Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 21. Februar 1997 neu angelaufene Kinofilme


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IRMA VEP

F 1996, 98 min
Regie: Olivier Assayas, Buch: Olivier Assayas, Kamera: Eric Gautier, Schnitt: Luc Barnier, Darsteller: Maggie Cheung (Maggie), Jean-Pierre Léaud (René Vidal), Nathalie Richard (Zoé), Bulle Ogier (Mireille), Arsinée Khanjian (Amerikanerin), Lou Castel (José Murano), Nathalie Boutefou ( Laure), Dominique Faysse (Maité), Antoine Basler (Journalist)
Kinostart: 21/2/1997

Filmdiva aus Hong-Kong kommt nach Paris, um mit einem ehemaligen Nouvelle-Vague-Regisseur ein remake von Feuillades Klassiker "Les Vampires" zu drehen. In Ihr sieht der Regisseur die Reinkarnation der Filmfigur Irma Vep, doch aufgrund seiner künstlerischen Selbstzweifel gerät das Projekt in in ernsthafte Schwierigkeiten. Empfehlung (FALTER)

Um eine Hauptrolle in einer Neuverfilmung von Feuillades Stummfilm-Klassiker "Les Vampires" zu spielen, trifft der Filmstar Maggie Cheung aus Hongkong in Frankreich ein. Das Filmprojekt gerät an den Rand eines Desasters, als der einst gefeierte, nun verunsicherte Regisseur die Kontrolle über sich und das Projekt verliert und Intrigen die Filmcrew spalten. Olivier Assayas' Film ist eine persönliche Bestandsaufnahme zum Filmemachen in Frankreich. Mit fast dokumentarischem, nichts beschönigendem Blick, mal in ironischem, selten auch in sarkastischem Tonfall zeigt er die alltäglichen Niederträchtigkeiten und den Abgrund zwischen gängiger Verklärung und Realität der Filmproduktion.
Im Fernsehen sind Berichte über Filmproduktionen weitgehend zu eindimensionalen Publicity-Veranstaltungen degeneriert. Zwar wird dem Zuschauer suggeriert, hautnah dabei zu sein und hinter die "Kulissen" zu blicken (die oft eh nur noch digitaler Natur, also nicht existent sind); doch was da gezeigt wird, ist wohlkalkuliert, und Regisseur wie Darsteller spielen zum eigenen Nutzen am Rande des Sets noch ein wenig Theater. Vom wirklichen Filmemachen dürfen derartige Beiträge ebensoviel berichten wie etwa ein Generalsekretär vom Zustand seiner Partei. Kurioserweise sind da ins Gewand der Fiktion gekleidete Annäherungen an den Prozeß des Filmemachens wesentlich aussagekräftiger. Das mag so nicht einfach auf den wunderbaren Film "Living in Oblivion" (fd 31 491) von Tom DiCillo zutreffen, wohl aber auf die beiden Klassiker des "Genres": auf Truffauts "Die amerikanische Nacht" (fd 18 506) und Wenders "Der Stand der Dinge" (fd 23 696). Mit ihnen messen lassen muß sich Olivier Assayas' "Irma Vep", der von den Konflikten einer Filmcrew erzählt, die an einer Neuverfilmug von Louis Feuillades "Les Vampires" (1915/16) arbeitet - fürs Fernsehen, wohlgemerkt. An der Spitze des alles andere als homogenen Teams steht René Vidal, ein früher erfolgreicher Regisseur, der nun aber in einer Krise steckt - und so fehlt der Gruppe dann doch die Persönlichkeit, die sie zusammenhalten könnte. Während Vidal über den Ernst seiner Tätigkeit und den Umgang mit der kinematografischen Tradition sinniert, verzettelt sich die Gruppe seiner Mitarbeiter zusehends im routinemäßigen Alltagschaos einer Filmproduktion und in persönlichen Animositäten. Von der gerne beschworene "Vision", die künstlerischen Schaffensprozessen zugrunde liegen soll, ist man jedenfalls meilenweit entfernt.
Wo der Regisseur als "Kopf" der Filmproduktion nicht fungieren kann (an seiner Statt wuseln andere durch die Szenerie), tritt an seine Stelle eine Schauspielerin, die schon ob ihrer Herkunft ein Fremdkörper bleiben muß. Aber zumindest für Assayas ist sie so etwas wie die Seele in "Irma Vep": die facettenreiche Maggie Cheung, die in Action-Movies "Made in Hongkong" ebenso auftritt wie in Filmen von Wong Kar-wai oder Stanley Kwan. Ihr hat René Vidal für seine stumme Schwarz-weiß-Adaption des Feuillade-Klassikers die Rolle zugedacht, die Anfang des Jahrhunderts vom ersten "Vamp" des französischen Kinos, von Musidora (i.e. Jeanne Roques), gespielt wurde. Ihre Zurückhaltung und Gelassenheit machen sie bei aller Fremdheit (sie spricht natürlich kein Wort Französisch) zum ruhenden Pol in der Hektik der Produktion. Doch so, wie sie aus cineastischen Gründen für den Regisseur zum Objekt der Begierde wurde, wird sie es aus anderen Gründen für Zoé, eine junge Kostümbildnerin, die sich in den exotischen Star verliebt und verschämt um sie wirbt.
Assayas macht es dem Zuschauer nicht gerade leicht. Er glättet nicht das Chaos, stiftet nicht in einer zielgerichteten Dramaturgie Zusammenhänge oder vermittelt Botschaften über die Misere oder über den Zauber des Kinos (wie Truffauts Film). Statt dessen zeigt er Menschen bei der Arbeit der Filmproduktion, einer Tätigkeit, der so oft Glamouröses angedichtet wird, und die doch von ebensolchen Niederträchtigkeiten und profanen Konflikten geprägt ist, wie jeder andere Job auch. An einer Stelle läßt Assayas einen fast schon zur Karikatur geratenen französischen Filmkritiker im Interview mit Maggie Cheung über das Kino seines Landes herziehen, dem er Nabelschau und Geschwätzigkeit vorwirft. Derartige Kritik mag man auf den ersten Blick auch gegenüber "Irma Vep" üben - aber eigentlich trifft sie nicht zu. Etwas spröde ist der Film wohl, in gewisser Weise auch selbstreflexiv, aber geschwätzig wirkt er kaum. Dazu gelingen Assayas viele Charkterisierungen zu gut und zu lebendig, und dazu hat er zu interessante Schauspieler (allen voran natürlich Maggie Cheung, aber auch die aparte Nathalie Richard als Zoé). Leider verschwindet Jean-Pierre Léaud als distinguiert halstuchtragender, aber unter dem Gewicht der Filmgeschichte zusammenbrechender Regisseur allzu früh von der Bildfläche. Am Ende wird er kurzerhand durch einen anderen ersetzt. Auch Maggie Cheung sieht sich unversehens ausgebootet, doch ihr steht die ganze Welt offen: in den USA wird sie mit Ridley Scott für einen neuen Film zusammentreffen. (Hans Jörg Marsilius, film-dienst)

Song for Maggie. Ein großer Film der neunziger Jahre: "Irma Vep" von Olivier Assayas
Keine lange Vorrede, mitten ins Geschehen: Ein Film wird vorbereitet, ein Remake des Stummfilmklassikers "Les Vampires"von Louis Feuillade. Hektik im Produktionsbüro, die Sekretärin spielt mit einer Pistole aus der Requisite, während sie am Telephon mit dem Verleiher verhandelt: "Natürlich wird das ein künstlerischer Film!" Maggie, ein Star des Hongkong-Kinos (gespielt von Maggie Cheung, Star des Hongkong-Kinos), ist nach Paris gekommen, um hier die Hauptrolle zu übernehmen - die mysteriöse Gangster-Muse Irma Vep (ihr Name ist ein Anagramm von vampire).
Maggie agiert professionell, aber sie weiß nicht recht, weshalb der Regisseur des Remakes (Jean-Pierre Léaud als "legendärer" Nouvelle-vague-Autor René Vidal) gerade auf sie gekommen ist. Gleich sehen wir, warum: Léaud zeigt am Fernsehschirm einen Ausschnitt aus ihrem Actionfilm "The Heroic Trio"- in schwarzes Leder gehüllt und von der Schwerkraft befreit, demonstriert sie ihre Kampfkünste und tänzerische Eleganz. Dann sagt er zu ihr in gebrochenem Englisch: "That's why. This is the reason."
So werden die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit ganz durchlässig und manchmal aufgehoben: zwischen dem Film-im-Film und "Irma Vep"; zwischen der echten und der "fiktiven" Maggie; zwischen dem Regisseur René Vidal und dem tatsächlichen Regisseur Olivier Assayas. Für beide ist der Traum einer zeitgenössischen Irma Vep untrennbar mit dieser Schauspielerin verknüpft und mit dem Begehren, durch sie zu einem modernen Kintopp vorzustoßen, wo Abenteuer- und Autorenfilm in einem glanzvollen Feuerwerk zusammengehen. Assayas erzählt den Traum von innen und von außen, von der magischen und von der irdischen Seite. Er zeigt die Realität am Set, das heikle Beziehungsgeflecht im Filmteam; und er zeigt Maggies Unsicherheit, wenn sie im Latexkostüm Vidals fetischistische Irma-Vision umsetzen soll. Die Kostümbildnerin Zoe wird zu ihrer Vertrauten. Mit ihr findet sie eine neue Haut - im Sexshop, in der Bondage-Abteilung: Vidal hat vorgeschrieben, daß Irma Vep wie "Catwoman" auszusehen habe. Zoe nimmt Maggie als reale Person wahr und verliebt sich in sie, doch das bleibt eine nervöse und hoffnungslose Liebe. Jenseits der Einbildungen, im wirklichen Leben, sind die Dinge viel komplizierter als im Land der Vampire.
Aber dann, in tiefster Nacht und weitab vom Drehort, passiert dennoch das Unglaubliche. Bruchlos, ohne den realistischen Tonfall zu wechseln, verwandelt der Film Maggie in Irma Vep. Die Schauspielerin kann nicht schlafen. Sie hat Musik aufgelegt, Sonic Youth, "Song for Karen - "I feel like I'm disappearing / I'm getting smaller every day / But when I open my mouth to sing, I am bigger in every way." Maggie öffnet die Tür und streift vorsichtig durch die Gänge des Hotels. Sie betritt unbemerkt ein Gästezimmer, eine Frau telephoniert mit ihrem Liebhaber, völlig nackt. Maggie sieht den Goldschmuck im Bad, greift zu, flieht hinaus aufs Dach, in die gleißende nächtliche Beleuchtung, in den strömenden Regen über Paris. Sie duckt sich und läßt ihre goldene Beute in den Regen, in den Abgrund gleiten.
Im mittlerweile sieben Filme umfassenden Werk des 43jährigen Regisseurs Olivier Assayas sind solche Augenblicke häufig zu finden. Seit seinem Debüt "Désordre"("Lebenswut", 1986) sucht er nach authentischen Bildern und Tönen für ein bestimmtes Lebensgefühl seiner und der nachfolgenden Generation: ein Taumeln und Schlingern, eine Beschleunigung ohne konkretes Ziel, ein Außersichsein, ein Aus-dem-Zentrum-Rutschen. Momente des Glücks und tiefer Traurigkeit, ineinander verschlungen. Assayas inszeniert eine überzeugende Mischung von Pop und gelebtem Poststrukturalismus.
Die Genese vom "Irma Vep" ist ein Hinweis auf jenes besondere Gegenwartskino, dem der Regisseur angehört. Der Film war ursprünglich Teil eines Gemeinschaftsprojekts mit Atom Egoyan und Claire Denis, das nie realisiert wurde. Ein weiterer Freund, Wong Kar-wais Kameramann Christopher Doyle, vermittelte das Treffen zwischen Assayas und Maggie Cheung. Wie diese Kollegen betreibt er ein "musikalisches Kino". Das meint nicht nur die aktive, gestaltende Rolle von Popmusik in vielen ihrer Filme (als Antithese zur propagandistischen oder rein ökonomischen Funktion der Musik im Restkino), sondern vor allem eine Erzählweise, in der traditionelle Regeln der Dramaturgie durch "musikalische" Formen erweitert oder gesprengt werden: Timbre und Schlagrhythmus, Akkord, Solo und Riff. Dann kann man eine Fahrt auf dem Moped durch die glitzernde Nacht gerade so sehen, als würde man hören.
Der Regisseur René Vidal hat einen Nerven- und Kreislaufkollaps erlitten und muß ausgewechselt werden. Maggie verläßt Paris, aber zuvor verabschiedet sie sich von Vidal. Er lächelt verschmitzt. Sie sagt, sie verstünde jetzt; sie verstünde, warum. Währenddessen sitzt das Filmteam im Vorführraum, um Vidals Montage des bisherigen Materials zu begutachten. Alle sind überrascht, daß er überhaupt die Konzentration dafür aufgebracht hat - jede Nacht, nach dem Dreh. Wir sehen, was sie sehen: Schwarzweißbilder von Maggie im Kostüm, über den Dächern, und dann, immer heftiger, ins Bild geritzte Zeichen und Wunder. Kreise und Pfeile tanzen um ihr Antlitz. Ein kleines Scratch-Poem jenseits kommerzieller Verwertbarkeit; eine Hommage für Maggie und zugleich für freies Kino à la Vidal: Er wollte gar keinen "richtigen" Film, er wollte nur dieser Figur und dieser Frau begegnen - und zwar ästhetisch. Er wollte den Traum, eine musikalische Dichtung. "That's why. This is the reason." (© Von Alexander Horwath, DIE ZEIT 1998, Nr. 26)

Ganz am Anfang war das Kino seine eigene Sprache. Über die Pechsträhnen früher Komiker wie Max Linder wurde auf der ganzen Welt gelacht, und über die kriminellen Untaten des Fantomas rätselte man nicht nur in Paris, sondern auch in São Paulo.
Dann kam der Tonfilm, damit die Nationalsprachen, und heute sind wir soweit, daß man einen österreichischen Film schon in Deutschland nicht mehr versteht – in jeder Hinsicht. Unter anderem von dieser Erfahrung handelt Irma Vep. Olivier Assayas hält an der alten Idee fest, daß das Kino seine eigene Sprache ist. Aber er formuliert sie unter den Bedingungen der globalen Popkultur neu aus, und er gesteht dabei offen ein, daß die lingua franca auch im Kino heute Englisch ist. Die Franzosen sprechen diese Sprache kaum akzentfrei, vielmehr scheinen sie sie zu singen.
Irma Vep beginnt damit, daß Franzosen nicht mehr unter sich sind. Eine Frau aus Hongkong betritt ein Filmproduktionsbüro in Paris: Maggie Cheung, Action-Schauspielerin, Superstar in Fernost, ein Fabelwesen umso mehr, als sie echt ist. Maggie Cheung spielt sich selbst, und von jetzt an müssen viele Menschen Englisch mit ihr reden.
Ein Film soll gedreht werden. Die Wahl der Hauptdarstellerin ist so exzentrisch wie der Regisseur René Vidal (Jean-Pierre Léaud) und sein Projekt: Er will die berühmten Stummfilme Les Vampires von Feuillade aus den 10er Jahren neu verfilmen – wieder stumm. Eine eigenartige Idee, nur nicht für Maggie, die Fremde, die vom französischen Kino nicht viel mehr kennt als den Namen Delon.
Les Vampires war ein Schauermärchen mit verbrecherischen Geheimorganisationen, Hypnose und akrobatischen Einbruchdiebstählen – und damit gar nicht soweit davon entfernt, was Maggie Cheung in Hongkong an der Seite von Jackie Chan & Co. heute täglich macht. Aber der Regisseur zeigt ihr gleich zu Beginn ein Bild, wie er sich die mysteriöse Irma Vep vorstellt: Es ist Michelle Pfeiffer, die Catwoman aus Hollywood.
Assayas läßt die Zeichen tanzen, wie es die Buchstaben bei Feuillade tun: IRMA VEP wird VAMPIRE. Das ausgelaugte französische Kino holt sich frisches Blut aus Fernost und versteckt Maggie Cheung dann erst recht in einem Ganzkörperkostüm aus Latex. Die Ausstatterin Zoé (Nathalie Richard), die von Maggie besonders angetan ist, besorgt das Stück in einem Sex-Shop.
Assayas’ neue Weltsprache für das Kino setzt sich aus vielen alten Vokabeln zusammen, aber sie spielt damit ähnlich wie die Rapper mit Worten: Der Klang kommt vor dem Sinn, der "flow" regiert, die Semantik kommt später, ist aber nicht unwichtiger. Die hohe Kunst des Autorenfilms löst sich in seinen gleitenden Kamerabewegungen und in seinen sprunghaften Montagen auf – das Kino, immer schon ein bißchen langsam, probiert die Remix-Idee aus.
Die Erzählung wird deswegen nicht suspendiert. Irma Vep ist das, was es zu sein hat: eine Liebesgeschichte, eine unverkrampfte und keineswegs spröde selbstreflexive Film-im-Film-Geschichte, ein Reigen kleiner, aber nachdrücklicher Kurzauftritte.
Allen voran ein Mann, der in einem Café sitzt, als wäre er das Urgestein der alten Cinephilie: Lou Castel spielt den versandelten Regisseur José Murano, dessen Sozialhilfe gerade für ein Bier, dessen Aura aber immer noch soweit reicht, daß hoffnungsvolle Jung-Aktricen ihn hofieren.
Er soll nach dem Verschwinden von René Vidal den Film Les Vampires fertigstellen, und er reagiert, wie Ersatzleute reagieren: Er tauscht die Hauptdarstellerin aus. Der Reigen dreht sich weiter wie der Globus (Maggie ist inzwischen unterwegs nach Amerika), zurück bleiben keine Paare, nur Passanten. Und das Fragment eines Films. Das ist dann die letzte Überraschung dieses aufregenden Kunststücks. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 24/2/1997)

Olivier Assayas, junger französischer Filmemacher, denkt in "Irma Vep" über Improvisation und Schauspielerinnen in schwarzem Latex nach - und darüber, wie das Filmemachen zur Qual wird.
Läßt sich im Kino noch realistisch arbeiten, wenn man zugleich auch das Unwirkliche des Unterhaltungskinos mitdenken will? Ein elegantes Beispiel für den Brückenschlag zwischen Genre-Fiktion und Wirklichkeitsbildern findet sich in Olivier Assayas' neuem Film Irma Vep gleich am Anfang, programmatisch fast und dabei ganz lakonisch. Eine junge Chinesin, aus Hongkong angereist, weil man sie als Schauspielerin in einem kleinen französischen Film engagiert hat, betritt ein Pariser Produktionsbüro: Die Telephone läuten, die Menschen laufen durch Zimmer und Bilder - und nur die junge Frau bewahrt die Ruhe, obwohl vorerst keiner für sie Zeit zu haben scheint. Der erste Auftritt einer (realen) Filmheldin, im wackeligen Blick einer Handkamera, die nur zu dokumentieren scheint, was sie vorfindet. Und nebenbei wird ein Revolver, Requisit für irgendeinen Film, herumgereicht, vom Fahrer zur Sekretärin, die dann geistesabwesend mit der Waffe spielt, als wäre sie Ida Lupino oder Lauren Bacall, abgebrühte Gangsterheldin in einem ganz anderen Film.
Die Realtraumfabrik - oder: wie ich lernte, den Trivialfilm mit der wirklichen Welt zu verknüpfen. Hongkong-Superstar Maggie Cheung wird zum Objekt eines psychisch geplagten Regisseurs (Jean-Pierre Léaud), dessen unklare Vorstellungen vom Kino das Filmemachen behindern: Das Remake eines berühmten stummen Fantasyfilms, Les Vampires (Regie: Louis Feuillade, 1915), soll entstehen, wobei das Chaos am Set, die Vermischung von Privatleben und Job für kreative Stagnation sorgen. Maggie wird von der Kostümbildnerin (Nathalie Richard) umschwärmt, während der introvertierte Léaud in eine Krise gerät und sein Star im schwarzen Latex aus Inspirationsgründen zur Nacht in einem Hotel Verbotenes tut.
Assayas setzt konsequent die Rastlosigkeit seiner Figuren in fließende Kamerabewegungen und in eine Erzählung, die einfache Ideen vielschichtig, polyphon umsetzt. In Irma Vep bleibt alles offen, unabsehbar, während die Figuren - passend: Heimatlose, Treibende - an ihren Illusionen von der Liebe und vom Kino scheitern.
Feuillade, sagt Assayas, habe ihn gar nicht so sehr interessiert. Er schien nur eine gute Basis, um über Sex, Film, Frauen und Fetischismus zu erzählen. Ein Abenteuerfilm, eine Phantasie, ein Beziehungsmelodram, eine Komödie: Assayas reicht es nicht, ein Genre zu bedienen oder einfach nur Realist zu sein. Irma Vep ist mehr als die smarte Verdoppelung einer Kinosituation, mit einem Star als Fluchtpunkt der Phantasie für einen fiktiven (Léaud) und einen realen Regisseur (Assayas).
Wenn die Musik kommt, bleibt bei Assayas die Erzählung stehen. So wie die Pixies in Paris s'eveille für Minuten die Tonspur übernehmen, wie ein alter Song von Roxy Music in L'eau froide die Geschichte zum Stillstand bringt, so verfährt Assayas auch hier: Wenn die Gitarren von Sonic Youth zu kreischen beginnen, friert kurzfristig die Story ein, um einen Moment der reinen Bewegung zu ermöglichen. Kleine Wunder wie dieses findet man in diesem Film an jeder Ecke: Das Geschichtenerzählen allein ist Olivier Assayas immer schon zu wenig gewesen.
Irma Vep mündet in einen ersten Entwurf des Films, den Léaud - darf man annehmen - nie fertigstellen wird: Er sieht der Vorlage Les Vampires nicht einmal mehr annähernd ähnlich. So steht am Ende doch eine Trennung der Welten: Das Kino nach Assayas ist ein souveränes Gegenbild zur Realität, ein Raum, in dem sich alles denken läßt: das Wirkliche und das Phantasierte. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE)

Anfang der siebziger Jahre spielte Jean-Pierre Leaud in einem der schönsten Filme übers Filmemachen: Truffauts "Die amerikanische Nacht". Für "Irma Vep" ist er (in der Rolle eines durchgeknallten Regisseurs) in dieses Metier zurückgekehrt.
Doch der Vergleich fällt vernichtend aus. Autor/Regisseur Olivier Assayas, der offenkundig das Hongkong-Kino liebt und Frankreichs Filmemacher verachtet, hat eine wirre Zelluloid-Schnitzeljagd veranstaltet, in der sich Hongkong-Star Maggie Cheung in den Untiefen eines in zehn Tagen dahingekritzelten Drehbuchs verirrt. Vordergründig geht's in "Irma Vep" um das Remake eines Vampir-Films. Hintergründig um - irgendwie gar nichts. (Gunther Baumann, KURIER)

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HEXENJAGD (CRUCIBLE)

USA 1996
Regie: Nicholas Hytner, Buch: Arthur Miller nach seinem gleichn. Schauspiel, Musik: George Fenton, Kamera: Andrew Dunn, Schnitt: Tariq Anwar, Darsteller: Daniel Day-Lewis (John Proctor), Winona Ryder (Abigail Williams), Paul Scofield (Richter Danforth), Joan Allen (Elizabeth Proctor), Bruce Davison (Reverend Parris), Rob Campbell (Reverend Hale), Jeffrey Jones (Thomas Putnam), Peter Vaughan (Giles Corey), Karron Graves (Mary Warren), Charlayne Woodard (Tituba), Frances Conroy (Rebecca Nurse), George Gaynes, Mary Pat Gleason, Robert Breuler, Rachael Bella
Kinostart: 21/2/1997

Mit den Mitteln des Theaters wird derzeit wieder viel gearbeitet im Kino: Von Karmakar bis Ferrara und Lepage bemühen sich Filmemacher, die räumliche Beschränkung und die bühnenhaften Formen auf filmische Weise nutzbar zu machen. Daneben aber entstehen Filme, die sich deutlicher noch der theatralischen Basisarbeit verschrieben haben: Nicholas Hytners ist so ein Film - wie Al Pacinos Looking For Richard oder das Gesamtwerk von Kenneth Branagh.
Regisseur Hytner, jahrelang am Royal National Theatre, hat seine Hauptarbeit inzwischen ins Kino verlegt - und bleibt sich dennoch treu: Zunächst unterhielt er in The Madness of King George mit einer knorrigen historischen Farce; nun hat er, mit viel Lust am Kostüm und populären Filmgesichtern, ein Stück von Arthur Miller aufbereitet.
Ein heimliches Ritual unter Mädchen steht am Anfang der Geschichte, die sich an der US-Ostküste im 17. Jahrhundert zuträgt. Man bittet, am dampfenden Kessel im nächtlichen Wald, um Dämonenhilfe in Beziehungsfragen. Eine der erbitterten jungen Frauen (Winona Ryder) geht am weitesten: Sie fordert - via schwarzer Magie - gleich den Tod einer Nebenbuhlerin. Dabei wird sie beobachtet, die satanischen Umtriebe werden öffentlich, die Mädchen vors strenge Gericht zitiert.
Es folgt die Hölle, inszeniert von den Menschen: Es beginnt ein Tribunal, in dem die absurde Logik des Gerichts diejenigen, die besessen sind vom Teufel, zu trennen sucht von denen, die nur gute ängstliche Bürger sind. Im System der Denunziationen und der falschen Bekenntnisse (nur die werden nicht mit dem Tod bestraft, die zugeben, daß der Dämon in ihnen wütet), im Rausch der um sich greifenden Beschuldigungen und panischen Selbstbezichtigungen sieht sich bald das halbe Dorf eliminiert, zumindest wehrlos gegen den Lauf der Dinge.
Die Auslöserin der Tragödie, deren Mordgedanken das Drama erst ermöglichten, steht mit reinem Gesicht und üblen Absichten im Mittelpunkt: Als Ex-Geliebte Daniel Day-Lewis' versucht sie ihn, der sie bald nur noch haßt, von dessen Frau abzubringen, die sich - als Hexe denunziert - verhaften läßt, seinen Seitensprung aber längst verziehen hat. Ein kompliziertes Spiel nimmt seinen Lauf.
Nicht nur auf eine Weise kann man, bekanntlich, Millers Stück lesen, kein bloßes mittelalterliches Drama sollte da entstehen: Als seriöse Anklageschrift gegen Senator McCarthys Antikommunisten-Tribunal (und gegen jede radikal intolerante Gesellschaftsform) wollte Miller seinen Text - und nun wohl auch den Film zum Buch - verstanden wissen. Die Rechnung geht auf, während die Schreckensgeschichte von Unschuld und Sühne ihre Schlingen zuzieht: Der emotionale Wert des Dramas steigert sich in ein flammendes Melodram, in dem mit sich selbst gehadert, folgenschwer mißverstanden, gerungen und geopfert wird.
"I say God is dead!", brüllt Hytners Held verzweifelt noch in Kreuzigungspose, in einem letzten Akt der Freiheit, einem letzten Aufbegehren gegen die kollektive Verblendung: eine Geschichte, wie zugeschnitten auf das überbordende Schauspiel seiner Protagonisten - und wie gemacht für jene, denen das Kino in erster Linie ein Lieferant wuchtiger Menschen- und Mimenbilder ist. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE)

Förmlich erstickt in dezenter Weichmalerei mutet auch Arthur Millers Dramen-Adaption Hexenjagd in der Regie des Briten Nicolas Hytner an. Vor schroff abfallenden Küsten soll eine kleine Quäker-Gemeinde zu einem Mikrokosmos für Pharisäer werden.
Einer Kette von Denunziationen, zu der Miller bekanntlich von der Kommunistenhatz der 50er Jahre inspiriert wurde, fallen Unschuldige zum Opfer. Dem ehrenwerten Landmann John Proctor (Daniel Day-Lewis) wird eine Affäre mit der jungen Abigail (Winona Ryder) zum Verhängnis. Hytner verliebt sich förmlich in theatralische Arrangements eines Gerichtsverfahrens, bei dem sich Daniel Day-Lewis zunehmend zu einem Jesus des 17.Jahrhunderts hochstilisiert.(Claus Philipp, DER STANDARD, 17/2/1997)

Randgruppen und Außenseiter, Verhetzung und Fremdenhaß - Ingredienzien, die in diesem Hexenkessel brodeln sollten. Der schmort aber nur auf Sparflamme. Arthur Millers Paradestück über Denunziantentum und Fanatismus läßt sich in jede Zeit, an jeden Ort transportieren. Damit will sich die Verfilmung nicht die Finger verbrennen. Versteckt sich lieber unterm Spitzenhäubchen, stiert mit Scheuklappen verkrampft nach den Schuhspitzen, ohne nach links, rechts oder einfach geradeaus zu schauen.
New England, 1692: Junge Mädchen tanzen nachts ums Lagerfeuer. Manche davon sind nackt. Abigail, Rädelsführerin und Aufhusserin, verflucht eine Farmersfrau, in deren Ehemann sie unsterblich verliebt ist. Prompt wird die Bande von Abigails Onkel, einem Pfarrer, erwischt. Um der Strafe zu entgehen, schwören die Mädchen, der Teufel höchstpersönlich sei in sie gefahren.
Mit dem Meineid treten sie eine Lawine von Denunziationen und falschen Anschuldigungen los, die das ganze Dorf unter sich begräbt. Und rufen einen Klüngel auf den Plan, der von der Schlinge lebt: Inquisitoren und Dogmatiker. Die sich freuen, endlich ein paar Ketzer aufmischen und hängen zu dürfen. Damit in dem faden Kaff wieder einmal etwas los ist. Religion als unerbittliche, selbstgerechte Institution, ein tollgewordener Hund, der seine eigenen Schäfchen zu Tode beißt. Denn obwohl die Gottesrichter durchaus wissen, daß die meisten Angeklagten unschuldig sind - irgendeiner muß hängen. Wofür ist egal.
Winona Ryder zankt und schäumt sich durchs buchstabengetreue Drehbuch, Daniel-Day Lewis ließ sich zwecks Glaubwürdigkeit verschimmelte Zähne ins Maul montieren. Beide beten brav ihre Litanei herunter. Gerade die mit Wahnsinn überzogene Dramatik der Darsteller vergällt die Stimmigkeit und unterwandert subversive Spannungen. Durchschnittliche Erwartungen mag das befriedigen, wer echte Emotionen oder eine Politparabel erwartet, wird von der pathetischen Treibjagd enttäuscht sein. (Monika Vanecek, KURIER)

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KNOCKIN' ON HEAVEN'S DOOR

USA 1996
Regie: Thomas Jahn, Buch: Thomas Jahn, Kamera: Gero Steffen, Schnitt: Alex Berner, Darsteller: Til Schweiger (Martin Brest), Jan-Josef Liefers (Rudi Wurlitzer), Moritz Bleibtreu (Abdul), Thierry van Werveke (Henk), Leonard Lansink (Kommissar Schneider), Ralph Herforth (Assistent Keller), Huub Stapel (Frankie "Boy" Beluga), Corinna Harfouch (Schwester Labor B), Jenny Elvers (Schwester Labor A), Markus Knüfken (Polizist Franken), Hannes Jaennicke (Motorrad-Polizist), Christiane Paul (Verkäuferin), Hark Bohm (Polizeipsychologe), Helen du Val (Puffmutter), Bernd Eichinger, Sönke Wortmann, Dana Schweiger, Valentin Schweiger, Thomas Jahn, Christoph Ott
Kinostart: 21/2/1997

Was kann passieren, wenn sich zwei "kranke" Männer zufällig im Krankenhaus kennenlernen und in einer einzigen Sekunde beschließen, nochmal das Leben so "richtig zu genießen"? Zuerst einmal wird ein Auto "genommen", das einem nicht gehört und man fährt hinaus... Der Auto-Besitzer jedoch ist hinter dem Inhalt im Kofferraum her, da ihm der Inhalt nicht gehört und schickt seine "besten" Männer, um das Auto wieder aufzutreiben. (Verleihprogramm)

Dem Tod ein Schnippchen schlagen. Einmal noch das Leben erleben. Ein letztes Mal ordentlich die Sau rauslassen. Das Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit des Todes bringt Produzent und Darsteller Schweiger als bizarre Genre-Mischung, angesiedelt zwischen "Pulp Fiction" und "Ein Bayer auf Rügen", ins Kino. Ins Himmelreich will (fast) jeder. Nur, daß beim Sterben niemand der erste sein will. Til Schweiger schon gar nicht.
Den kernigen Naturburschen trifft nach einer Routineuntersuchung fast der Schlag. Diagnose: Krebs. Endstadium. Die Todesbotschaft will nicht in den tumorkranken Schädel, denn er fühlt sich putzmunter. In einem gestohlenen Wagen reißt er mit seinem gleichfalls todkranken Bettnachbarn aus. Die beiden freunden sich an, teilen Anzüge, Hotelbetten und Miet-Frauen. Ihr Ziel: Sie wollen ans Meer, das sie noch nie gesehen haben. Ein Wem-die-Stunde-schlägt-Spiel, das sich ständig selbst belächelt. Damit bekommt das Gleichgewicht von Komik und Tragik gefährliche Schlagseite.
Der epigonenhafte Highwaytrip verhehlt seine Tarantino-Vorbilder nicht, im Showdown landen Gute und Böse in einem Bordell, das "True Romance" heißt. Womit die Parallelen zum gleichnamigen US-Kult-Road-Movie klar wären: ein Cabrio, darin ein Koffer mit Geld, und der Last-Minute-Trip gerät zum Himmelfahrtskommando. John Travolta und Samuel Jackson wurden geklont, um die Helden zur Hölle zu schicken. Eine Spritztour, die Super fahren will, aber nur mit Buttermilch daherstottert. Profi-Action hilft dem Karren zwar ein bißchen auf die Sprünge, doch mit der Zeit gehen Sprit und Esprit zur Neige. Der Rest sind leere Kilometer. (Monika Vanecek, KURIER)

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FEMALE PERVERSIONS (FEMALE PERVERSIONS)

USA 1996
Regie: Susan Streitfeld, Buch: Susan Streitfeld, Julie Hebert, nach Louise J. Kaplan, Musik: Debbie Wiseman, Kamera: Teresa Medina, Schnitt: Curtiss Clayton, Leo Trombetta, Darsteller: Tilda Swinton (Eve), Amy Madigan (Madelyn), Karen Silas (Renee), Frances Fisher (Annunciata), Paulina Porizkova (Langley)
Kinostart: 21/2/1997

Leben und Befindlichkeit zweier amerikanischer Schwestern, Richterin die eine, Doktorandin und kleptomanisch veranlagt die andere. Beide sind etwa Mitte dreißig, ihr Verhältnis zueinander ist lange Zeit nicht gerade das beste. Zu den beruflichen und charakterlichen Irrungen und Wirrungen gesellen sich die sexuellen, und die haben, das bildet sich im Film langsam heraus, ihre Ursprünge in typisch Freudschen frühkindlichen Negativerlebnissen. Es handelt sich um den plausibel gespielten, mit vielen Frauen-spezifischen Assoziationen gespickten, mit Phantasien und Visionen versehenen, in menschlichen Grenzsituationen angesiedelten, mit sexuellen Träumen und "Perversionen" (?) angereicherten und bildlich sehr ausgeprägten Erstling einer Regisseurin, dem allerdings eine wesentlich klarere Ordnung der Gedanken und eine übersichtlichere filmische Montage gut getan hätte. (Thomas Engel, Der Gildendienst 514/15)

Vorlage für Susan Streitfelds gewagtes Regiedebüt ist Louise J. Kaplans gleichnamige Studie über weibliche Sexualität im zwanzigsten Jahrhundert. Clever konstruiert, fächert sich der Film in einzelne Fallbeispiele. Entlang des Werdegangs zweier Schwestern mit dem gleichen Kindheitstrauma werden diverse Neurosen abgehandelt, wie zum Beispiel Kleptomanie, Depression, Wiederholungszwang, Fetischismus oder Versagensangst. Leider geraten die Szenen häufig zu simpel, zu plakativ - Feminismus light. Der Hauptdarstellerin Tilda Swinton gelingt es nicht, die Neurosen als solche vorzuführen. Sie versteckt sie hinter affektierten Gesten und übertriebener Mimik. (Anke Leweke, tip, 24/96)

(...) Basierend auf dem Bestseller "Female Perversions" über weibliche Sexualität der Psychoanalytikerin Louise J. Kaplan, entzündet Regisseurin Susan Streitfeld ein filmisches Feuerwerk von selbstironischen Dialogen, deftiger Dramaturgie, Situationskomik und phantasievollen, bisweilen surrealistischen Bildern. (...) (Angie Dullinger, AZ, 21.11.96)

(...) Kurz gesagt, man muß diesen Film erfühlen. Wo man anderswo denken sollte, um zu begreifen, was sich hinter den Taten und Worten verbirgt, da muß man hier erleiden. Das ist die eigentliche Perversität dieses Films: daß er Lustfeindlichkeit nicht etwa als kulturellen Triebverzicht Freudscher Prägung denunziert, sondern als geheimes Zentrum weiblicher Lust wenn schon nicht feiert, so doch zumindest akzeptiert. Immerhin kann man nicht abstreiten, daß er damit Unbehagen auslöst. (Peter Buchka, SZ, 21.11.96)

Eve, eine dynamische Rechtsanwältin, hat gerade vor Gericht einen eindrucksvollen Sieg über einen schleimigen Geschäftsmann errungen und steht vor der Beförderung zur Richterin. Aber Eve ist längst nicht so selbstbewußt und professionell, wie es nach außen hin scheint. Sie wird von Zweifeln und Neurosen geplagt und schwankt zwischen extremen Stimmungen. Eves Schwester Madelyn, die ihre Doktorarbeit schreibt, ist noch verkorkster. Sie ist kleptomanisch veranlagt und krankhaft eifersüchtig auf Eve. Eines Tages wird sie beim Klauen erwischt und landet in einem Kleinstadtgefängnis. Eve versucht, sie freizubekommen...
"FEMALE PERVERSIONS bietet ein faszinierendes Zusammenspiel von Figuren, Bildgewalt und Ideen, dargestellt und realisiert von grandiosen Schauspielerinnen und einem vielseitig talentierten Produktionsteam. Das Regiedebüt von Susan Streitfeld ist wunderbar konstruiert und phantasievoll umgesetzt und wird getragen von der brillanten Darstellung Tilda Swintons. Der Film behandelt auf dynamische und vielfältige Weise die Themen Geschlechterrollen, Sexualität, Identität und Selbst-Findung" (Geoffrey Gilmore, Sundance Film Festival / Katalog Filmfest München 1996)

Unbeobachtet greift sie am Schreibtisch gierig in die bunte Smarties-Tüte, aber wenn sie sich ertappt fühlt - und dazu braucht es nur eine Putzfrau -, verkriecht sie sich schnell unterm Tisch. Auch gegenüber ihrem Boss, der ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten sehr wohl zu schätzen weiss, verfällt sie gern in eine ängstliche Kleinmädchenattitüde. Dieser regressive Rollenwechsel, eine besondere Art weiblicher Überanpassung, fällt im Alltagsleben allerdings weniger auf als vermutet, denn er überschreitet selten die Grenzen der Normalität. Nur im Zusammenhang mit der angesehenen Position dieser Evelyn Stephens, einer erfolgreichen Staatsanwältin, die demnächst zur Richterin ernannt werden soll, stimmen diese Verhaltensweisen durchaus nachdenklich. Daran, dass ihre übertriebene Sorge um die neueste Lippenstiftfarbe, um die verführerischsten Dessous oder auch ihre Bereitschaft zu aussergewöhnlichen Sexualpraktiken durchaus Zwangscharakter haben, lässt dieser Film von vornherein keinen Zweifel.
Er zeigt schonungs- und schamlos die verinnerlichte, geradezu paranoide Angst dieser Frau vor Regelverletzung. Man kann ihrer sich geradezu überschlagenden Phantasietätigkeit zusehen, den überall lauernden Augen, Ohren und Stimmen, die ihre Fehler ahnden, sowie ihre auf Kontrolle programmierten Reaktionsformen. Aber man sieht auch, dass es diese taxierenden Kontrollblicke wirklich gibt, sie sind keine Einbildung. Sie tasten sich entlang der sanft gerundeten Kostümschösse und des im Dienst dezent angedeuteten Ausschnitts, sie kommen aus weissen und schwarzen Gesichtern, es sind männliche Kontrollblicke. Sie sind Gesetz. Die in dieser Arena ausgetragenen weiblichen Konkurrenzkämpfe gehören in ein anderes Filmkapitel. Ein Teil des Erfolgs der Staatsanwältin Evelyn Stephens ist zweifellos das Ergebnis einer durchaus nicht ungewöhnlichen Bereitschaft zur Unterwerfung unter ein genormtes Weiblichkeitsideal.
«Perversion keeps despair and anxiety at bay» (Perversion hält Verzweiflung und Angst in Schach), heisst es einmal: ein Sinnspruch unter anderen, die in Form von «truisms», als «Binsenweisheiten», durch den Film spazieren. Oder: «Perversions are never what they seem to be» (Perversionen sind nie das, wofür man sie hält). Das für europäische Verhältnisse vielleicht etwas zu aggressive und extrovertierte Auftreten der Amerikanerin kann über das Erkenntnisziel des Films nicht hinwegtäuschen. Es geht, nicht ohne Ironie, um eine Reise ins Unbewusste. Am Anfang war der Traum. Ein verhüllter Körper, ein Seil, das sich immer fester zuzieht, balancierende Füsse, ein Drahtseilakt mit unbekannten Drahtziehern, maskiert. Es balanciert die Protagonistin. Ihre Existenz gleicht einer Luftnummer. Hochgradig absturzgefährdet. Dieser Angsttraum kehrt immer wieder, verändert, entwickelt sich. Der Sturz wird unvermeidbar. Aus der Karikatur einer Frau wird langsam wieder ein Mensch.
Dass es Susan Streitfeld und ihrer Drehbuchautorin Julie Hebert in jahrelanger Vorarbeit gelungen ist, aus einer Sammlung von Fallstudien der New Yorker Psychoanalytikerin Louise J. Kaplan eine Story um ein neurotisches Schwesternpaar herauszuarbeiten - die ebenfalls hochbegabte Schwester Eves, Madelyn (Amy Madigan) ist Kleptomanin -, ist ein Kunststück für sich. Ein weiteres, wie sich der Film von seinen schrillen, schrägen Anfängen, seinen eiskalten, gestylten Stadt-Interieurs in Klinischweiss mit Chrom in die Wüste zu Madelyn begibt, in eine Wärmezone in Sonnenuntergangsfarben, der Beginn eines langwierigen Erkenntnisprozesses. Die Wiederkehr des Verdrängten, die sich hier sukzessive entfaltet, wird aber keinesfalls besserwisserisch oder bilderbuchartig aufgerollt, sondern bleibt ganz innerlich, kulminiert in einem lautlosen Schrei und einem gefrierenden Bild, das endgültig Ablösung, aber für das Publikum nicht unbedingt Auflösung verheisst. Eine Offenbarung ist und bleibt das Spiel Tilda Swintons als Eve, die einspringen musste, weil sich keine amerikanische Schauspielerin für die Rolle fand. Mit hohem Körpereinsatz und mit allen Mitteln der Verfremdungskunst spielt sie das Spiel der Dekonstruktion von Weiblichkeitsstereotypen. Nur ein Bericht aus der Folterkammer des Alltags. Zum Lachen und zum Weinen.
Louise J. Kaplans «Female Perversions. The Temptations of Emma Bovary» ist auf deutsch im Goldmann-Verlag erhältlich unter dem Titel «Weibliche Perversionen. Von befleckter Unschuld und verweigerter Unterwerfung». (Marli Feldvoss, Neue Zürcher Zeitung, 29/8/1997)

Die Neurosen der Frauen
Tilda Swinton über ihre Rolle in «Female Perversions»
In den USA wollte sich offenbar niemand mit der Hauptrolle in «Female Perversions» die Finger verbrennen - Bestätigung einer Verdrängung, die Thema des Films ist (siehe nebenstehende Besprechung). So gelangten die Filmemacherinnen an die Britin Tilda Swinton, Lieblingsschauspielerin des verstorbenen Derek Jarman in Filmen wie «Caravaggio» oder «Edward II». Die Virginia-Woolf-Verfilmung «Orlando» machte sie auch einem breiteren Publikum bekannt. Marli Feldvoss hat sich mit Tilda Swinton am letztjährigen Münchner Filmfestival unterhalten.
Wie haben Sie sich auf die Rolle dieser erfolgreichen Staatsanwältin vorbereitet, die zwar kurz vor ihrer Ernennung zur Richterin steht, aber im Grunde völlig verunsichert ist?
Ein erster Schritt war die Lektüre des Buches «Weibliche Perversionen - Die Versuchungen der Emma Bovary» von Louise J. Kaplan, des Stützpfeilers hinter dem Drehbuch von Susan Streitfeld und Julie Hebert. Kaplan ist eine freudianisch-feministische Therapeutin und hat in diesem Buch eine Sammlung von Fallstudien zusammengetragen, in denen sie «weibliches perverses» Verhalten beschreibt. Es ist kein Roman, und die Figur der Emma Bovary dient nur als literarische Referenzfigur. Aber davon abgesehen war die Vorbereitung wie immer eine Mischung aus Imagination und Beobachtung.
Sie sind die ganze Zeit auf der Leinwand körperlich präsent, oft nackt, trotzdem ist das kein voyeuristischer Film. Sie bleiben fremd, vielleicht sogar weiter von sich selbst entfernt als sonst.
Was Sie beschreiben, kommt wahrscheinlich aus der Figur selbst, die derart von sich selbst entfremdet ist. Exhibitionismus gehört zu den Perversionen, die Kaplan beschreibt: Eve ist ein gutes Beispiel für eine Frau, die die entfremdete Beziehung zu ihrem Körper benutzt, um in der Welt existieren zu können. Aber sie ist eine Persönlichkeit; sie ist mehr als nur eine Figur, die Verhaltensweisen praktiziert, die mir fern liegen. Das grössere Problem war für mich, eine Amerikanerin zu spielen. Was in Amerika so ganz anders ist, ist die ungeheure Bewegungsfreiheit. Die Beziehungen der Menschen untereinander, zwischen Menschen und Objekten, zwischen Menschen und Strukturen. Da ist ein riesiger Spielraum; einfach viel Raum - um sich zu verbessern oder auch zu verschlechtern.
Sie haben den Film gestern am Festival hier in München zum erstenmal in Europa gesehen.
Ja. Das Publikum war auf die Ernsthaftigkeit des Films vorbereitet. Es liess sich nicht einschüchtern, nahm auch den Witz und die Leichtigkeit des Films an. Das war für mich sehr befriedigend. Dafür muss man etwa in England mehr kämpfen. Es ist eine Frage der Projektion, welche Farbe die Leute in einem Film, in einem Werk sehen wollen. Ich spreche nicht über ein typisch deutsches Publikum, das gibt es nicht; das war gestern einfach ein Festivalpublikum und ein besonderes dazu. Aber es hat mich an ein typisch europäisches Zuschauerphänomen erinnert: Es gibt eine Entscheidung für den Ernst. Man kann sich den Film in Europa mit einem ruhigeren Gewissen ansehen. Das gezeigte Verhalten ist zwar universell, aber in Europa tritt es versteckter, unterschwelliger, angepasster auf. Darüber müsste man länger reden.
Sie haben früher einmal gesagt, dass Sie an «transformation» glauben. Dieser Film beschäftigt sich ja mit der Verwandlung. Er führt entlang den Phantasien zu einer Wiederkehr des Verdrängten.
Für mich als «performer» ist Verwandlung das A und O meiner Arbeit. Auch eine Energie. Verwandlung kann nur im Medium Film zu einem adäquaten Ausdruck gelangen. Den Werdegang und den Seelenzustand solch einer Figur durch verschiedene Stadien nachzuvollziehen ist für mich noch immer die spannendste Aufgabe.
Gehen Motivationen des Buches und des Films für Sie zusammen?
Louise Kaplan hat dieses Buch geschrieben, weil die freudianische Theorie perverses Verhalten in neunundneunzig Prozent nur bei Männern beschreibt; Sadomasochismus, Pädophilie, Transvestismus usw. Das legt den Schluss nahe, dass es perverses Verhalten bei Frauen gar nicht gibt. Kaplan wollte zeigen, wie Frauen in einem «perversen Szenario» agieren, wenn sie, wenn wir fühlen, dass wir uns nicht wahrhaftig in der Welt bewegen können, so wie Emma Bovary es nicht konnte. Es geht um eine buchstäblich pervertierte Energie. Radikal an dieser These ist die Behauptung, dass solches Verhalten in weitaus grösserem Masse akzeptiert und viel stärker verbreitet ist als angenommen, dass es weniger sozial ausgegrenzt und ghettoisiert wird, sondern unterschwellig in unserer Gesellschaft präsent ist. Dazu gehören Kleptomanie, Exhibitionismus, Nymphomanie, Essstörungen und Selbstverstümmelungen, vielleicht sogar auch Bisexualität.
Im Grunde handelt es sich bei Eve und den andern Frauenfiguren des Films also um ganz normale Frauen, die in einer perversen Welt leben?
Der Ausdruck Perversion wird deshalb benutzt, weil dieser Ausdruck dafür zur Verfügung steht. Man kann kein Konzept der Perversion entwickeln, wenn man kein Konzept davon hat, was normal ist. Aber vielleicht steckt dahinter die Vorstellung, dass gerade unser Konzept von Normalität uns pervertiert. Wir müssen pervers werden, um da hinein zu passen, akzeptiert zu werden. Wie Robert Louis Stevenson in «Dr. Jekyll und Mr. Hyde» beschreibt, geht es bei der menschlichen Natur grundsätzlich immer um die Dualität des Menschen. Es ist kein binäres System, nicht das eine oder das andere, sondern es ist ein zusammenhängendes Bild. Solange man über Normalität spricht und solange die Gesellschaft normales Verhalten vorschreibt, so lange wird es auch perverses Verhalten geben. Weil es die einzige Möglichkeit ist, zu überleben, mit anderen zu konkurrieren, überhaupt zu existieren. (Neue Zürcher Zeitung, 29/8/1997)

Das einzig Dämliche an dem Film ist sein Titel. Leistungsangst und Beziehungsfrust, Vaterkonflikt und lesbische Neigungen: Das sind die Pole, zwischen denen das Leben der klugen, schönen Juristin Evelyn pendelt. Diese nicht wirklich sensationellen Anfälle von Stadtneurotikertum zu "Female Perversions" zu erheben, zeugt mehr von Marktschreierei als von Feminismus. Egal.
Der Frauen-Film von Susan Streitfeld (basierend auf einem Buch von Louise J. Kaplan) ist ein aufregendes und erotisches Psychodrama. Lust wird nicht nur angesprochen, sondern sinnlich und heiß ins Bild gebracht. Die Konflikte wiederum, an denen die Hauptfiguren zerbrechen oder erstarken, geraten zu blitzenden Wortgefechten voll Intelligenz.
Der Damen-Reigen, der hier Beziehungsfäden knüpft, reicht vom Glamour Girl über die Kleptomanin bis zum weltschmerzverzerrten Teenager. Im Mittelpunkt aber steht stets Tilda Swindon (Evelyn). Die geheimnisvolle Britin, die schon in "Orlando" betörte, wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Coolness und totaler Eruption. (Monika Vanecek, KURIER)

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LARRY FLINT - DIE NACKTE WAHRHEIT (THE PEOPLE VS. LARRY FLINT)

USA 1996
Regie: Milos Forman, Buch: Scott Alexander, Larry Karaszewski, Musik: Thomas Newman, Darsteller: Woody Harrelson (Larry Flynt), Courtney Love (Althea Leasure), Edward Norton (II) (Alan Isaacman), James Cromwell (II) (Charles Keating), Crispin Glover (Arlo), James Carville (Simon Leis), Brett Harrelson (Jimmy Flynt), Donna Hanover (Ruth Carter Stapleton), Norm MacDonald (Slick Reporter), Vincent Schiavelli (Chester), Miles Chapin (Milo), Richard Paul (Jerry Falwell), D'Army Bailey (Judge Thomas Mantke (Cincinatti Court)), Burt Neuborne (Roy Grutman)
Kinostart: 21/2/1997

The life of the real Larry Flynt lent itself infamously to discussion of the Constitution's First Amendment. As the movie shows, the erstwhile strip-club owner (Woody Harrelson) made a name for himself when he founded Hustler Magazine, an immodest, show-all pornography magazine that made Playboy's airbrushed pullouts look positively uptight. In perpetual conflict with the courts, which knew pornography when they saw it, he spent most of his adult life fighting the legal system.
The latter section of the movie pays attention to Flynt's darker episodes. Struck by an unknown assailant's gunfire as he left a courtroom, he was permanently crippled. He also lost Althea to AIDS. (Desson Howe - WashingtonPost)

Schon die erste Szene stellt eine Doppelmoral aus, die in weiterer Folge den roten Faden im neuen Film von Milos Forman (Einer flog über das Kuckucksnest, Amadeus) bilden wird. Ein kleiner Junge brennt aus dubiosen Ingredienzien illegal Schnaps, den er relativ einträglich an benachbarte Alkoholiker verscherbelt. Den Vater, der sich heimlich an seinem Produkt gütlich tut, bestraft er mit einem Schlag auf den Kopf. Rundherum ist Amerika vor allem archaisch schlammiger Waldboden.
Larry Flynt, der in weiterer Folge mit herbem Slang von Woody Harrelson verkörpert wird, bleibt als Erwachsener der Befriedigung niederer Bedürfnisse treu, und gleichzeitig hält er an einer leicht verquer formulierten "Gerechtigkeit" für alle fest. Als Erfinder und Herausgeber des Pornomagazins Hustler zettelt er einen Privatkrieg gegen den Prediger Jerry Falwell an.
Und er gewinnt einen mittlerweile legendären Prozeß vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten – als lahm geschossener Krüppel und lächerlicher Underground-Narr, auch über die Leiche seiner drogen- und aidskranken Frau Althea (Courtney Love) hinweg.
Im ursprünglichen Drehbuch von Scott Alexander und Larry Karaszewski, die bereits für Tim Burton den Trash-Filmemacher Ed Wood porträtierten, hätte daraus eine comichafte Satire werden sollen: ein drastisches Wechselbad von Dummheit und Geschmacklosigkeit, in dem die Rede vom Recht freier Meinungsäußerung zum höhnischen Abgesang auf verlorene Werte werden sollte.
Forman hat sich dagegen auf einen verhaltenen Tonfall beschränkt, in dem selbst die spektakulären Seiten von Flynts Vita wie lapidare Mißgeschicke wirken oder gar völlig ausgespart werden.
Ein Attentat auf den Verleger könnte weniger dramatisch kaum gezeigt werden. Wortgefechte vor Gericht sind mitunter klägliche Kasperliaden. Der "Sieg" ist kein Abmarsch vor den Säulen der US-Justiz, sondern eher ein melancholischer Genuß von Flynts Anwalt (Edward Norton) im Schatten derselben.
Vielleicht kommen darüber Flynt und sein Team ein wenig gar sympathisch weg. Nicht gezeigte Pornographie einzuklagen, wie dies zuletzt in Amerika wiederholt geschieht, scheint aber obsolet. Was wäre noch auszustellen, bloßzustellen, wenn selbst das Fernsehen täglich über Hard-Core-Produkte informiert?
Der Tod der heruntergekommenen, fast schon bewegungsunfähigen Althea am Ende, ihr geschundener Körper, und Flynts Verzweiflung über eine Katastrophe, auf die er beständig hingearbeitet hat, machen alle "nackten Tatsachen" überflüssig. Jeder steht hier für sich (und nicht für ein System) ein: Für seine Obsessionen, seine Ideale, seine Fehler, seine Rechte. Ein liberaler Film aus Hollywood. Eine Seltenheit. (Claus Philipp, DER STANDARD, 20/1/1997)

USA-weit löste Milos Formans „The People vs. Larry Flynt“, der am Mittwochabend in der großen STANDARD-Premiere vorgestellt wurde, heftige Debatten aus. Courtney Love spielt darin die Ehefrau des "Hustler"-Verlegers Flynt. Ein Interview.
"Es ist schon ein wenig ironisch, daß ich in diesem Film auftrete. Ich habe ja selbst schon Journalisten verklagt, weil sie nicht die Wahrheit sagten." Ein Interview mit Courtney Love. Oder: Die ganze Wahrheit unter Berücksichtigung einiger Episoden, über die "eine der berühmtesten Witwen Amerikas" als Stargast der Berlinale nicht sprechen möchte.
Der Film The People vs. Larry Flynt (Österreichstart am Freitag, siehe auch die Filmkritik unten) hat derzeit ausreichend mit Imageproblemen und tobenden Feministinnen zu kämpfen. Erinnerungen an Loves verstorbenen Ehemann Kurt Cobain, an Drogenexzesse der heute 30jährigen Sängerin von Hole – all diese Geschichten müssen hintanstehen, denn, so Love: "Im Vergleich zum Musikgeschäft ist Hollywood erwachsen, wenn Sie verstehen, was ich meine: Ironie zum Beispiel kann man dort gleich draußen an der Garderobe abgeben."
STANDARD: Feministinnen, die Sie früher zur Galionsfigur erklärten, halten den Film Larry Flynt für sexistisch. Das fragwürdige Lebenswerk des Herausgebers des Pornomagazins Hustler würde verklärt...
Courtney Love: Ja, und dann erhalte ich unter anderem Anrufe von Gloria Steinem, die eine gute Freundin von meiner Mutter ist und mir quasi von Feministin zu Feministin die Absolution erteilt. Es geht in diesem Film gar nicht um Pornographie, sondern darum, daß in Amerika auch das letzte Schwein Rechte hat, die zu achten sind.
STANDARD: Sie empfinden die feministische Empörung also als übertrieben?
Love: Pornographie gibt es seit der Steinzeit. Sie ist primitiv, eklig, nicht auszurotten. manche Ausführungen von Steinem im New Yorker etwa waren interessant, aber letztlich werde ich das Gefühl nicht los, Larry Flynt wäre für seine Gegnerinnen auch so etwas wie ein Prestigeprojekt. Würde man das Frauenbild in Filmen mit Jean-Claude Van Damme kritisieren, dann hätte man weniger Leser.
STANDARD: Sie spielen Flynts Frau Althea als einen bei allem Drogen- und Sexrausch integren Charakter. Wie haben Sie für diese Ihre erste große Filmrolle recherchiert? Love: Ich erinnere mich noch, wie ich als Teenager erstmals ein Foto Altheas in einem Magazin sah: Sie saß da mit giftgrünen Haaren in einer Badewanne, posierte wie Johnny Rotten und wurde als "erfolgreiche Pornographin" vorgestellt. Dieses Bild ist mir jahrelang nicht aus dem Kopf gegangen, erst recht nicht, weil die Gerüchte um Altheas Eskapaden mich heute ein wenig an das Getöse rund um meine Person erinnert.
STANDARD: Sie haben sich also identifiziert mit ihr?
Love: Was heißt das schon? In meinem nächsten Film soll ich eine Bankräuberin spielen. Da freue ich mich ja auch nur, daß ich endlich einmal mit einer Pistole eine Schalterhalle stürmen darf. Das ist ein kathartisches Erlebnis.
STANDARD: Warum haben Sie sich für Larry Flint beworben?
Love: Man hat mir ein Drehbuch zugespielt, und ich sah, daß ich da etwas einbringen kann: Der Abstieg einer Frau. Die letzte Rolle, die mich derart faszinierte, war die der Prostituierten in Last Exit Brooklyn. Leider hat man mich damals nicht genommen.
STANDARD: Wie sehr hat Ihnen dabei Regisseur Milos Forman geholfen? Sie hatten ja keine Schauspielausbildung.
Love: Milos ruht derart in sich, ist so selbstsicher, daß er völlig uneitel die Kreativität von anderen zur Geltung bringen kann. Vor allem hatten wir eine gute Ausgangsbasis: Er wußte nichts über meine bisherige Arbeit, meinen Ruf.
STANDARD: Dennoch wurde Ihnen angeblich für die gesamte Drehzeit jeglicher Drogenkonsum untersagt, ja sogar eine eigene Risiko-Versicherung für Sie abgeschlossen.
Love: Darüber will ich jetzt nichts mehr sagen. Es herrschte tatsächlich ein mitunter ekliges Mißtrauen der Produzenten. Gewisse Verordnungen werde ich in Hinkunft auch nicht mehr dulden.
STANDARD: Wird es wieder eine neue Platte von Ihrer Band Hole geben?
Love: Aber ja doch. In zwei Monaten stehen wir wieder im Studio. Ich trage dieses Projekt nicht nur seit geraumer Zeit in meinem Herzen. Es steht auch in meinem Vertrag.

Ein (...) Mann, Pornographie-Pionier, steht vor Gericht. Er hat einen Namen, der sich im Impressum seiner Zeitung findet, die mit schlechtem Geschmack gutes Geld macht: Larry Flynt, Herausgeber des legendären Eros-Satyricons "Hustler". Ihm wurde nun, nach Jahren der behördlichen Verfolgung, in Hollywood ein fröhlicher Nachruf zu Lebzeiten auf den Leib inszeniert: The People vs. Larry Flynt (zu deutsch, gewohnt verflachend: Larry Flynt: Die nackte Wahrheit). Er wurde von jenen Autoren, die schon die Karriere des Ed Wood klug kurzgefaßt hatten, geschrieben. Der Film gehört zu den wenigen aufsehenerregenden Programmpunkten der 47. Berlinale.
(...) Konkret (...) operiert Milos Forman, dessen Larry Flynt keine Sekunde lang etwas anderes als das infernalische Amerika im Visier hat. In grellen Farben und grelleren Scherzen rekapituliert der Exil-Tscheche eine sehr amerikanische Geschichte: die Karriere eines Erotomanen (Woody Harrelson), der das Opfer amerikanischer Intoleranz wurde - und doch gegen alle Instanzen gewann. Allerdings: Wäre da nicht Rockmusikerin Courtney Love (als Flynts drogenabhängige Gemahlin), die diesen Film mit dem nötigen Überdruck und explosivem Schauspiel versorgt, aus Larry Flynt wäre nicht mehr als ein trivial-stilgemischter Unterhaltungsfilm geworden, eine halb gescherzte, halb gelittene Hymne auf Amerikas heilige Pressefreiheit. (DIE PRESSE)

"Larry Flynt" wird nicht nur bei der Berlinale als brillantestes Hollywood-Produkt seit langem gehandelt. Ein "Presse"-Gespräch mit US-Rockstar und "Flynt"-Mimin Courtney Love.
Ein Mann macht Amerika lächerlich: Woody Harrelson gibt als Larry Flynt in Milos Formans Film eine schmierige Figur, einen, der für die Freiheit kämpft und doch nur in eigener Sache unterwegs ist. Larry Flynt ist ein Film über schlechten Geschmack, dessen Inszenierung zuviel guten Geschmack aufzuweisen hat, der das, wovon er spricht, nicht zeigen kann: Das pornographische Produkt des realen Flynt, das "Hustler Magazine", war jahrelang Streitpunkt vor Gericht, der Fall Flynt ein Medienspektakel. Daraus hat Hollywood nun eine Tragikomödie gemacht, stilunsicher inszeniert zwischen Popgroteske und Melodram, als blaß politische Farce, die keine Chance ausläßt, sich an Flynts absurder Showman-Anarchie zu belustigen, die sich prächtig als Entertainment benutzen läßt, ohne zugeben zu müssen, daß viel mehr als schnelle Unterhaltung in dem Stoff einfach nicht liegt.
Wenn es dennoch einen sehr guten Grund gibt, diesen Film zu sehen, dann heißt er Courtney Love. Diese Frau, neben dem überdrehten Harrelson zweiter Star und erste Attraktion, führt derzeit zwei Leben: als Chefin einer Rockband namens Hole und als Schauspielerin, wobei sie erstmals im Zentrum eines großen US-Films steht. In Larry Flynt spielt sie, nicht ohne clevere autobiographische Referenzen, die drogenabhängige Frau Flynts, die an Aids zugrunde geht.
Verfilmungen von Leben und Tod ihres Mannes Kurt Cobain, des durch eigene Hand gestorbenen Chefs der Band Nirvana , lehnt sie kategorisch ab: Da seien zuviele Lügen im Umlauf, zuviele Ausbeuter im Spiel. Die Rolle in Larry Flynt dagegen habe sie "nicht akzeptiert, nein: ich bin ihr nachgerannt. Die Idee, eine Frau zwischen 18 und 31 zu spielen, in einem Absturz, der sie in die dunkelsten Abgründe führt, die ich kenne, die Idee gefiel mir. Das Härteste daran war, meine Eitelkeit abzulegen. Ich bin ziemlich eitel, wissen Sie. Aber an Aids zu sterben, das sieht nicht so gut aus."
Love ist nicht erst seit Larry Flynt als Schauspielerin aktiv: Sie hat in den achtziger Jahren Nebenrollen bei Alex Cox (Sid and Nancy, Walker) absolviert, sie hat in Basquiat ein paar kurze Szenen. "Film", sagt Courtney Love, "fand ich immer faszinierend. Meine Freunde und ich bewarben uns, kaum volljährig, als Punkrock-Statisten. Auch im College nahm ich Film als Fach. Aber in meiner Alex-Cox-Phase wurde das alles so fürchterlich, daß ich nach Minneapolis abhaute, um eine Punkband zu gründen. Ein Agent sagte mir, daß es eben keinen Platz gäbe für desillusionierte weibliche Figuren im Kino. Da lief gerade Top Gun - und Meg Ryan war der große Star. Ich fragte, warum ich nicht eine Art Sean Penn sein konnte, denn für Männer war das sehr wohl möglich, frustrierte Charaktere, Rebellen zu spielen. Statt dessen bekam ich Comedy-Drehbücher..."
Half denn die Rockbühnen-Erfahrung bei der Filmarbeit? "Sehr. Die beste Art, ein Publikum zu fesseln, ist verletzlich, offen zu sein. Im Film geht es um das ständige Verfeinern des Ausdrucks, nicht so sehr um Überwältigung deines Publikums oder darum, am lautesten zu schreien. Gute Kunst, ob Francis Bacon, Emily Dickinson oder Leonard Cohen, handelt immer von Verwundbarkeit. Ich liebe es, mich hinter Rollen zu verstecken, man wird sonst leicht Teil des Zeitgeists und kollektiver Phantasien, ein Mythos, der langweilig ist und einen krank macht."
Wie lief die Vorbereitung ab? "Ich sah eine Menge Archivmaterial von der Frau, sprach mit Larry über sie; ich hungerte, um fünfzehn Kilo zu verlieren, um richtig krank auszusehen. Es war hart, so schwach und verletzlich zu sein."
Und Flynt selbst? "Was er beruflich macht, mag ich nicht, aber er ist nett. Sein Magazin hielt ich, vor diesem Film, für etwas, das Roadies im Bus lesen, für etwas, in das man manchmal reinschaut und heimlich darüber lacht, weil es so eklig ist. Es ist eben da, der schlechte Geschmack, überall zu kaufen und zu haben."
Für den Oscar wurde sie nun doch knapp nicht nominiert. Ärgert sie das? "Nein, gar nicht. Die Academy will eben noch mehr von meiner Arbeit sehen. Und, einmal ehrlich: Der Oscar geht nicht gerade selten an das Mädchen mit dem schönsten Kleid."
Die nächsten Pläne? "Zuerst, im April, mache ich die nächste Platte, danach zwei Filme, dann eine Tournee, dann den nächsten Film." Eine gespaltene künstlerische Identität also? "Ja, obwohl ich nicht ahnte, daß das so kommen würde. Ich dachte immer, daß Rockmusik und Filmemachen so weit voneinander entfernt seien wie Quentin Tarantino und Urge Overkill, eine Band, die ja auch mit Pulp Fiction zu tun hat - aber eben nur am Rande. Als Rockstar hat es im Kino eigentlich noch kaum einer geschafft: Sinatra vielleicht, aber das war eine andere Ära - und zählt Elvis denn? Er hätte gute Filme machen können, aber er hat es einfach nicht hingekriegt. Schon deswegen ist das Schauspielen für mich so etwas wie eine Grenze, die man übertritt, um auf völlig neuem Territorium zu stehen."
Der Erfolg jedenfalls überwältigt sie: "Ich meine, ich habe mit einer kleinen Punkband in Portland begonnen. Jetzt ist sogar die Kindergartenlehrerin meiner Tochter nett zu mir. Das ist doch was." (Stefan Grissemann, DIE PRESSE)

"Der Kongreß wird kein Gesetz erlassen, das die Freiheit der Rede oder der Presse einschränkt." So steht es im ersten Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Doch der Schutz der Freiheit kann die Toleranz der Beschützer auf harte Proben stellen. Denn was tun, wenn es jemanden zu verteidigen gilt, der ständig und stolz "Ich bin der Schlimmste" kräht? Der mit seinem schlechten Geschmack protzt und die Pressefreiheit als Erlaubnis versteht, mit grellem Sex und derben Satiren eimerweise Geld zu scheffeln?
Larry Flynt ist so ein Rüpel, und man muß kein Puritaner sein, um ihm und seinem wichtigsten Werk, der Sex-Postille Hustler, mit einer gewissen Reserve gegenüberzustehen. Regisseur Milos Forman berichtet, ihm seien zu Flynt und Hustler zunächst nur Vokabeln wie Schund oder Ausbeutung eingefallen. Doch dann hat er sich mit dem Erotomanen näher beschäftigt und aus seinem Leben einen der großartigsten Filme des Jahres gedreht: ein Fanal für die Toleranz, das spannend ist wie ein Thriller und mit seiner Offenherzigkeit auch Lustfeinden die Herzen öffnen mag.
Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der nur durch Zufall zum "regimekritischen Verleger" wurde. Denn eigentlich ging's ihm darum, Titten und Ärsche möglichst geil ins Blatt zu rücken. Doch weil der Zeitgeist dies unappetitlich fand, landete Flynt vor dem Richter, im Gefängnis und schließlich im Rollstuhl. Seit einem (niemals aufgeklärten) Attentat 1978 ist er querschnittgelähmt. Die politische Botschaft wird im brillanten Drehbuch von Scott Alexander und Larry Karaszewski ("Ed Wood") spielerisch unters Kinovolk gebracht.
Die Thesen sind sanft in die Lebenslinien des Flynt-Clans eingeflochten. Wir sehen dem zwischendurch ziemlich kotzbrockigen Macho Flynt und seiner erotisch-melancholischen Muse Althea beim Leben zu und sind plötzlich mit Fragen wie dieser konfrontiert: "Was ist obszöner - Sex oder Krieg?" Milos Forman hat den Film mit aufregender Bildsprache inszeniert. Seine Schauspieler sind wunderbar. Voran Woody Harrelson, der den Porno-Poltergeist Flynt zum letztlich liebenswerten Exzentriker macht, und Courtney Love, die als Althea zwischen den Polen Provokation und Verletzlichkeit zerbricht. (Gunther Baumann, KURIER)








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