Valérie, ein Mädchen Anfang Zwanzig, weiß seit kurzem, daß sie schwanger ist. Frühmorgens in einem Cafe erzählt sie es ihrem Freund Remi. Er fühlt sich überrumpelt, reagiert verwirrt und unentschlossen. Ohne es wirklich zuzugeben, ist Valerie von seiner Reaktion enttäuscht. Das Gespräch verläuft zerfahren und eher wirr, beeinträchtigt von gegenseitiger Verunsicherung und unterschwelliger Gereiztheit.
Valérie muß für eine Stunde weg. Sie tritt ihren neuen Job im Room Service eines Hotels an und soll sich heute vorstellen. Sie schlägt Remi vor, im Gafe zu warten, bis sie zurückkommt.
Als Valérie in der Küche des Hotels erscheint, wird sie schon erwartet. Nach einer kurzen Einschulung beginnt sie gleich zu arbeiten. Hinter den Türen der endlosen Gänge warten die Gäste auf ihr Frühstück. Freundliche Gäste, anstrengende Gäste, seltsame Gäste. Ebenso flüchtig wie zu den Gästen sind Valeries erste Kontakte zu ihren neuen Kolleginnen und Kollegen, die genau wie sie zwischen Service-Zentrale und den Zimmerfluchten hin und her hasten und teils freundlich, teils gleichgültig, teils abweisend reagieren.
Die Stunde ist um. Valérie beeilt sich, zurück ins Cafe zu kommen, um Remi mit einer überraschenden Ent-scheidung zu konfrontieren...
Benoît Jacquots Film handelt (mit Ausnahme des Schlusses, der den Charakter eines Postskriptums hat) in Echtzeit. Neunzig Minuten aus dem "realen Leben", lakonisch festgehalten, konzentriert auf das Gesicht seiner Hauptdarstellerin und auf ihre Sicht der sie umgebenden Welt. Kernstück des Films sind die Szenen im Hotel, brillant festgehaltene und fließend ineinander übergehende Miniaturen, denen in ihrer Schnörkellosigkeit und Präzision etwas Meditatives anhaftet (...was auch den Bewußtwerdungsprozeß Valéries so glaubhaft macht). Aus den Koordinaten "Hotel", "Frühstück" und "Service-Raum" ergibt sich eine Choreographie des (scheinbaren) Zufalls, die sehr verschiedene Menschen kurzzeitig zusammenführt.
Virginie Ledoyen verkörpert die Valerie mit selten gesehener Intensität. Eine Liebeserklärung des Regisseurs an seine Hauptdarstellerin hat ein Kritiker den Film genannt. Eine Liebeserklärung, an der auch die Kamerafrau Caroline Champetier wesentlichen Anteil hat. Sie stellt Valerie in den Mittelpunkt, ohne ihre Umgebung zu vernachlässigen. Ihre Bilder bringen das Kunststück zuwege, Intimität und Distanz, Zärtlichkeit und Zurückhaltung zu vereinen. Ohne Übertreibung darf LA FILLE SEULE also ein Meisterwerk genannt werden, ein funkelnder Solitär im heutigen Kino, in einer Welt bombastischer Effekte und melodramatischer Übertreibungen. (Info Filmladen)
"Ich wollte einen Film in 'Echtzeit' drehen... und versuchte dabei, mit einem Paradox zu arbeiten: Kontinuität darzustellen in einem Film mit sehr vielen Schnitten, mit abwechselnd langen und kurzen Einstellungen, mit einem sehr 'musikalischen' Film. Ich hatte Lust, eine Scheibe Leben zu filmen...
Virginie Ledoyen finde ich phantastisch. Es ist selten, daß einen junge Schauspielerin einen Film von der ersten bis zur letzten Einstellung trägt, aber genau um diese Herausforderung anzunehmen, gibt Virginie alles... Sie ist schön, aber nicht von einer Schönheit, die sie von der Welt ausschließt. Virginie hat keine Ähnlichkeit mit einer imaginären oder wirklichen Valérie gesucht. Alles, was sie wissen will, ist, wie sie einer Rolle im Verlauf eines Films ein richtiges und wahres Leben geben kann..." (Benoît Jacquot in einem Interview)
"Einen Rhythmus dem Herzschlag gleich schaffl die Kamerafrau Caroline Champetier. Die Einsamkeit des Mädchens ist die Einsamkeit des Langstreckenläufers oder die Beschreibung eines Kampfes. Die Anspielung auf Chris Markers Film ist hier keineswegs Koketterie." (Liberation)
"Ein Film, der - tatsächlich nahe am sachlichen Stil der Filme Robert Bressons - noch einmal davon erzählt, wozu des Kino fähig ist, wie es Raum und (Echt-)Zeit vermitteln kann und wie unüblich die Beschränkung auf das Übliche im narrativen Film mittlerweile geworden ist - der schönste und der einfachste Film der 46. Berlinale." (Stephan Grissemann, Die Presse)
"Frankreichs neue BELLE DE JOUR..." (New York Post)
"Ein Film, so heiter, scharfsichtig und unaufgeregt sexy, daß er mehr als andere Filme hautnah spüren läßt, was Jugend bedeutet" New York Times)
"Virginie Ledoyen trägt den subtilen Film mit Anmut und Überzeugung... die Zerbrechlichkeit der Jugend, gepaart mit großer Unabhängigkeit. Grandios!" (Village Voice)
"Jacquots Vertrautheit mit seiner Heldin erinnert an den frühen Godard... ein brillanter Film." (Internahonal Herald Tribune)
"Virginie Ledoyen trägt den Film mit Leichtigkeit und Sicherheit... A STAR IS BORN." (New York Daily News) / (Info Filmladen)
Die junge Frau ist merklich in Eile. Den Blick entschlossen nach vorne, unterwegs. In eine Momentaufnahme verdichtet das Plakat zum Film seine Heldin: La fille seule, eine berufstätige Frau und alleinerziehende Mutter.
Benoît Jacquots bemerkenswerter Spielfilm verläuft gleichsam in drei Sätzen: ein Treffen im Café, die Morgenschicht in einem Hotel und ein Treffen im Park, zwei Jahre später. Während zu Beginn und am Ende jeweils (Beziehungs-)Gespräche im Mittelpunkt stehen, wird dazwischen in erster Linie gearbeitet. Arbeit gehört nicht eben zu den privilegierten Spielfilmthemen. Vor allem in neuen französischen Filmen wird dieser Lebensbereich allerdings zunehmend wichtig, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß es immer weniger Arbeitsplätze gibt.
Auch Rémi (Benoît Magimel) ist arbeitslos. Seine Freundin Valérie (Virginie Ledoyen) hingegen wird zu arbeiten beginnen; zuvor teilt sie Rémi mit, daß sie schwanger ist. Schon dieses Treffen ist geprägt von permanenter zeitlicher Beschränkung, von Ultimaten ("Du hast drei Minuten") und einer Serie von Terminen und Zeitspannen, die als konkreter, meßbarer Wert von komplizierten Ereignissen und Erfahrungen noch übrigbleiben: "Du hast ein Jahr gebraucht." (um Arbeit zu finden), "eine Stunde in der Metro" (um hierher zu kommen), "neun Monate" (um ein Kind auszutragen).
Vom Café zur Arbeit führt eine rasante Kamerafahrt: Über die Straße, ums Eck, an Menschen vorbei und hinein durch einen Hintereingang. Das Tempo ist bereits ein Vorgeschmack auf die folgende Stunde. Valérie tritt ihre neue Stelle als Etagenkellnerin in einem großen Hotel an, und die Kamera weicht nicht von ihrer Seite: rein in die Küche, Frühstückstabletts zusammenstellen, Laufzettel kontrollieren, den Gang runter, Lift holen, einsteigen, etc.
La fille seule ist zum einen eine präzise Studie von Handgriffen und einem Lebenszusammenhang, der auf Routine, Tempo und einem gewissen Maß an Überforderung beruht. Jacquot interessiert sich allerdings nicht nur für die reine Mechanik des Arbeitens; La fille seule beschreibt vielmehr in sehr kurzer Zeit ein ganzes Arbeitsgefüge, in dem Valérie mit dem anderen Personal, mit diversen Gästen, mit Hierarchien, mit Aufdringlichkeit, Reserviertheit und Mißtrauen sowie mit den räumlichen Gegebenheiten konfrontiert ist.
Mit wenigen Ausnahmen (Szenen wie jener, in denen die arrogante Personalchefin "menschlich" wird) bleibt La fille seule dabei relativ unsentimental. Suspense entspringt fast durchwegs in Realzeit allein dem Druck, unter dem gelebt und gearbeitet wird.
Für die Heldin geht es darum, sich zu behaupten, auch wenn diese Arbeit "halt Arbeit" ist, an die sie nicht den Anspruch stellt, daß sie Spaß macht. Dafür beharrt sie allerdings (noch) auf dem Recht, zwischen ihrer Arbeit und ihrem Sein zu unterscheiden. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 5/6/1997)
"La fille seule" erzählt von einem Mädchen im Streß, von achtzig Minuten Leben und jenen Abkürzungen, die das Kino gewöhnlich nimmt: Bemerkungen zu konstruiertem Realismus und konzipierter Zeit.
Im Kino geht man gewöhnlich, in allen Dingen, den kürzesten Weg. Spielfilm, das ist ein Synonym für brutale Raffungen und Verdichtungen auf das angeblich "Essentielle" (alias: das Außerordentliche) - auf dramatische Konversationen, impulsive Handlungen und künstliche Weltbilder. Daß alles andere im Kino wenig Platz hat, ist bekannt. Wie sehr noch der trivialste Filmemacher von der Realität tatsächlich abstrahiert, wird aber selten, selbst in reflexiven Spielfilmen, Teil der Reflexion. Daß gerade auch im "realistischen" Kino der Alltag auf wenige Zeichen reduziert werden kann, daß das Leben sich zusammenkürzen läßt auf ein paar Andeutungen und visuelle Variablen, das demonstriert nun - indem er offensiv das Gegenteil betreibt - La fille seule / Ein Mädchen allein, ein neuer Film aus Frankreich.
Ein Vorspann, weiße Schrift auf schwarzem Grund, keine Musik, nur undefinierbare Geräusche. Das erste Bild: das Innere eines Cafés, in dem ein junges, schlecht gelauntes Paar sich trifft. Von fern ist Straßenlärm zu hören, im Hintergrund klirrt das Geschirr: Gewohnte Geräusche können im Kino, so die erste Lektion dieses Films, fast irritieren. Ein Gespräch entwickelt sich, unter Zeitdruck: Es gäbe etwas Wichtiges zu sagen, eröffnet das Mädchen (Virginie Ledoyen). Ihr Freund (BenoŒt Magimel) drängt auf klare Worte, sie wartet aber noch: Er würde es schlecht aufnehmen, sagt sie, so aggressiv, wie er gerade sei. Als er später für einen Moment den Tisch verläßt, stiehlt sie sich heimlich zum Telephon, um ihre Mutter anzurufen, der sie mitteilt, daß sie es ihm noch nicht gesagt habe, aber sie riefe dann gleich nochmal an. La fille seule handelt von der Zeit, von Aufschüben und Unpünktlichkeiten, vom Drängen und vom Gewinnen der Zeit.
Regisseur Benoît Jacquot erzählt von achtzig (nicht besonders ereignisreichen) Minuten eines Lebens in Paris, aber ein alltäglicher Film ist La fille seule trotzdem nicht geworden. Jacquot konzentriert sich auf Arbeitsabläufe und Wege - und auf die Illusion von der ungeschnittenen Zeit: Der Hauptteil des Films (gefolgt von einem knappen, heiteren Epilog) widmet sich Ledoyens Bewegungen, wie sie durch die Räume treibt, Wege zurücklegt, Arbeit verrichtet. La fille seule erzählt viele Geschichten, aber nur eine davon ganz: die des (fiktiven) Kontinuums jener achtzig Minuten im Leben einer Frau, die ihrem Freund innerhalb dieser Zeit mitteilt, daß sie schwanger sei und sich von ihm trennen werde.
Reale Zeit über einem inszenierten Leben: Ledoyen muß weg, sie sei ohnehin schon zu spät, weil sie eine Stelle anzutreten habe, in einem Hotel nahe dem Café. Der Weg über die Straße, an den Fassaden, den Hauseingängen und Wänden entlang - eine Szene, die jeder andere Filmemacher so nicht stehen ließe - ist alles andere als ein verlorener Weg: Das Licht des frühen Morgens, die paar Menschen in den Straßen, das bunte Paris der Neunziger - das alles wird eine Geschichte für sich, ein durchaus unentbehrliches Subkapitel in dieser Erzählung von den zeitlichen und räumlichen Beschränkungen. Danach wird das stille Mädchen eine Stunde lang durch eine ganz andere Welt stapfen, durch das Innere eines luxuriösen Hotels, zwischen freundlichen und feindseligen Menschen, an fremden Mitarbeitern und fremden Gästen vorbei, durch labyrinthische Gänge, abgedunkelte Hotelzimmer und aseptische Liftkabinen. Sie findet, wohin sie sich auch dreht, wem sie sich auch zuwendet: Geschichten.
Und Jacquot differenziert ganz offensichtlich zwischen dokumentarischen und inszenierten Blicken: Wenn seine Heldin auf die Straße tritt, im Kostüm, zu dem sie ihre neue Arbeit zwingt, beginnen die Passanten in ihre Richtung zu starren, so wie sie einst Belmondo und Seberg angestarrt haben, die 1959 in Godards Außer Atem durch die Straßen von Paris zogen. Aber da wie dort sind es nicht die Schauspieler, die soviel Aufmerksamkeit erregten, sondern die Filmmaschine selbst, die Kamera hinter, neben, vor den Filmstars. Jacquot leugnet das sowenig wie Godard: La fille seule, der so sehr von der Wirklichkeit zu sprechen scheint, ist eben ein Film über das Kino. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 7/6/1997)
USA 1996 Regie: James Foley,
Buch: William Goldman, Chris Reese, nach John Grisham,
Musik: Carter Burwell,
Kamera: Ian Baker,
Schnitt: Mark Warner,
Darsteller: Chris O'Donnell (Adam Hall), Gene Hackman (Sam Cayhall), Faye Dunaway (Lee Bowen), Robert Prosky (E. Garner Goodman), Lela Rochon (Nora Stark), Raymond J. Barry (Rollie Wedge), David Marshall Grant (Governor McAllister) Kinostart: 6/6/1997
Im Todeszellentrakt des Parchman-Gefängnisses in Mississippi begegnen sie sich zum ersten Mal: Doppelmörder und Rassist Sam Cayhall (Gene Hackman), Amerikas ältester Todeskandidat, und Adam Hall (Chris O'Donnell), der junge und unerfahrene, aber ehrgeizige Anwalt. Adam ist Sams Enkel, der davon überzeugt ist, daß sein Großvater unschuldig ist. Gegen den Willen Sams macht sich Adam an die Arbeit, diese Unschuld zu beweisen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn Adam hat nur 28 Tage Zeit... (Verleihprogramm)
"Die Kammer": John-Grisham-Verfilmungen und Todesstrafe-Stoffe haben Hochkonjunktur. Jüngstes prominentes Opfer: Gene Hackman, dem Tod geweiht.
Der "aufgeklärte" Westen hat zwar nie aufgehört, Menschen im Namen des Gesetzes umzubringen, aber man hat es sich angewöhnt, nicht mehr hinzuschauen. Noch vor vier Jahren konnte einem der nüchterne Blick eines Jon Jost auf das verordnete Sterbebett (in Frame Up ) kalten Schrecken einjagen. Dann kamen die Stars (Sean Penn in Dead Man Walking, Sharon Stone in Last Dance ), an denen der Horror dieses Rituals demonstriert - und im Tränenfluß des melodramatisch berührten Publikums aufgelöst wurde.
Unversehens ist die Inszenierung der Hinrichtung wieder zum Massen-Volksvergnügen geworden. Was James Foley seinem Publikum in Die Kammer, nach einem Bestseller John Grishams, zu bieten hat, ist nur noch dramatisch kaschierte Befriedigung einer makabren Schaulust.
Gene Hackman gibt den bösen Buben Sam Cayhall, der ein Gebäude mit zwei Kindern in die Luft gejagt und deren Vater in den Selbstmord getrieben hat. Chris O'Donnell (Der Duft der Frauen ) macht auf tüchtigen Jung-Anwalt, der diesen Mann vor der Giftspritze retten will - weil er zum einen "mit allen Mitteln, die notwendig sind," nach der Wahrheit strebt - und weil Cayhall zum anderen sein Großvater ist. Weil die Wahrheit aber viele Facetten hat, werden hier alle zwischen Polit-Thriller und Familien-Melodram kultivierten Gemeinplätze umgepflügt: korrupte Politiker, selbstgefällige Richter, traumatisierte Kinder - sie alle müssen helfen, aus dem Todeskammer-Spektakel ein narrativ ganzheitliches (durch Dialog-Dauerfeuer fast wieder zunichte gemachtes) Filmerlebnis zu machen.
Und schließlich der (in anderen Todesstrafe-Filmen bereits erprobte) Balance-Akt: Man pirscht sich - durch eine monströse Hülle - an den weichen Kern des Mörders heran, stellt dessen Schuld in Relation zu den ungesühnten Taten der wahrhaft Schuldigen - und erspart sich damit ein kompromißloses Plädoyer gegen die Todesstrafe. Das einzige durch diesen Film mobilisierte Empfinden ist das Mitgefühl für einen Mörder, den man anderthalb Stunden lang weichgekocht hat. Nur um diesen einen (zu spät bekehrten) Lausbuben tut es einem am Ende doch ein bißchen leid. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE, 7/6/1997)
Statt der üblichen Goodwill-Tour gegen die Todesstrafe zeigt diese tiefgründige und prächtig gespielte Verfilmung einer Vorlage des Erfolgsscheibers John Grisham ("Die Akte", "Die Firma", "Die Jury") eiskalt das Problem an sich: Darf man einen Mörder ermorden? Darf ein Staat, ein Gericht, einen mutmaßlichen Mörder, einen antisemitischen Ku-Klux-Klan-Kotzbrocken namens Sam Cayhall (Gene Hackman, Oscar-verdächtig) nach 25 Jahren in der Todeszelle endlich in der Gaskammer hinrichten?
1967 hat Klan-Aktivist Cayhall in einer Anwaltskanzlei im Staate Mississippi statt eines jüdischen Bürgerrechtsanwaltes dessen Söhne mit einem Zeitzünder in die Luft gejagt. Und eisern über Hintermänner geschwiegen. Der Gouverneur (D. M. Grant) ist erleichtert, als das tödliche Gas der "Gerechtigkeit Genüge" getan hat und Namen der "Weißen Räte" von Cayhall nicht mehr ausgeplaudert werden können.
Zyniker können nachrechnen: Todesstrafe durch Giftspritze kostet 700 Dollar pro Häftling, durch Gaskammer 250 Dollar, durch elektrischen Stuhl 31 Cent. (Hansjörg Spies, Kleine Zeitung)
Der Tod kann billig, günstig oder teuer sein. Aber nicht umsonst: Hinrichtung mit Giftspritze kostet rund 700 Dollar, der 2000-Volt-Schub des elektrischen Stuhls 31 Cent. Preiswert die Gaskammer mit 250 Dollar pro Exitus. Eine filmisch vernachlässigte Todesspielart, die in diesem sentimentalen Gemütsdurchfall dafür doppelt nachdrücklich verheizt wird. In allen maulschäumenden, konvulsivischen Zuckungen. Nach "Dead Man Walking" und "Last Dance" sitzt diesmal Gene Hackman als kaltschnäuziger Redneck im Todestrakt. Und wartet.
Wartet seit acht Jahren auf den Mandelhauch von Zyankali. Endlos lang für ihn, noch viel länger für den Zuschauer. Obwohl uns Hackman sogar als ultrarechter Delinquent zögerliche Sympathien herauslockt. Denn in den fischkalten Augen des Kinderkillers flackert doch zeitweise so etwas wie Reue auf. Schließlich stammt er aus altem Mordgeschlecht von Rassenhassern und konnte deshalb gar nicht anders, als eine Bombe legen und damit zwei jüdische Buben in Fetzen zu reißen.
Er ist Opfer seiner Erziehung und hirngewaschener Handlanger des Ku-Klux-Klans. Haß, Gewalt, Blut und Tod gab's sonntags schon zum Frühstück. Packende Themen eines dennoch mediokren Grisham-Romans, der als Film obendrauf mit Gefühlsschmus verwässert wird. Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit saufen im verwirrten, pfützenseichten Handlungsstrudel ab. Dafür ist der Film randvoll mit pseudofamiliären Aufräumarbeiten.
Milchbubi Chris O'Donnell als Junior-Anwalt, der den alten Bastard kurz vor der Vollstreckung noch ein letztes Mal herausreißen will, ist des Rowdy-Opis Enkelsohn. Sucht ohne schlüssige Motivation entlastende Beweise. Ein Anwalt, dem man nicht einmal die Verteidigung eines Eierdiebes zutraut. In Hollywood heißt es: Setz dich in die Todeszelle, und du kriegst einen Oscar...
Einspruch! Denn dieses Stück ist ein Kammerspiel, mit viel Kammer - aber ohne Spiel. (Monika van Vanecek, KURIER)
USA 1996 Regie: Jerry Zaks,
Buch: Scott McPherson,
Musik: Rachel Portman,
Kamera: Piotr Sobocinski,
Schnitt: Jim Clark,
Darsteller: Meryl Streep (Lee), Leonardo DiCaprio (Hank), Diane Keaton (Bessie), Robert De Niro (Dr. Wally), Hume Cronyn (Marvin), Gwen Verdon (Ruth), Hal Scardino (Charlie), Dan Hedaya (Bob), Margo Martindale (Dr. Charlotte) Kinostart: 6/6/1997
Seit 20 Jahren kümmert sich Bessie (DIANE KEATON) liebevoll um ihren kranken Vater Marvin (HUME CRONYN), der nach einem Schlaganfall ans Bett gefesselt ist. Trotz dieser großen Verantwortung empfindet Bessie ihre selbstgewählte Aufgabe als Berufung und nicht als Last. Auch ohne eigene Familie ist Bessie eine glückliche und fröhliche Frau. Im Haus herrscht eine entspannte Atmosphäre, zu der auch Marvins exzentrische Schwester Ruth (GWEN VERDON) dank ihrer oft skurrilen Einfälle nicht unwesentlich beiträgt.
Als Bessie routinemäßig ihren Hausarzt Dr. Wally (ROBERT DE NIRO, Foto) aufsucht, wird sie mit einer unerwarteten Diagnose konfrontiert. Ihre Blutprobe weist Leukämie nach. Um geheilt zu werden, ist eine Knochenmarktransplantation nötig. Da als Spender aus genetischen Gründen nur enge Familienangehörige in Frage kommen, ruft Bessie ihre Schwester Lee (MERYL STREEP) an, mit der sie seit ihrer Jugend keinen Kontakt mehr hatte.
Besorgt um Bessies Schicksal, macht Lee sich gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Hank (LEONARDO DiCAPRIO) und Charlie (HAL SCARDINO, Foto) auf den weiten Weg von Ohio nach Florida.
Nach einer kurzen Wiedersehensfreude müssen die beiden Schwestern jedoch ihrer unterschiedlichen Vergangenheit Tribut zahlen. Immer heftiger werden die verbalen Auseinandersetzungen.
Doch dann gelingt es ausgerechnet dem ungebärdigen Hank, die Bande zwischen Mutter und Tante wieder enger zu knüpfen. In der kompliziertesten Situation ihres Lebens lernen Bessie und Lee zum ersten Mal verstehen, was Liebe, Verantwortungsgefühl und Opferbereitschaft wirklich bedeuten.
Die aunrührende Geschichte wurde von Spielfilm-Debütant Jerry Zaks behutsam und mit viel warmherzigem Humor in Szene gesetzt. In den Hauptrollen glänzen vier der renommiertesten Schauspieler Hollywoods. Als entfremdetes Geschwisterpaar agieren die Oscar- Preisträgerinnen Diane Keaton ("Der Stadtneurotiker") und Meryl Streep ("Sophie's Entscheidung"). Robert De Niro ("Heat") spielt den Part des leicht verschrobenen Arztes Dr. Wally und Jung-Star Leonardo DiCaprio ("Gilbert Grape") ist in der anspruchsvollen Rolle des hypersensiblen Hank zu sehen. (KINOWEB)
Diane Keaton trägt sich ins bunte Bilderbuch der Hollywood-Krankheiten ein: Nun leidet sie, oscar-nominiert, an Leukämie.
Eine Frau mittleren Alters versüßt ihrem alten bettlägrigen Vater die letzte Lebenszeit. Sie setzt sich täglich lächelnd zu ihm ans Bett und wirft mit einem kleinen Spiegel Lichtreflexe an die Wand, über die sich beide freuen wie die Kinder: das kleine Glück in Marvins Zimmer. Wenn Hollywood sensibel wird, ist man mit lyrischen Bildern schnell zur Hand. Die Poesie der simplen Dinge, sie gehört zu Amerikas Problemfilm wie die Werbeeinschaltung zur Oscar-Verleihung: In Marvin's Room (Regie: Jerry Zaks) - unter dem Titel Marvins Töchter elegant ins Deutsche übertragen - liegt die "Magie" so sehr im Weg herum, daß alle Dialoge und alle Bilder über sie ins Stolpern, ins Stocken geraten. Der Poesie bricht, will man sie erzwingen, schnell das Genick.
Menschenkino: Eine leukämiekranke Frau (Diane Keaton) braucht Hilfe - genauer: Knochenmark - von ihrer fernen Familie: Schwester Meryl Streep reist also an, mit ihren Kindern, dem unwilligen Leonardo DiCaprio und dem verängstigten Hal Scardino. Und weil diesem Film nichts Menschliches fremd ist, darf das alles tragikomisch sein: So tritt Robert De Niro als linkischer Arzt morgens mit Fahrradhelm in die Ordination, während eine fernsehbesessene, exzentrische Tante daheim schon auf ihren Auftritt wartet. Aber Marvin's Room hat eben keine Menschen zu bieten, nur Karikaturen, Blaupausen gängiger Kinoexistenzen: vom zornigen jungen Mann mit dem weichen Kern bis zur proletarischen Durchschnittsamerikanerin, die keine Nerven mehr hat für ihre Familie. Und von Keaton bis Streep wuchert monströs das alte Emotions-Schauspiel, das harte, "ungeschminkte" Seingequälter "echter" Menschen.
Doch Hollywood weiß Rat: Erst wenn die Familie wieder zusammenfindet, im Angesicht des Todes, stellt jenes paradoxe Glück sich ein, das das Leiden so dringend braucht, um endlich wieder Wohlgefühl zu verströmen. Aber das ist ja die Lektion, die der amerikanische Problemfilm seinem Publikum seit Jahrzehnten aufzudrängen versucht: Das Feelgood- Kino ist der siamesische Zwilling des Leidensdrucks. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 10/6/1997)
F 1996 Regie: Marion Vernoux,
Buch: Dodine Herry, Marion Vernoux nach dem Roman "Darüber Reden" von Julian Barne),
Musik: Alexandre Desplat,
Kamera: Eric Gautier,
Schnitt: Jennifer Auge,
Darsteller: Yvan Attal (Benoit), Charles Berling (Pierre), Thibault De Montalembert (Bernard), Charlotte Gainsbourg (Marie), Susan Moncur (Susan) Kinostart: 6/6/1997
Es ist vielleicht Liebe, wenn man das Haus eines besten Freundes beschattet, um an dessen Frau heranzukommen. Es ist vielleicht Liebe, wenn man heiratet und sagt: "Es hat endlich geklappt bei mir." Oder: "Mein Mann ist ein guter Mensch." All das hat vermutlich mit Liebe zu tun, aber wie redet man "darüber"?
Love etc.: So ist in Julian Barnes Roman Talking It Over jenes Kapitel betitelt, in dem ein Dreiecksverhältnis einer Frau und zweier Männer implodiert. In dem Moment, in dem der gehörnte Gemahl seinem vormals besten Freund einen Kopfstoß versetzt, geht es auch um verletzte Eitelkeit, um Machtphantasien und um die Angst, Kontrolle über vormals stabile Verhältnisse zu verlieren. "Mich wird es treffen", sagte jeder der Beteiligten kurz vor dem Einsturz der Kulissen. Beschädigt bleiben sie alle zurück. "Ich bin furchtbar ausgelaugt nach gestern abend, und außerdem hat der Idiot auch noch auf den Teppich geblutet." Wie man das halt so sagt.
Marion Vernoux, zuletzt mit dem Regiedebüt Personne ne m’aime erfolgreich, hat jetzt diese Tragikomödie sehr subjektiver Wahrnehmungen von "Wahrheit" und "Recht" für das Kino adaptiert und von England nach Frankreich verlegt: Die Kunst-Restauratorin Marie (Charlotte Gainsbourg) steht da zwischen dem etwas langweiligen Gatten Benoit und dem witzbegabten, doch unsteten Pierre.
Wenn Vernoux dabei auf den Romantitel verzichtet, so hat das zwei Gründe: Zum einen verweigert sie in Love etc. Barnes’ Kunstgriff, das Geschehen in Form von ineinander montierten Reden und Statements der Charaktere zu entwickeln. Einmal nur, beim Arrangement des Hochzeitsfotos von Marie und Benoit, läßt sie direkt in die Kamera "darüber sprechen" – was man gerne öfter sähe, denn das ist ja bei Barnes eigentlich das Thema: "Wenn man über etwas reden will, kommt es dem- oder derjenigen, über den oder die geredet wird, nie ganz richtig vor."
Zum anderen scheint sie eigentlich mehr an einer distanzierten Beobachtung von Beziehungen interessiert, die sie, anders als Barnes, nach obgenanntem Kopfstoß auch nicht länger weiterverfolgt. Während im Buch eine zweite Ehe und die Zerstörung derselben durch den einst Betrogenen folgen, springt Vernoux in ein recht obskures Ende. An der Wende zum nächsten Jahrtausend kommt das Trio in einem Strandbad wieder zusammen. Offen bleibt, ob Wunden, die entstanden sind, nicht doch langsam vernarben: Utopie mit Blick aufs Meer, oder das traurige Fazit, daß nach verliebtem Toben verliebter Verführer ein normales Leben manchmal etwas schal wirkt?
Love etc. geht nicht wesentlich über den Rahmen konventioneller Beziehungsfilme hinaus: Ein wirklich sehenswerter Glücksfall ist aber Charlotte Gainsbourg. Die Anmut, mit der sie etwa anfängliche Reserviertheit gegenüber der gegenseitigen Kumpanei ihrer Freunde nur andeutet, ist fragil, aber nie ätherisch. Sie ist, wo andere Filmemacher wohl klassische "Heimchen" besetzt hätten, eine jener Abweichungen von der Norm, von denen dieser Film noch mehr vertragen könnte. (Claus Philipp, DER STANDARD, 6/6/1997)
Marion Vernoux verfilmt Julian Barnes und eine Dreiecksaffäre: "Love etc." nimmt die Liebesdinge spielerisch - und bleibt, allen Schauwerten zum Trotz, in Komödie und Melodram ein wenig schematisch.
Leonard Cohen kann man viel singen hören in diesem Film. Das ist zwar seit einiger Zeit schon nicht mehr so originell, aber in wenige Filme passen die Songs des kanadischen Sängers besser als in diesen hier: Love etc., die neue Arbeit der Französin Marion Vernoux (nach Julian Barnes' Roman "Darüber reden"), schmeckt bittersüß wie die insistierenden Melodien Cohens; und wie dieser findet Vernoux für alte Spiele und alte Ideen Verpackungen, die Inspiration und Frische immerhin behaupten.
Zwei junge Männer, gerade über dreißig und seit Ewigkeiten schon die besten Freunde, setzen die Geschichte in Gang: Der eine (Charles Berling) redet viel, um die anderen, vor allem aber sich selbst, mit unberechenbaren Monologen zu unterhalten, was die Mädchen selbstverständlich lieben; der andere (Yvan Attal) spricht nicht so gern, geht linkisch an die Welt heran, und weil er dementsprechend wenig Frauen kennenlernt, versucht er's mit Kontaktanzeigen. In das Mädchen, das ihm antwortet (Charlotte Gainsbourg), verliebt er sich gleich, die beiden heiraten wenig später, und der dritte wird zum Problem, weil er sich ebenfalls verliebt - in die Frau seines Freundes. Was folgt, sind kleine Variationen über die Liebe und die Eifersucht, die Konkurrenz und die Machtlosigkeit, zu der einen die Liebe verurteilen kann. Love etc. ist ein französischer Film, ein bißchen so, als hätte man ihn nach Zahlen gemalt.
Love etc. ist aber auch - und gar nicht erst in zweiter Linie - ein Film für Farbe und Breitwand, ein Film, den Assayas-Kollaborateur Eric Gautier fast schon zu makellos photographiert hat: Auf jede dunkle Szene folgt eine kleine farbliche Kostbarkeit, in zartem Rosa oder tiefem Blau, und die pittoresken Schauplätze dieser Erzählung durchmißt die ständig mobile, dahinfließende Kamera Gautiers, als ginge es darum, die Räume stets als Ganzes abzutasten, wirklich alles einzufangen, was man sehenswert nennen könnte. Und die Musik im Off verfährt ganz ähnlich - für jede Stimmung eine Klangfarbe, bis alles da ist, was nach Filmmusik klingt: Für jede Tristesse hat Vernoux eine Opernarie parat, für jede kleine Peinlichkeit ein herziges Chanson, für jedes Große Gefühl ein Streichquartett.
Bei all dem Stil, den satten Farben und den feinen Tönen, bleiben die Figuren ein wenig auf der Strecke. Was immer einem an Tragikomödien zustoßen kann in einer asymmetrischen Liebesaffäre, es widerfährt den Menschen hier: vom betretenen Schweigen nach dem Dinner zu dritt bis zum Wiedersehen nach Jahren, das wieder nur von ungeklärten Verhältnissen und der Flüchtigkeit des Glücks erzählt.
Vernoux, die vor wenigen Jahren einen sehr ähnlichen - nämlich farbenfroh-unterhaltsamen, aber nirgendwohin führenden - Film namens Personne ne m'aime gemacht hat, inszeniert französische Kinoklischees und alte Beziehungsmuster leichtfüßig und launig - und so elegant, daß man die Trivialität der Gedanken darüber immer wieder gern vergißt. In diesem Film geht es jedenfalls, trotz aller Abzweigungen, Unkonzentriertheiten und Stimmungsfärbungen, nur um das Eine: Love etc. umkreist die Liebe und nichts anderes. Love. Kein etc. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 9/6/1997)
Eine Duosonate zu dritt? Drei ist einer zuviel. L'amour und andere reizvolle, typisch französische Nebensächlichkeiten als Balsam für herzensfrustrierte Kinogeher. Denn Mauerblümchen Marie (Charlotte Gainsbourg) stößt per Annonce auf den biederen Benot und trifft über ihn den schrägen Vogel Pierre (Charles Berling), der sich wiederum in Marie verliebt... etc.
Das große französische Gefühlskino betört in diesem wunderbaren Beziehungsfilm so duftig wie ein Kirschgarten in voller Blüte und ist übersprühend wie Beethovens Frühlingssonate. Marion Vernoux inszenierte das vertrackte Liebesdreieck herzerfrischend flott und brachte damit Julian Barnes’ Monologroman "Darüber reden" gefühlsgenau auf den Punkt. Denn darüber reden kann man nach diesem Film noch lange - auch eine ganze Nacht lang. (Monika van Vanecek, KURIER)
USA 1996 Regie: Francis Coppola,
Buch: James DeMonaco, Gary Nadeau,
Musik: Michael Kamen, Bryan Adams (song "Star"),
Kamera: John Toll,
Schnitt: Barry Malkin,
Darsteller: Robin Williams (Jack Powell), Diane Lane (Karen Powell), Brian Kerwin (Brian Powell), Jennifer Lopez (Miss Marquez), Bill Cosby (Lawrence Woodruff), Fran Drescher (Dolores " D.D " Durante), Adam Zolotin (Louis Durante), Todd Bosley (Edward), Seth Smith (John-John), Mario Yedidia (George) Kinostart: 6/6/1997
In die unglaublichsten und vielleicht auch unglaubhaftesten Fabeln startet man als Erzähler auch im Kino möglichst mit sehr viel Schwung: Die Hexe aus dem Zauberer von Oz tanzt mit dem Blechmann hinein in den Karneval und einen Reigen grotesker Kostüme, bis drei Filmminuten später ein erstaunlicher Erdenbürger das Licht der Welt erblickt. Der Titelheld von Francis Ford Coppolas Jack altert viermal so schnell wie normale Menschen – mit 10 Jahren wird er aussehen wie ein 40jähriger Mann, sprich: Robin Williams, der schon für Steven Spielberg in Hook das Kind in einem erwachsenen Peter Pan wiederfinden mußte.
Der anfängliche Schwung ist Programm für den Regisseur, der sich wieder einmal (fast) ohne jede Sicherung exponiert. Schon in Peggy Sue hat geheiratet thematisierte Coppola hart am Rand zu kitschiger Nostalgie den zarten Stoff von Lebensschicksalen in einem Zeitsprung zurück. Jetzt schenkt er seiner damaligen Protagonistin, die eine zweite Chance erhielt, gewissermaßen den perfekten Partner: Einen, der in vierfacher Geschwindigkeit nach vorn jede Chance zur Lebensbejahung ergreifen muß.
Jack erkämpft sich gegen die Angst seiner beschützenden Mutter und gegen das Mißtrauen seiner Mitschüler die Rolle des "perfekten Erwachsenen, der immer noch neugierig ist wie ein Kind". Sehr eindeutig wird er zum inbrünstig beschworenen alter ego Coppolas, der Verkörperung eines Lebensideals des Regisseurs, der ja immer Lust an Balanceakten ohne Netz (von Apocalypse Now bis Rumble Fish) bewiesen hat.
Im Sold der Disney-Studios vermochte er aber bei Jack gewisse Produktionsauflagen nicht zu umgehen: Einen Song von Brian Adams als Leitmotiv würde man sich etwa gerne ersparen wie computergenerierte Schmetterlinge, und mitunter wäre ein bißchen weniger an Pastelltönen in einer allzu "fröhlichen Schule" gut gewesen – noch dazu, da Coppolas Hang zur Verklärung ohnehin genügend lyrische Weichheit evoziert – durchaus brillant, was verblüfft, wenn man nachliest, mit wieviel Häme Jack in den USA übergossen wurde.
Großartig etwa sind jene Sequenzen, in denen Williams als Verwandter des märchenhaften Riesen von Oscar Wilde vorgestellt wird, über dessen Reichtum die Nachbarskinder spekulieren. Und es sind auch keine besonderen Heldentaten in diesem Märchen zu vollbringen: Ein Basketball-Match entscheiden; einen Freund in der Rolle des Schuldirektors vor Ärger mit seiner Mutter bewahren; die eigene Hinfälligkeit anerkennen. "Hey, Jacks Mutter, wir wollen mit Jack spielen!", belagern am Ende die Kinder das Haus des traurig gewordenen Riesen – und wenn das auch nur ein Nebenwerk Coppolas geworden ist, ist es doch eine kleine, geheime, romantische Träne wert. (Claus Philipp, DER STANDARD, 10/6/1997)
(...) Womit beginnt ein Zehnjähriger, der wegen eines genetischen Defekts viermal schneller altert als andere Menschen einen Schulaufsatz zum Thema "Was will ich sein, wenn ich erwachsen bin"? Er schreibt: "Am Leben." Simple Ideen wie diese machen das Wesen von Jack aus, das Wesen eines Films, den Francis Ford Coppola nun, nach gut vier Jahren Drehpause, inszeniert hat.
Jack, das sieht man, ist ein Disneyfilm. Er handelt von einer intakten Familie und vom Zyklus des Lebens, von Kinderspaß und Kinderweisheit. Und, auch das keine Neuigkeit in Hollywood, er handelt von einem, der körperlich anders ist, von einem Außenseiter, dessen Problem das Schicksal ist und nicht die Welt, denn die ist hier so, wie sie sein soll: disneygut.
Robin Williams, der den zehnjährigen Jack spielt, ist eine naheliegende Wahl: Seit sehr langer Zeit, nicht erst seit Hook, Toys oder Jumanji , ist er Amerikas ideales Kind, der letzte totale Infant des US-Kinos seit dem Abtritt Jerry Lewis'.
Jack sei der "perfekte Erwachsene", sagt da jemand, weil er zwar aussähe wie ein Großer, im Herzen aber ein Kind geblieben sei. Das ist natürlich Hollywood-Kitsch, wie er im Drehbuche steht, aber es paßt auch zu Williams selbst: als hätte sein Agent diese Worte als Empfehlungsschreiben für eine Filmrolle verfaßt.
Aber Jack ist auch ein Coppola-Film, vor allem natürlich deshalb, weil zu Coppola (fast) alles paßt: Von stilistischer Handschrift kann die Rede nicht sein angesichts einer Filmographie, in der die Ausnahme zur Regel wurde. Von Der Pate führt keiner der üblichen Wege zu Apocalypse Now, und von One From the Heart keiner zu Peggy Sue Got Married, keiner zu Tucker und noch mal keiner zu Dracula. Francis Ford Coppola liebt, wenn es ans Filmemachen geht, die Abwege.
Dennoch: Jack scheint zunächst nur eine weitere Behinderung in Hollywoods Galerie der Handicaps zu liefern, in dieser seltsamen Sammlung photogener physischer Störungen. Aber dahinter, darunter ist bei Coppola mehr: Stil und Tonfall muten hier direkt (prä-)pubertär an, nicht vermittelt und nicht verstellt. Nahezu alle neueren US-Kinderkomödien imitieren entweder marktstrategisch das Infantile nur - oder sie ziehen gleich den gewohnten doppelten Boden (zur Kinder- und Erwachsenentauglichkeit) ein. Jack ist an sich infantil, und das ist eben selten.
Williams selbst ist die erste Überraschung: Er legt seine Bubenrolle so zurückhaltend an, daß dagegen selbst sein Gastauftritt in Hamlet wie Slapstick aussieht. Und mit sichtbarer Lust geht er jenen Verstellungsspielen nach, die Coppola in einigen, den besten Szenen ins Extrem treibt: wie Williams als Erwachsener ein Kind spielt, das einen Erwachsenen zu imitieren hat, das ist nicht nur absurd, sondern in dieser Form auch absolut sehenswert. Leider entgeht Jack, dessen schlichte Dramaturgie (vom Hohn am Schulhof zur gänzlich utopischen Popularität) der Banalität stets gefährlich nahe ist, am Ende der Pathosfalle nicht. Schon in der Musik erklingt der Mangel an besseren Ideen, und wenn der greise Siebzehnjährige schließlich zu allgemeinen Betrachtungen zu Glück & Leben ausholt, dann ist Hollywood wieder ganz bei sich. Amerikas U-Kino ist eines der simplen Gleichungen, das ist bekannt. Jack ist zumindest ein Versuch, sich der Macht dieser Gleichungen nicht ganz bewußtlos auszuliefern. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 5/6/1997)
Der Einstieg ist ein fetzig-phantastisches Filmkunstwerk für sich; würdig einem der größten Regisseure aller Zeiten: Ein Maskenball, bei dem Francis Ford Coppola seine Farb- und Bilderphantasie nur so sprühen läßt. Die zweite Sequenz ist eine Groteske, die das Thema des Films ankündigt: Faschingsgäste in vollem Kostüm rasen mit einer Frau ins Krankenhaus, die sich in Geburtswehen windet und dann einen gesunden Knaben zur Welt bringt. Allerdings: Sie war erst im zweiten Monat schwanger.
Der Rest des Films ist dann eine märchenhafteTragikomödie der besinnlichen Art. "Jack" handelt von einem Kind, dessen Lebensuhr viermal so schnell läuft wie bei allen anderen. Als Jack zehn ist, muß er sich schon lange rasieren. Für seine Altersgenossen ist er ein Monster. Denn er steckt im Körper eines Vierzigjährigen - auch wenn er die Seele eines Kindes hat. Robin Williams spielt Jack. Sein Temperament und seine Tricks läßt in der Garderobe - er legt das Mann-Kind als schüchternen, zarten Riesen an, der sich seiner Behinderung, aber auch seiner Träume bewußt ist.
Langsam, doch beharrlich erkämpft er seinen Platz in der Gesellschaft. Der zehnjährige Jack, der zuvor von seinen Eltern unter Verschluß gehalten wurde, kommt in die Schule. Erst ist er der verhöhnte Außenseiter, doch rasch erkennen die Kids seine Talente. Er kann, zum Beispiel, prima Basketball spielen. Er kann der Mutter eines Freundes vorspielen, daß er der Schuldirektor sei, und er bekommt am Zeitungsstand problemlos diese interessanten Magazine mit den nackten Girls drin. Man kann "Jack" einfach als witzigen Film über einen Riesen in der Kinderwelt begreifen.
Man kann ihn aber auch als Parabel sehen über den Umgang der Menschen mit Zeitgenossen, die (aus welchen Gründen immer) am Rande der Gesellschaft stehen. Francis Ford Coppola hat nach langer Regie-Pause einen großen kleinen Film gemacht. (Gunther Baumann, KURIER)