Darsteller: Illeana Douglas (Denise Waverly Edna Buxton), Mat Dillon (Jay Phillips), Eric Stoltz (Howard Caszatt), Bruce Davison (John Murray), Patsy Kensit (Cheryl Steed), Jennifer Leih Warren (Doris Shelley), John Turturro (Joel Millner), Chirs Isaak (Matthew Lewis), Bridget Fonda (Kelly Porter), Peter Fonda (Stimme von Guru Dave) Kinostart: 31/1/1997
Eine Pop-Ballade mit Herz, Schmerz und Hits - und das von der Regisseurin solcher Indies wie "Gas, Food, Lodging" und "Mi Vida Loca". Es beginnt 1950, als die junge Frau aus reichem Hause, entgegen dem Rat der Mutter, in New York einen Gesangs-Wettbewerb und Plattenvertrag gewinnt. Edna Buxton hofft auf eine Karriere als Sängerin, doch nichts geschieht. Die Zeit der Solo-Damen ist nämlich vorbei. Der clevere Producer Joel Millner (Turturro mit Toupet) erkennt ihr Talent fürs Liederschreiben und bald macht sie als Denise Waverly für ihn Karriere. (Andreas Fuchs, Filmecho/Filmwoche, 40/96)
Ein ähnliches Problem hat Allison Anders in Grace of My Heart, der Geschichte einer Sängerin im Pop-Business der 50er und 60er Jahre (man darf Carole King als Vorbild annehmen). Auch Anders versucht, die Ursprungsmythologie einer Musik in Analogie zu ebendieser Musik zu erzählen.
Das bedeutet in diesem Fall: Ein Künstlerleben als Stationen-Drama, die Episoden jeweils auf Single-Format (Hoffnung und Neubeginn inklusive B-Seite mit der Enttäuschung), und auf jeder Single muß eine Welt Platz haben. Die Welt ist der Epoche entsprechend bunt, und die Figuren sind es auch.
Illeana Douglas spielt Denise (Künstlername) respektive Edna, die sich von hoffnungsvollen Gesangsanfängen über bittere Lehrjahre in der Industrie zur Existenz einer gereiften Singer-Songwriterin durcharbeitet. John Turturro ist ein verschrobener Platten-Mogul, Matt Dillon ein genialer Eigenbrötler. Hinter allen Figuren stehen reale Personen (Phil Spector, Brian Wilson), und reale Ausbeutungsverhältnisse im Business werden nicht beschönigt.
Trotzdem geht es nicht um eine Kritik am Menschenverschleiß im Pop Life, sondern um eine die sanfte Neuformulierung einer Autorentheorie: Daß sich gerade dort, wo die Zwänge am stärksten und die Umständen am widrigsten sind, die Individualität, um nicht zu sagen: die Humanität, erst richtig durchsetzt. Das ist natürlich ein pathetisches Konzept, aber es wird hier mit jener "Anmut des Herzens" formuliert (nicht zuletzt durch die Hauptdarstellerin), die der Titel verspricht.
Im übrigen ist diese Idee recht nahe der letzten bedeutenden Überlegung, die es in der Filmkritik gab – auch hier wurde die früher revolutionäre Autorentheorie irgendwann romantisch verklärt. Kino und Pop funktionieren einträchtig mythologisch, erst recht seit Video und Techno. (Bert Rebhandl, DER STANDARD vom 4/2/1997)
Eine geplagte junge Frau: Zuerst hat sie noch, daheim in Pennsylvania, bei einer Kleid-Anprobe mit der strikten Mutter zu tun ("The dress fits the occasion, it's you who doesn't fit"); wenig später, am Sprung zur Musikerkarriere in New York, erklärt ihr der bizarre Manager (John Turturro), daß er girl singers derzeit leider nicht verkaufen könne. Grace of My Heart erzählt von den pop-revolutionären späten fünfziger Jahren (und dem Jahrzehnt danach) - und von einer (fiktiven) jungen Komponistin, die ihre Lieder nicht immer nur für andere schreiben will. Illeana Douglas, bislang eher in Nebenrollen daheim (To Die For; Cape Fear; Quiz Show), spielt in Grace of My Heart ihre erste große Rolle: eine Stunde lang charismatisch-komödiantisch, danach - mit Matt Dillons Auftritt als psychisch verstörter Psychedelic-Surf-Musiker - vorwiegend melodramatisch.
Grace of My Heart, von Martin Scorsese produziert und von Allison Anders (Gas Food Lodging) geschrieben und inszeniert, träumt sich - immerhin - in eine Geschichte, wie sie rar ist in der modernen Materialvernichtungsmaschine Hollywood: in eine Story von der Popmusik, die sich um New Yorks legendäres Brill Building - ein Bürogebäude für begnadete Schlagerkomponisten - ereignet.
Neben (pop)kulturhistorischen Anliegen scheint es in Grace of my Heart aber auch um Frauenfragen zu gehen, um Beziehungsprobleme und etwa das Kinderkriegen. Illeana Douglas: "1958 war es unerhört, wenn Frauen im Popgeschäft etwas anderes taten als nur im Hintergrund zu schreiben . Ein Frauenfilm ist es daher sicher geworden: Wir haben versucht, eine spezifisch weibliche Perspektive zu entwickeln. An der Oberfläche ist das ein Musikfilm, er nimmt die Musik aber auch als Hintergrund, vor dem sich ein Frauenleben über die Jahrzehnte entwickelt - und so sehr verändert wie in gerade jener Zeit haben sich die Frauen nie wieder. Heute stagniert doch alles."
Mit der Musik, sagt Douglas, habe sie nie ein Problem gehabt. "Das war zwar vor meiner Zeit, aber ich liebe diese Art von Musik, den Phil-Spector-Sound, die Girl-Groups, Sixties-Pop. Als Kind schon nahm ich an Musicals teil: meine erste Show-Erfahrung. Und Filmmusicals wie A Star is Born hab' ich immer geliebt, so wie Allison: Wir mögen diesen Mix aus großem Melodram und süßer Musik."
Daß es (strukturell) doch riskant ist, von der Komödie so umweglos zum Melodram zu schreiten, wie das in Grace of my Heart passiert, war ihr anfangs nicht klar. "Eigentlich haben wir nicht mal gewußt, daß es eine Komödie sein würde. Aber dann waren wir eben am Set, Eric Stoltz, ich und John Turturro als dieser spector-ähnliche Pop-Produzent, und plötzlich war's dann eine Komödie. Und das Kippen ins Drama schien uns - am Papier - auch nicht so wild. Das alles hat doch mit den Launen des Lebens selbst zu tun."
Zum Thema Karriere gibt sie sich, wiewohl bekannt ambitioniert, bescheiden: "Ich erwarte nicht, daß Hollywood mich jetzt ruft. Ich entspreche wohl nicht dem üblichen Starprofil, außerdem bin ich, glaube ich, an Stories interessiert, die die für eher unkommerziell halten. Stars wie Sharon Stone, Sandra Bullock, Julia Roberts haben zwei Dinge gemeinsam: Sie sind total asymmetrisch - und sie sehen on camera gut aus. Aber die Tiefe ihrer Darstellungen hat mit meiner Vorstellung von Tiefe eher wenig zu tun."
In dem Song "God Give me Strength", verfaßt übrigens von Elvis Costello und Poplegende Burt Bacharach, will Illeana Douglas das Herz, das Epizentrum des Films sehen: "Da geht es um die Agonie des Künstlers - außen ist das Singen, drinnen der Schmerz. Davon zu erzählen, war mir wichtig. Nehmen Sie etwa das Konzept der audition, des Vorsprechens, Vorsingens für eine Rolle: Das ist das Härteste, das Schlimmste am Musikgeschäft, am Filmemachen. Man erholt sich, das wollte ich auch zeigen, eigentlich nie mehr von der audition, von diesem Streß und dem Schmerz. Dagegen ist das Filmemachen selbst dann ganz leicht." (Stefan Grissemann, DIE PRESSE)
Rührei aus der Musicbox, Nostalgie aus der Altkleidersammlung, Schicksal von der Vorhangstange. Und zu allem Überfluß kann sich diese Lebensbeichte über die Reifejahre eines multibegabten Pop-Girlies zwischen "Bravo"-Kitschreport und einer Short Story in "Das Beste aus Readers Digest" nicht entscheiden. Gab's so ein Herzschmerzchen wie die Waverly echt einmal? Und ihren bärtigen Clown von Producer auch?
Irgendwie argwöhnt man bei jedem fließbandartig herangetragenen Charakterprofil, das Original wäre die Fälschung bzw. umgekehrt. Aber wenn man endlich kapiert hat, daß für die vermeintliche Schlüsselstory gar kein Schloß vorhanden ist, findet man es nicht so übel, wie . . . . . . die höhere Tochter Denise Waverly in den late Fifties Bemutterung und Familienkonzern den Rücken kehrt, um auf eigenen Füßen in der damals boomenden Songfabrik des legendären New Yorker Brill Buildings als Songschreiberin die Ochsentour zu gehen.
Etliche Jahre, Männer, Kinder, Musikrichtungen und Rückschläge später erfüllt sich sogar ihr Traum einer Sängerinnenkarriere. Applaus, Applaus, schon ist es wieder aus. Und ehe der eingelullte Zuschauer in eine nahe Bar auf den nötigen Drink eingekehrt ist, trällert er einen der zuvor angehäuften Hits und hat alles andere schon wieder vergessen. (Rudi John, KURIER)
KINDERFILM, S 1979 Regie: Göran Graffman,
Buch: Astrid Lindgren nach ihrem gleichn. Roman,
Musik: Bengt Hallberg,
Kamera: Rune Ericson,
Schnitt: Jan Perrson,
Darsteller: Jonna Liljendahl (Madita), Liv Asterlund (Lisabet), Monica Nordquist (Mutter), Björn Granath (Vater), Lis Nilheim (Alva), Sebastian Hansson (Abbe), Brigitta Anderson (Frau Nilsson), Allan Edwall (Herr Nilsson) Kinostart: 31/1/1997
Die sechsjährige Madita, Tochter eines Zeitungsredakteurs um die Jahrhundertwende, setzt sich in der Schule für ein Mädchen aus armen Verhältnissen ein und wird dessen Freundin. Das ist ebenso ungewöhnlich wie der Entschluß ihrer Eltern, die Magd Alva zum Wohltätigkeitsfest für die Armen mitzunehmen, zu dem eigentlich nur die "bessere" Gesellschaft Zugang hat. Unterhaltsam und eindringlich inszeniertes Sozialmärchen von 1979 nach einem Astrid-Lindgren-Kinderbuch. (Heiko R. Blum, Kölner Stadt-Anzeiger, 14.5.94)
KOMÖDIE, USA 1995 Regie: Hettie Macdonald,
Buch: Jonathan Harvey, nach seinem Stück,
Musik: John Altman,
Kamera: Chris Seager,
Schnitt: Don Fairservice,
Darsteller: Linda Henry (Sandra Gangel), Glen Berry (Jamie Gangel), Scott Neal (Ste Pearce), Ben Daniels (Tony), Tameka Empson (Leah), Anna Karen, John Benfield, Jeillo Edwards, Daniel Bowers, Garry Cooper, Sophie Stanton, Julie Smith, Steven Martin, Catherine Sanderson, Liane Ware, Dave Lynn Kinostart: 31/1/1997
Ein heißer Sommer in einem jener trostlosen Betonwohnsilos im Süden Londons, wo zwei verschiedene Jungs zu Freunden werden, weil sie zu Hause bei ihrem alleinerziehenden Elternteil - des einen Vater durch die Trunksucht, des anderen Mutter durch Job und Liebhaber absorbiert - nicht klarkommen. Zarte (gleichgeschlechtliche) Liebesgeschichte, deren einfühlsame Behandlung des sexuellen Erwachens Jugendlicher von pfiffigen Dialogen, originellen Songeinlagen und prallem Optimismus durchdrungen ist. (Zoom, 12/96)
(...) So liegt auch diese Geschichte von wunderbar lebendigen Menschen einer Londoner Vorstadt stilistisch zwiscchen den Filmen von Ken Loach und Mike Leigh und nahe bei Angela Pope und dem früheren Stephen Frears. Es ist das Feeling fürs Alltägliche, das derzeit die britischen Filmemacher am besten rüberbringen. Die zarte Liebesgeschichte zwischen zwei 16jährigen Klassenkameraden und Nachbarsjungen im Wohn-Beton-Silo, das erste große Abenteuer der Sexualität, passiert wie beiläufig und wird zum romantischen Mittelpunkt im vitalen Kleinkram-Ambiente dreier heilloser Familien. (Frauke Hanck, AZ, 2.1.97)
Daß im Kino schwul-lesbische Themen noch immer in Scherzartikel verwandelt werden, kann dazu verleiten, jeden redlicheren Versuch gleich zu bejubeln. Beautiful Thing, das Regiedebüt der Britin Hettie MacDonald, erzeugt allerdings - trotz aller guten Absichten - einen zwiespältigen Eindruck. MacDonald erzählt in komödiantischem Ton von einer Liebe im Arbeitermilieu. Die sechzehnjährigen Schulfreunde Ste (Scott Neal) und Jamie (Glen Berry) leben in Thamesmead, einer Satellitenstadt Londons, die fest in der Hand der Working Class ist.
Aber nicht alles ist grau in dieser Welt, und so ist auch das Coming-Out der beiden Freunde alles andere als eine Katastrophe. Wenn Ste vom betrunkenen Vater verprügelt wird, findet er Zuflucht bei Nachbar Jamie und darf nachts bei ihm im Bett schlafen. Verliebtheit macht sich bemerkbar ein Kuß, ein Besuch im Schwulen-Pub, ekstatische Umarmung im Wald.
Eine Weile bleibt die ein wenig synthetisch inszenierte Jungenromanze geheim, bis dann Jamies Mutter doch beginnt, Fragen zu stellen. Mancher Aufgeregtheit zum Trotz ist Beautiful Thing kein Proletendrama voller neurotischer Ticks à la Mike Leigh geworden. Vielmehr geht es hier um gnadenlosen Optimismus. Die feel-good-comedy, die spürbar noch Theaterluft atmet, verlangt ihren Tribut: So sind auch die Krisen nicht für Ste und Jamie reserviert, sondern für die anderen. Für die schwarze Nachbarstochter etwa, die mit ihrer augenrollenden Mutter als penetranter Pausenclown herumhampeln muß.
Anderswo sind die Intentionen offenbar: Daß man auch als Arbeiterkind seine Homosexualität glücklich ausleben könne, wollte Jonathan Harvey, Autor von Bühnenvorlage und Script, zeigen. Wo man sich nicht mehr abverlangt, glückt natürlich auch der Versuch: Die Stereotypen werden korrigiert, die Liebe gelingt; aber warum dann noch die ängstlich wirkende Entscheidung, weitergehende Körperlichkeit zu vermeiden? Den Figuren in Beautiful Thing fehlt Tiefe, die Konflikte sind immer in Reichweite einer versöhnlichen Lösung, die Bilder laden den Blick nicht ein, in ihnen nach Spuren anderer, kleinerer Geschichten zu suchen. Könnte sich Beautiful Thing nicht auf sein Anliegen berufen, einer marginalisierten Gruppe auch ihr Recht auf Durchschnittlichkeit zurückzuerstatten, der Film würde schnell vergessen werden. (Robert Weixelbaumer, DIE PRESSE)
Daß es in einem Betonwald am Rande Londons ziemlich unmöglich, aber trotzdem herrlich ist, sich als 16jähriger Bursch ausgerechnet in den Nachbarjungen zu verknallen, zeigt Hettie MacDonald in ihrem kreuzbraven und jugendfreien Regiedebüt. Die Homokomödie räumt mit Vorurteilen auf, lehrt aber keine Moral. (Monika Vanecek, KURIER)
AMY UND DIE WILDGÄNSE (MIT DEN WILDGÄNSEN FLIEGEN / FLY AWAY HOME)
USA 1996 Regie: Carroll Ballard,
Buch: Robert Rodat, Vince McKewin, nach Bill Lishman,
Musik: Mark Isham,
Kamera: Caleb Deschanel,
Schnitt: Nicholas C. Smith,
Darsteller: Jeff Daniels (Thomas Alden), Anna Paquin (Amy Alden), Dana Delany (Susan Barnes), Terry Kinney (David Alden), Holter Graham (Barry Strickland), Jeremy Ratchford (Glen Seifert) Kinostart: 31/1/1997
In Form einer Parabel wird der schmerzhafte Abnabelungsprozeß der 13jährigen Amy nachgezeichnet, die nach dem traumatischen Unfalltod ihrer Mutter zum geschiedenen und völlig entfremdeten Vater in die idyllisch-abgelegene Wildnis Ontarios ziehen muß. (Verleihprogramm)
Der Film wirkt so unglaublich wie ein Märchen und hat doch realen Hintergund. Ein kanadischer Forscher wies nach, daß man Wildgänse auf ihrem Zug nach Süden angewöhnen kann, Menschen zu folgen, die einen Ultraleicht-Flieger pilotieren. Die Story: Ein Mädchen, das daheim in Kanada einige Küken vor dem Tod rettet, steht vor dem Problem, die Vögel in den Süden zu bringen. Amys Vater, ein Künstler, Erfinder und Hobbypilot, hat die rettende Idee.
Er bringt der Tochter das Fliegen bei, und die zeigt ihren Schützlingen den richtigen Weg. Das abgehobene Road Movie, das auf den Luftstraßen daheim ist, geriet zu einem der faszinierendsten Jugendfilme der letzten Jahre. Nicht nur wegen der phantastischen Kameraarbeit, die ohne viel Tricks auskommt. "Amy" ist auch ein politischer Film, der - ohne große Worte, mit eindringlichen Bildern - gegen Naturzerstörung und Profitgier Stellung bezieht.
Um das junge Zielpublikum in Atem zu halten, werden Menschen und Gänsen etliche Hürden in den Weg gelegt; von feindlichen Wildhütern über das Militär bis zu den Hochhausschluchten einer Großstadt. Doch auch Erwachsene vermag dieser liebenswerte Öko-Thriller in jeder Sekunde zu fesseln - nicht zuletzt wegen der jungen Oscar-Preisträgerin Anna Paquin ("Das Piano"). (Gunther Baumann, KURIER)