Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 31. Oktober 1997 neu angelaufene Kinofilme


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CAREER GIRLS - KARRIERE GIRLS (CAREER GIRLS)

GB 1997. 87 Min
Regie: Mike Leigh, Buch: Mike Leigh, Musik: Marianne Jean-Baptiste, Tony Remy, Kamera: Dick Pope, Schnitt: Robin Sales, Darsteller: Katrin Cartlidge (Hannah), Lynda Steadman (Annie), Kate Byers (Claire), Mark Benton (Ricky), Andy Serkis (Mr. Evans), Joe Tucker (Adrian), Margo Stanley (Ricky's Nan)
Kinostart: 31/10/1997

Die beiden Freundinnen Annie und Hannah treffen sich Jahre nach ihrer gemeinsamen Unizeit in London wieder. Damals hatten sie ihre Wohnung, ihre Hoffnungen und einige Joints geteilt. In der Zwischenzeit haben sie sich nicht gesehen. Sie verbringen ein gemeinsames Wochenende, in dem sie alte Erinnerungen auffrischen.
Regisseur Mike Leigh und Produzent Simon Channing-Williams arbeiten erstmals seit "Lügen und Geheimnisse" zusammen, die Musik stammt von "The Cure". Ein typisch englischer Film. (film.de)
Es gab eine Zeit, da war der Brite Mike Leigh hierzulande noch ein Unbekannter. 1972 hat er in Locarno zwar den Goldenen Leoparden gewonnen (mit «Bleak Moments»), doch dann ging er wieder, wie so viele Erstlings-Preisträger, unter in der Masse der Debutanten aus aller Welt. Zu Unrecht. «High Hopes» und «Life Is Sweet» dann waren satirische Komödien, die zwar den Weg in vereinzelte Kinos ausserhalb Grossbritanniens schafften, doch kaum breiter zur Kenntnis genommen wurden. Auch zu Unrecht. Erst die zynisch-apokalyptische England-Vision «Naked» und deren Gegenstück, das bittersüsse Familiendrama «Secrets and Lies», beide preisgekrönt am Festival von Cannes, schufen ihm schliesslich den Durchbruch in die internationale Liga der erfolgreichen und enthusiastisch rezipierten Autorenfilmer. Zu Recht?
In gewissen Fällen wünscht man sich, die Entwicklung eines Regisseurs verliefe, wie manchmal die Charakterentwicklung eines Menschen, umgekehrt. Leigh, der junge Theatermann, Fernseh- und Kinoregisseur, hatte früher eine Frische und Frechheit, die seinen lauernden Zynismus und seine latente Sentimentalität in Schranken hielt. Ausgerechnet in «Naked» und «Secrets and Lies», seinen erfolgreichsten Produktionen, spiegelten sich diese Attitüden, die zwei Seiten einer Medaille, besonders auffällig: die Koketterie mit dem Nihilismus und die Sentimentalisierung der Satire. Den sachten Zweifel, ob dieses Werk tatsächlich die Grösse habe, die ihm allenthalben zugeschrieben und -gejubelt wurde, verstärkt nun jedenfalls Leighs neuester Film. «Career Girls», der letzte Woche auf der Locarneser Piazza Schweizer Premiere hatte, scheint nurmehr eine Endlosschleife von theatralischen Spiel-Manierismen, wie sie Auge und Ohr bereits in früheren Filmen ermüdet haben (am ausgeprägtesten wohl Brenda Blethyns hilflos hysterische Mutterfigur in «Secrets and Lies»), sich dort aber immerhin nicht als nahezu einziges Stilmittel präsentierten. «Career Girls» schildert die erneute Begegnung zweier junger Frauen, die vor Jahren in einer Wohngemeinschaft zusammengelebt und sich dann aus den Augen verloren haben; das gäbe gewiss einen interessanten Stoff für ein kleines Kammerspiel, erst recht einem Improvisations- Fanatiker wie Leigh, dessen Spontan-Entwicklung von Charakteren mittlerweile Legende ist.
Doch was wohl als scharfer Blick auf die britische Thirtysomething-Generation im Übergang vom Thatcher- zum Major-England gedacht war, wird zur nervtötenden Exhibition pathologischer Figuren, deren Psychologisierung völlig willkürlich wirkt, geschweige denn repräsentativ für die Vertreterinnen einer Generation sein könnte. Man würde als schamlos empfinden, wie Leigh und seine Kamera sich an ihren aufgepfropften, körperlichen und sprachlichen Ticks, Tricks und Neurosen weiden, wären die beiden Hauptdarstellerinnen, Katrin Cartlidge und vor allem die Kino-Newcomerin Lynda Steadman, von ihren konfusen Rollen nicht ohnehin schwer überfordert. So stellt sich wenigstens kaum das Gefühl ein, dass hier ein Regisseur seinen Voyeurismus gegenüber echten Menschen, Krankheiten, Schmerzen und Problemen auslebt.
Nicht viel besser ergeht es dem männlichen Dritten im ehemaligen WG-Bunde, einem schweren Stotterer und verklemmten Dicken, dem die beiden Frauen bei ihrem Streifzug durch London als Obdachlosem wiederbegegnen - einer aus der Serie unglaublicher Zufälle, die schwerfällige Rückblenden in die Vergangenheit erlauben, aber weder die achtziger noch die neunziger Jahre erhellen. Eigentlich nur noch Symptome einer Improvisations-Manie sind, deren Mangel an Reflexion noch nie so deutlich zum Ausdruck gekommen ist wie hier. (Kino Le Paris in Zürich) (Pia Horlacher, Neue Zürcher Zeitung, 22/8/1997)

"Career Girls", Mike Leighs neuer Film, verbringt mit seinen Heldinnen ein Jahrzehnt in England: kleine Lockerungsübung in Sachen Sozialrealismus.
Zuletzt ging es in den Filmen des Briten Mike Leigh um Entblößungen (Naked), um Verstellungen und Enthüllungen (Secrets and Lies): um Geschichten also, die schonungslos Existenzen bedrohten und ihre Figuren an jeder Ecke mit jähen Umwälzungen konfrontierten. Im Grunde hat sich das gar nicht so sehr geändert, man sieht es nur kaum noch: Career Girls, Leighs neue Arbeit, ist ein fast offensiv kleiner Film, ein ruhiger, formal jede Exzentrik widerlegender Schauspielerfilm, der vom Wiedersehen zweier Freundinnen, nach langen Jahren, erzählt.
Annie (Lynda Steadman) sitzt anfangs im Zug, die alten Zeiten lächelnd erinnernd. In der Pendelbewegung zwischen Gegenwart und Rückblende findet Leigh seine Erzählung: ein Jahrzehnt Leben, parallel, zweigleisig erzählt. Wie das, was war, noch Jahre später, leicht modifiziert, in den Köpfen und den Gesichtern existiert, davon berichtet Leigh in Career Girls, einem Film, der von der Karriere, wie sie gemeinhin definiert wird, bestenfalls träumen läßt. Aber vielleicht liegt ja im Reifeprozeß selbst, im Ablegen jugendlicher Ängste auch eine Art Karriere.
Die Kluft zwischen damals und heute ist jedenfalls nicht gering: Damals, das ist die improvisierte Wohngemeinschaft dreier Mädchen in einem heruntergekommenen Haus in London, und es ist die gespannte Freundschaft Annies zu Hannah (Katrin Cartlidge), die rauhe Beziehung zweier Einsamer, eines verschüchterten Mädchens mit Neurodermitis zu einer schlagfertig-überspannten Zynikerin. Damals war in jedem Zimmer ein Song der Cure zu hören, utopische Lieder aus den achtziger Jahren, die von "Love Cats" und Caterpillars erzählten und vom Ins-Bett-Gehen, zum Beispiel: unwirkliche Gegenwelten, musikalische Fluchtpunkte, die im wirklichen Leben nie erreichbar sind.
Leighs Heldinnen sind Verliererinnen, könnte man meinen, wenn man sie da sitzen sieht, zuckend, stotternd, ihren Zorn nur mühsam unterdrückend. Im Heute aber relativiert Leigh das Versagen, die unendliche Einsamkeit zweier grauer Mädchen im grauen Thatcher-Land: Das Wiedersehen der beiden wird zu einer Reise in die gemeinsame Vergangenheit, die ein kleiner Abschied sechs Jahre davor beendet hatte. Man trifft, mit dem Auto durch die Stadt unterwegs, alte Feinde wieder und durchgedrehte Ex-Freunde, und inzwischen können sie vieles einfach aus dem Weg lachen, Hannah und Annie: die soziale Unfairneß ebenso wie all die kleinen Eifersuchtsdramen, die ihnen einst, damals so immens vorkamen.
Career Girls ist ein Nebenwerk Leighs, aber ein außerordentliches, könnte man sagen, auch wenn das ein wenig paradox klingt. Indem er seine Mittel konsequent den Menschen anpaßt, von denen er erzählt, bleibt Leigh bei der präzisen Lebensbeschreibung, beim melancholischen Stimmungsbild, bei der schlichten Materialsammlung dessen, was eine Jugend ausmacht. In der Ruhe, die sich dieser Film selbst in seinen dunkelsten Momenten bewahrt, liegt die ganze Souveränität seines Regisseurs. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 31/10/1997)

Mit "Secrets And Lies" gelang dem Briten Mike Leigh 1996 ein Welterfolg. Wer jetzt seinen "Career Girls" begegnet, erkennt auf Anhieb die lockere Handschrift des Londoner Filmemachers. Doch die Qualität von "Secrets And Lies" erreicht das Nachfolge-Werk nicht. Hannah und Annie sind die "Career Girls": Zwei Freundinnen, die einst in der Studenten-WG das alternative Leben erprobten, zwischen Sex & (leichten) Drugs & Rock'n'Roll, und die jetzt ihre Tage am Büro-Schreibtisch verbringen, wo das Abenteuer eher Pause macht. Der Film hüpft in flinkem Pingpong zwischen den Zeiten dahin. Mike Leigh zeichnet in einem feinen Puzzle die Kerben nach, die das Älterwerden in die Seelen seiner Figuren schlägt. Gewiß, Hannah und Annie sind reifer und souveräner geworden. Aber das Plus an Selbstsicherheit haben sie mit einem Verlust von Spontaneität bezahlt. Und wenn sie die Träume der frühen Jahre mit der ereignislosen Blässe des bürgerlichen Lebens vergleichen, dann ist der Blick zurück getränkt in Melancholie. All das ist präzis beobachtet, doch fehlt dem Film die dramatische Kraft, den Zuschauer zu überwältigen. Das Werk ist gut und sympathisch und ehrlich - aufwühlend ist es nicht. (Gunther Baumann, KURIER)

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HAPPY TOGETHER (CHEUN GWONG TSA SIT)

HongKong 1997. 92 min
Regie: Kar-wai Wong, Buch: Kar-wai Wong, Musik: Danny Chung, Kamera: Christopher Doyle, Schnitt: William Chang, Ming Lam Wong, Darsteller: Leslie Cheung (Ho Po-wing), Tony Leung Chiu Wai (Lai Yiu-fai), Chang Chen (Chang)
Kinostart: 31/10/1997

Liebende, die miteinander glücklich sind, gleichen sich auf der ganzen Welt. Doch wenn ihre Beziehung auseinandergeht, dann ist die Art, wie man sich selbst und dem anderen Schmerzen zufügt, immer anders und einzigartig.
Lai Yiu-Fai und Ho Po-Wing liebten sich, als sie von Hongkong nach Argentinien kamen. Sie suchten das Abenteuer, aber dann lief auf der Reise in den Süden etwas schief, und Ho trennte sich von seinem Geliebten. Inzwischen arbeitet Lai als Türsteher in einer Tangobar in Buenos Aires und versucht, etwas Geld für ein Rückflugticket zu sparen.
Eines Tages kehrt Ho zurück, blutig verletzt von einer Schlägerei. Lai nimmt ihn bei sich auf, weigert sich aber, wieder eine sexuelle Beziehung mit ihm anzufangen.
Wong Kar-Wai wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes für HAPPY TOGETHER mit dem Regiepreis ausgezeichnet. (kinoweb)

Was die beiden Männer zusammenhält, die es von Hongkong nach Argentinien verschlagen hat, ist unklar. Vielleicht die gemeinsame Vergangenheit, vielleicht die sexuelle Anziehung, vielleicht die Heimatlosigkeit. Auf dem Weg zu den Wasserfällen von Igua?u, in schwülen Tangobars, heruntergekommenen Häusern, auf den Strassen des nächtlichen Buenos Aires: Sind Po-Wing und Yiu-Fai zusammen, gibt es meistens Streit, gefolgt von Momenten tröstender Liebe; sind sie getrennt, herrscht Trauer. Po-Wing (Leslie Cheung) verschwindet, verkauft seinen Körper, treibt sich wochenlang mit schrägen Gestalten herum. Yiu-Fai (Tony Leung) kontert mit abweisender Härte, versteckt seinen Stolz hinter einer vorgeschobenen Affäre mit einem heterosexuellen Taiwaner (Chang Chen). Und immer wieder die Absichtserklärung, «wir wollen es noch mal versuchen», die den Gefühlen neuen Schwung gibt.
Filme über Homosexualität haben im chinesischen Kulturkreis in den letzten Jahren Hochkonjunktur erlebt. Zwar schliesst sich «Happy Together» von Wong Kar-Wai dieser Reihe an, doch weder in soziopolitischer Problematisierung noch in amüsanter Veralberung des Themas. Der Pas de deux aus Eifersucht, Zuneigung, sexuellem Verlangen und Langeweile vollzieht sich mit einer ungezwungenen Natürlichkeit, die keine Zweifel daran lässt, was eine homosexuelle Beziehung vor allem ist: eine Beziehung. Homosexualität ist in «Happy Together» Zentrum und Nebensächlichkeit zugleich. - Für Leichtigkeit bürgen Wongs einfühlsame Schauspielerführung sowie seine Begabung zur Improvisation. Einen vorbestimmten dramaturgischen Ablauf gibt es in seinen Filmen meistens nicht: Gefühle und Stimmungen während der Dreharbeiten - in diesem Falle in Argentinien -, die intuitive Kameraarbeit des Australiers Christopher Doyle sowie der Prozess am Schneidetisch bestimmen die «Handlung», die erst in den Köpfen des Publikums beendet wird.
«Happy Together» wird dadurch über weite Strecken zu einem Seh- und Hörerlebnis, das Geist, Emotionen und ästhetisches Empfinden zu gleichen Teilen anregt. Und trotzdem fällt der Vergleich mit Wongs früheren Filmen eher nachteilig aus, worüber auch die Regieauszeichnung am diesjährigen Festival von Cannes nicht hinwegtäuschen kann. Es fehlt die Vielfalt des Figurenmosaiks, das «Chungking Express», «Fallen Angels» oder den hierzulande leider weniger bekannten «Days of Being Wild» auszeichnete. Während das Publikum dort viele kleine Geschichten in eigener Regie zueinander in Beziehung setzten konnte, muss es hier allein mit der Endlosschlaufe einer Zweierbeziehung auskommen, die nur kurz durch die Figur des Taiwaners etwas aufgelockert wird.
Sobald es der atmosphärischen Collage misslingt, einen in Bann zu ziehen, wird eine gewisse Eintönigkeit des Geschehens erkennbar. Selbst die lyrischen Qualitäten von Doyles Kameraarbeit drohen ins Leere zu fallen, wenn nicht mehr klar ist, was besungen wird. In dieser Hinsicht ist es auch weniger eine geglückte Auflockerung als eine formale Selbstgefälligkeit, wenn Yiu-Fais Überlegung, Argentinien sei eigentlich ein umgekehrtes Spiegelbild seiner Heimat, mit auf dem Kopf stehenden Bildern von Hongkong verdeutlicht wird. Anders verhält es sich mit der langen - in bläuliches Licht getauchten und von einem wunderbar schleppenden Tango begleiteten - Zeitlupeneinstellung der Wasserfälle von Igua?u, des gemeinsamen Ziels, das nie erreicht werden wird. Träume, Freiheitssuche und (sexuelle) Energie verdichten sich darin zu jener atemberaubenden Intensität, die beweist, dass Wong eben doch ein aussergewöhnlicher Filmkünstler ist. (Neue Zürcher Zeitung, 12/9/1997)

Zeit, so Wong Kar-Wai einmal in einem Interview, spiele aus ganz pragmatischen Gründen eine wichtige Rolle in seinen Filmen: Er stehe bei den Dreharbeiten immer zuwenig davon zur Verfügung. Ähnlich bedrängend nehmen sich im Schaffen des Hongkong-Regisseurs Raumverhältnisse aus: Viele der extremen Bildeinstellungen des Kameramanns Christopher Doyles resultieren aus realer Enge an den Drehorten, in der man den Protagonisten auf den Leib rücken muß.
So ergibt sich paradox verquälte Lust: Menschen, die Nähe zu anderen suchen, haben klaustrophobische Beklemmungen. Rasender Lebensrhythmus läßt manisch auf der Stelle treten. Und über reglosem Warten vergehen die Tage viel zu schnell. Im Zeitraffer werden die Umfelder stoischer Helden zu beschleunigten Ameisenhaufen.
Happy Together: Der jüngste Spielfilm Wong Kar-Wais handelt in bester Tradition dieser Wiedersprüchlichkeiten von einer Liebeshölle. Er beginnt mit einem Ausbruchsversuch zweier homosexueller Freunde, der schließlich in einem viel zu kleinen Zimmer in Buenos Aires, kleinlichen Eifersüchteleien und jämmerlichen Abhängigkeiten endet. Wenn er am Anfang Reisebewegungen auf Autostraßen anklingen läßt, so stocken diese wiederholt in Orientierungsversuchen, entnervtem Stillstand.
Die Schauspieler, die hier dünnste Membranen zum Klingen bringen – Leslie Cheung und Tony Leung – sind in Hongkong absolute Mainstream-Superstars. Es ist, als würden Richard Gere und George Clooney in einem Film von Godard ihr Innerstes nach außen kehren – aber dieser Film rückt das scheinbar Unvereinbare dermaßen elegant zusammen, daß in höchster Dichte doch wieder so etwas wie ein schwarzes Loch aufreißt. In Happy Together ist es sichtbar in Form einer Aufsicht auf monumentale Wasserfälle, endlose Sturzbewegungen, an denen sich scheinbar nichts ändert. Unter den Flutmassen kommt jedoch stets die Erosion zu ihrem Recht, in einer monumentalen Ode auf prächtigste Vergänglichkeit. Dazu: Piazzola. Tango. Man will diesen Film immer wieder sehen. Derzeit im Wiener Filmcasino. (Claus Philipp, DER STANDARD, 4/11/1997)

Vor der Kompromißlosigkeit chinesischer (Kultur-) Politik floh der florierende Film Hongkongs vor der Übernahme im Juli 1997 ins Ausland. Auch Wong Kar-Wai drehte "Happy Together" in Argentinien, fügte seinen rasanten Bilderräuschen aus "Chungking Express" und "Fallen Angels" die Melancholie des Tango hinzu. Und die schmerzreiche Liebesgeschichte eines Männerpaares. "Happy together" erhielt in Cannes die Goldene Palme für die Beste Regie.
Lai Yiu-Fai und Ho Po-Wing kamen zusammen nach Argentinien, aber irgendwann auf der Reise zu einem Wasserfall fiel ihre Liebe auseinander. Jetzt schleust Lai als Portier asiatische Touristen in eine Tangokneipe. Ho macht sein Geld in Stricherkreisen, läßt sich immer wieder kurz in Begleitung anderer Männer sehen. Doch dann liegt er zusammengeschlagen vor seinem Ex-Liebhaber. Lai nimmt ihn auf, pflegt ihn in seinem kleinen Zimmer, bleibt aber auf Distanz. Bei seinem neuen Job in einer Restaurantküche lernt Lai dann den jungen Taiwanesen Chang kennen...
Wong Kar-Wai fand für die wechselvolle Beziehung ein schönes Bild: "Wie ein Flugzeug und ein Flughafen. Der eine kommt immer wieder zum anderen. Das Spannende ist, zu sehen was passiert, wenn der Flughafen plötzlich geht." So bleibt der verlassene Lai hart, auch als Ho wiederkommt und mit seinem ausschweifenden Erlebnishunger für Eifersucht sorgt.
Auch wenn die schwarz-weißen Aufnahmen mehr Ruhe vermitteln als die Kultfilme "Chungking Express" und "Fallen Angels", die Geschichte erzählt sich über eine wilde Szenenfolge, begleitet mit Musik von Astor Piazzolla bis Zappa. Wie bei vielen Bewohnern Hongkongs fällt bei Wong Kar-Wai kein Wort über Angst oder Flucht bezüglich der neuen Situation: Er wollte einfach neue Erfahrungen machen, noch mal bei Null anfangen, da sein Stil mittlerweile überall kopiert wird. Doch daß die Geschichte auch noch in Taiwans Hauptstadt Taipeh endet, bietet einen weiteren Ansatz für politische Interpretationen. (Günter H. Jekubzik, FILMtabs)

Boy trifft Boy, Boy verliert Boy, Boy trifft Boy wieder, Boy verliert Boy erneut. Auch ohne Aids zeigen Schwulenfilme selten Happy-Ends. Vielleicht hat das mit der brutal selbstüberwindenden Ehrlichkeit des Outens zu tun. Auch die finalen Liebestaumel der Heteros lassen meist schon bei Filmende ihr Ablaufdatum ahnen. Aber das Publikum darf sie wenigstens weiterträumen. Trotz träumerisch-hypnotischem Kamerablick wartet auf diese Männerliebe der volle Kübel Eiswasser. Bei der Lovestory zwischen Lai Yiu-Fai und Ho Po-Wing wird nicht einmal die Illusion einer längeren Zeit des Glücks beschworen. Sie klammern, statt zu umarmen. Sie verzehren, statt zu küssen. Sie quälen sich, wenn sie einander beistehen. Da hilft kein Flüchten, aber die zwei wissen es nicht. Also wandern die beiden jungen Chinesen von Hongkong nach Argentinien aus. Die Isolation der Fremde beschleunigt den üblichen Crashkurs angeschlagener Gefühle. Der eine spart als Schlepper für eine Tangobar auf das Rückflugticket, der andere stürzt sich in dunkle Abenteuernächte, die ihn verprügelt und schwer verletzt wieder ausspeien. Der Gesunde pflegt den Verletzten, aber Sa- mariterdienst ist nicht Liebesdienst. Während die äußeren Wunden vernarben, bleibt die Schwindsucht ihrer Liebe unheilbar. Hongkongs Starregisseur ("Chungking Express"), in Cannes dafür mit dem Re- giepreis bedacht, hat seine Elegie über Liebesverlust und Heimatrückgewinn künstlerisch mit einem elegischen Ich-Erzähler, haspelnden Schnitten, sparsamer Symbolik und poetischen Bildfolgen gedopt. Lange schweift das Auge über das Sehnsuchtsziel, die berühmten Fälle von Igazu. Hat es Bedeutung, daß das schmutzigbraune Wasser der Zuflüsse beim Aufprall in schneeweißen Wasserstaub zerbirst? Denn selbst dieses metaphorische Happy-End verwandelt sich nämlich wieder in kloakenbraunes Flußabwärts. (Rudi John, KURIER)

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GANZ ODER GAR NICHT (THE FULL MONTY)

GB 1997. 90 Min
Regie: Peter Cattaneo, Buch: Simon Beaufoy, Musik: Anne Dudley, Kamera: John de Borman, Schnitt: Nick Moore, Dave Freeman, Darsteller: Robert Carlyle (Gaz), Tom Wilkinson (Gerald), Mark Addy (Dave), Lesley Sharp (Jean), Emily Woof (Mandy), Steve Huison (Lomper), Paul Barber (Horse), Hugo Speer (Guy), Deidre Costello (Linda), Bruce Jones (Reg), William Snape (Nathan), Paul Butterworth (Barry), Dave Hill (Alan)
Kinostart: 31/10/1997

Vergeßt die "Chippendales"! Sie sind dick, alt, hühnerbrüstig oder talentlos.Jetzt kommen sechs Stahlarbeiter, die ihr letztes Hemd hergeben. Sie haben zwar keine Astralkörper, dafür aber ­ Persönlichkeit! Und alle nicht nur arbeits­, sondern auch hoffnungslos. Bis einer von ihnen auf eine glorreiche Idee kommt: Warum nicht aus der Blöße Kapital schlagen? Nicht nur Kleider machen Leute. Zwar hat jeder Angst, sich zu blamieren. Und auch das mit dem Takt klappt nicht so richtig. Doch einmal ausgeheckt, wird der Plan zur fixen Idee.
Also trainieren, tanzen und strippen sie auf Teufel komm raus ­ in aller Heimlichkeit, versteht sich. Die eigenen Gattinnen sollen ja nichts erfahren. Je näher die Show rückt, desto nervöser werden die Stripper. Und schließlich steht auch ein knapper, roter String als letzte Schamgrenze zur Debatte: Ganz oder gar nicht, das ist hier die Frage. (kinoweb)

"Dare to be bare", steht auf die Handzettel gepinselt, die an Ladentüren und Telefonmasten der mittelenglischen Industriestadt Sheffield flattern, "Wir genieren uns nicht, nackt zu sein". Der Hinweis gilt der weiblichen Einwohnerschaft, die zu einer unkonventionellen Strip-Show geladen wird. Eine Handvoll arbeitsloser Stahlarbeiter unter der Führung des drahtigen Gaz will es den "Chippendales" nachtun, die wenige Tage zuvor mit ihren sonnenverwöhnten Körpern die Frauen aus der Reserve lockten. Bis der lokale Tanzschuppen aber vor erwartungsvollen Stimmen wie ein Bienenstock brummt, und hinter der Bühne kalter Angstschweiß auf den Stirnen perlt, durchmißt Peter Cattaneos warmherzige Komödie so weite Räume voller Witz, Humor und leisen sozialkritischen Tönen, daß man diesen wohltuend menschlichen Film nur mit Erstaunen als Debütarbeit eines begabten Duos wahrnimmt. Auf die absurde Idee, mit ihrem Körper Geld zu verdienen, verfallen Gaz und sein dicker Freund Dave, als sie bei einer ihrer zahllosen Streifzüge die riesige Warteschlange erregter Frauen bemerken, die dem Auftritt der kalifornischen "Akt"-eure entgegenfiebern. Während Dave noch skeptisch seine Rundungen betrachtet, ist schon ein Dritter gefunden: Lomper, rothaarig, schmalbrüstig und eben im Begriff, sich das Leben zu nehmen. Das Argument, daß ein Selbstmörder nichts mehr zu verlieren haben, würde bei dem ehemaligen Vorarbeiter Gerald auf taube Ohren stoßen. Seit einem halben Jahr bringt er es nicht übers Herz, seiner Frau einzugstehen, daß auch er entlassen wurde. Da er der einzige ist, der über ein bescheidendes Repertoire an Standardtänzen verfügt, wird der verklemmte Schlipsträger mit sanfter Gewalt gefügig gemacht. Guy und der alte Horse komplementieren nach eingehender Prüfung die Runde, die in einer alten Werkshalle alsbald heimlich das Training aufnimmt. Von dem Timing und der Grazie, die Gerald als Geheimnis jeder Choreographie preist, kann vorerst noch keine Rede sein, weshalb Dauerläufe, Liegestütze und täglich ein Fußballspiel verordnet werden.
Die eigentlichen Probleme liegen jedoch nicht im Kampf mit normalen Widrigkeiten wie kleine Diebstähle für die nötigen Accessoires oder der Suche nach einem Veranstalter, der sich auf die freizügige Herrendarbietung einlassen will. Völlig unsicher werden die Männer bei dem Gedanken, daß die Frauen ihre Proportionen ähnlich respektlos kommentieren könnten, wie sie dies selbst von Besuchen einschlägiger Lokalitäten gewohnt sind. An Hand der Figur des rundlichen Dave entwickelt der Film ein amüsantes Spiel mit der Verkehrung der Geschlechterperspektive bis hin zum frustrierten Freßanfall. Eine ähnlich hellsichtige Sensibilität waltet bei der Charakterisierung jeder anderen Einzelfigur: Gaz' großspurige Souveränität fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als ihm seine geschiedene Frau den Entzug des Sorgerechts für Sohn Natan androht, da er seinen Unterhaltszahlungen nicht nachkommt; Lompers depressive Minderwertigkeitsgefühle sind durch eine kurze Szene mit seiner Mutter ebenso biografisch eingebunden wie seine homoerotischen Empfindungen für Guy; und warum es Gerald schwer fällt, mit der Wahrheit herauszurücken, ist nach einem Blick ins biedere Rosarot seines Eigenheims für niemandem ein Rätsel. Ein paar Dialogzeilen genügen Cattaneo und Beaufoy, um ihre Figuren authentisch und lebensecht zu gestalten, was vor allem heißt, die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit und ihre unterschiedlichen Kompensationsmechanismen anzudeuten. Man braucht nur auf die gezischelten Kommentare zu achten, mit denen die beginnende Liaison von Guy und Lomper bedacht wird, um zu verstehen, daß es hier wirklich wie unter den Arbeitern einer mittelenglischen Stadt zugeht und der aus Sheffield stammende Autor das Ohr am Mund des Volkes hatte.
Ein feines Gespür für wohltemperierte Nuancen beweist der Film vor allem auch in seinen komischen Momenten, die sich wie von selbst aus den jeweiligen Situationen entwickeln. Wenn die Männer probeweise ihre Hüften kreisen lassen oder sich beim Versuch, lasziv das Hemd über den Kopf zu ziehen, in den Knöpfen verheddern, fehlt jede Spur aufgespreizten Klamauks, der viele Komödien so hanebüchen macht. Gerade an den witzigen Wendepunkten, wenn etwa bei der Generalprobe ein Bobby in die Halle platzt und in Verkennung der Umstände die Hobbystripper im roten String verhaftet, spürt man den Respekt und die Achtung, die keine der Figuren der Lächerlichkeit preisgibt oder für billige Scherze mißbraucht. Statt auf derbe Zoten und tolpatischigen Slapstick setzt Cattaneo auf die sensible Beobachtung der Widersprüche, in die sich seine Helden zwangsläufig verstricken, weil Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Aus dieser Haltung heraus fällt es ihm nicht scher, geschickt Akzente zu setzen und jede Larmoyanz, die vom Thema her durchaus nahe läge, im Keim zu ersticken. Humor und ein Schuß schlitzohriger Optimismus, so demonstriert es diese amüsante und kurzweilige Arbeitslosenkomödie in jeder Einstellung, bewahren auch dort vor Verzweiflung, wo das Umfeld keinen Anlaß zur Hoffnung bietet.
Um sich von der vitalen Urwüchsigkeit einer solchen Lebenskunst anstecken zu lassen, ist es weder nötig, den Film im (nicht leicht verständlichen) Originaldialekt zu sehen noch die spezifischen nationalen Hintergründe zu kennen. Es belegt aber die außergewöhnliche Qualität dieses Erstlingswerkes, daß in ihm eine Reihe kultureller und politischer Umbrüche verarbeitet wurde, die mit dem Niedergang der angelsächsischen Schwer- und Bergbauindustrie verbunden ist. Als Folge der gravierenden Arbeitslosigkeit geriet nicht nur das Sozialgefüge aus den Fugen, sondern verloren auch die traditionellen Rollenklischees ihre Funktion. Die Auswirkugnen, Identitätsverlust, zerrüttete Ehen, Gewalt und Kriminalität, sind filmisch schon oft thematisiert worden. Cattaneo begnügt sich aber ebenso wie Mark Herman in "Brassed off" (fd 32 785) nicht mit der bitteren Analyse, sondern spielt mit den Mitteln des Kinos den Provokateur. Er treibt das Phänomen, daß prüde englische Männer ihre Ehefrauen als Stripperinnen annoncieren, auf die Spitze, indem er seine Herren vor die Wahl stellt, ganz oder gar nicht die Hosen fallen zu lassen. Das psychische Pokerspiel in den Köpfen des Sextetts, das, je näher der Auftritt rückt, vor der eigenen Courage gehörig Respekt verspürt, dient als unterhaltsamer Stoff für das grundlegendere Thema männlicher Selbstbilder. Die Entdeckung des Körpers, ein gewandeltes Vater-Sohn-Verhältnis, Selbstachtung auch ohne Broterwerb sind einige Stichworte, die unprätentiös und mit leichter Hand in diese realitätshaltige Hommage an die Working-Class verwoben sind. "Dare to be bare": Zeit, muffige Klamotten abzulegen. (Josef Lederle, film-dienst)

Gaz (Robert Carlyle, Begbie aus Trainspotting) und seinem besten Freund Dave (Mark Addy) geht es finanziell nicht so besonders rosig: sie kommen aus Sheffield, einer ehemaligen Stadt der Montanindustrie, in der es jetzt von Arbeitslosen nur so wimmelt, da die Stahlwerke mittlerweile geschlossen sind und es in der Stadt kaum noch Arbeit gibt. Dennoch lassen sie sich die Tage nicht verderben, sind meist guter Dinge und verbringen ihre Zeit im Job-Club mit Karten spielen.
Erst ein einschneidendes Ereignis in das Leben von Gaz bringt sie ernsthaft dazu wieder Geld verdienen zu wollen: wegen Rückstände in den Unterhaltszahlungen an seine Ex-Frau verliert er nämlich seine Hälfte des Sorgerechtes an ihrem gemeinsamen Sohn Nathan (William Snape, der ein echter Ersatz für Kevin in "Home Alone" wäre). Was also tun? Da gerade die bekannte Strippertruppe Chippendales in der Stadt ist, die an einem Abend Einnahmen von einigen tausend Pfund haben, kommt Gaz auf die Idee, gemeinsam mit einigen anderen Arbeitslosen und Gerald (Tom Wilkinson), einem ehemaligen Chef, der mittlerweile auch auf der Straße steht aber ein guter Tänzer ist, ebenfalls die Hüllen für Geld fallen zu lassen.
Nach kurzer Zeit haben sie dann die Idealbesetzung für eine Stripvereinigung zusammen: Gaz, der wohl schon bei Windstärke 3 aufpassen muß daß er nicht weggeweht wird, Dave, der schätzungsweise 50 Pfund zu viel auf die Waage bringt, Gerald, der schon graue Schläfen hat; dazu kommen der rothaarige und recht bleiche Lomper (Steve Huison), Guy (Hugo Speer), der absolut kein Gefühl für Rhythmus hat und zu guter letzt noch der ehemalige Breakdancer Horse (Paul Barber), der mit den Jahren allerdings ein Leiden im Hüftbereich bekommen hat. Aber dennoch spricht sich der geplante Auftritt der heimischen Jungs recht schnell herum. Wenn sie es wirklich wagen, sich vor Pubikum auszuziehen, kann das ganze eigentlich nur ein Erfolg werden, zumindest finanziell...
"Ganz Oder Gar Nicht" hält über die gesamte Filmlänge gekonnt die Balance zwischen einer (typisch britischen) Komödie und der Dramatik der fast ausweglosen Situation der Arbeitslosen. Die Charaktere wirken erstaunlich echt und glaubwürdig, was darauf zurückzuführen ist, daß keiner von ihnen dem Schönheitsideal der heutigen Zeit auch nur nahekommt. (Natürlich spielen sie ihre Rollen auch sehr gut...) Irgendjemand sagte nach dem Film "Endlich mal ein Film mit normalen Leuten und nicht mit diesen Schönlingen" - aber gerade das macht den Film aus! (heinz-online)

Das Kinovergnügen an britischem Sozialelend geht weiter: "Twin Town" heißt nun Sheffield, hat nach erloschenem Industrieruhm nur noch Arbeitslosigkeit und Frust zu bieten. Die kleinen Helden dieses Films vertreiben sich im Job-Club den Tag mit Kartenspiel, Bölkstoff und Blödsinn. Ihr männlicher Stolz sinkt, so wie anscheinend auch die Achtung ihrer Frauen. Diese haben ihren Spaß bei einem lokalen Auftritt der eingeölten und muskelbepackten "Chippendales".
Robert Carlyle, der mörderische Fiesling aus "Trainspotting" spielt nun den sympathischen, verantwortungslos-verrückten Gaz. Der Wortführer einer Arbeitslosen-Clique, lebt von seiner Frau getrennt. Wenn er seinen Sohn Nathan sieht, dann meist auf kleinen Diebeszügen, irgendwie peinlichen aber auch witzigen Aktionen. Da Gaz wegen permanentem Geldmangel der Verlust seiner Fürsorgerechts-Hälfte droht, geht er mit einer atemberaubenden Idee aufs Ganze: Die arbeitslosen Kumpels werden mit einer einmaligen Stripshow das große Geld machen. Nun sehen die Jungens nicht gerade atemberaubend aus, sind teilweise auch recht schüchtern. Der immer verspottete Ex-Vorarbeiter Gerald (Tom Wilkinson) hat Tanzerfahrung und eine Sonnenbank, der schwarze Horse (Paul Barber) eine kaputte Hüfte und feurigen Rhythmus im Blut, der pummelige Dave (Mark Addy) Minderwertigkeitskomplexe und einen Eifersuchtsverdacht. Wirklich eine starke Truppe. Der Weg zum Erfolg ist schwierig aber umwerfend komisch. Allerdings hat ihnen Gaz noch nicht erzählt, daß sie bei der Show alles zeigen sollen ...
Wenn die aus Afrika stammenden weiblichen Familienteile feixend die Generalprobe beurteilen, haben die Lachmuskeln längst erste Dauerschäden. Wo Freundschaft in solch miesen Zeiten bedeutet, daß man automobilistische Starthilfe zum Selbstmordversuch gibt, da schlägt der New British Humor zu.
Es sind irgendwie alles Kumpel und Kollegen: Die Stripper, die "The Full Monty" machen, die Zechenband aus "Brassed off". Fast schaut man besorgt nach Großbritannien: Sollte sich durch die neue sozialistische Regierung tatsächlich etwas zum Besseren wenden, werden uns in den nächsten Jahren die wunderbaren Filme dieser Art fehlen. (Günter H. Jekubzik, FILMtabs)

Im tristen Warteraum eines Arbeitsamts in der mittelenglischen Stahlmetropole Sheffield finden sich ein paar ausrangierte Kumpel zusammen, denen es stinkt, wie ihre Frauen für den öligen Glamour irgendwelcher "California Dream Boys" schwärmen, und sie tun sich nach der Parole "was die können, können wir auch!" zu einer männlich-proletarischen Strip-Revue zusammen. Der blödsinnige Einfall erweist sich im Kino-Erstlingswerk des Autors Simon Beaufoy und des Regisseurs Peter Cattaneo als fabelhaft produktiv (und inzwischen auch in Großbritannien wie in den USA als fabelhaft erfolgreich): Was den beiden Newcomern gelungen ist, kommt nicht als Hosen-runter-Klamotte daher, vielmehr als eine Komödie, die mit gewitztem Scharfblick für Milieuspezifisches wie für Männerscheu vor der eigenen Körperlichkeit dem allgemeinen Elend ein besonderes Vergnügen abgewinnt. (DER SPIEGEL 44/1997) Nette Burschen, unverschuldet arbeitslos, aber mit unverwüstlichem Humor - sowie originellem, aber lukrativ unergiebigem Hobbyjob (mit dem sie immerhin über ihr Elend triumphieren) - suchen Kinopublikum zwecks rührend-witziger Unterhaltung desselben.
Mittlerweile könnten die Benutzer dieser inzwischen etwas überstrapazierten Masche, Sympathiewerbung für Underdogs und deren traurigen Situation zu betreiben, für jeden weiteren Aufguß gleichlautende Inserate wie obiges schalten. Auch Britanniens linke Filmemacher sind halt nicht frei von zeitgeistig spekulativer Themenwahl. Nur daß gerade der jüngste Streich dieser tragikomischen Art eine derart abschätzige Einleitung vielleicht nicht verdient: er ist bei weitem der einfallsreichste, erheiterndste, beste. Auch besitzt selbst der halblustigste Soziallustspielschmarren alleweil noch mehr Wert als die glattpolierten Leerläufe filmindustrieller Schönheitschirurgie und schicker Schicksalsaerobic Hollywoods.
Alsdann „The Full Monty“ (Originaltitel): Die ausgefallenen Bemühungen eines halben Dutzends gefeuerter Stahlarbeiter aus Sheffield, nicht in Selbstmitleid und Verzweiflung zu versacken, selbstironisch und unsentimental locker vorexerziert.
Dagegen wirkt der bereits in die Kinos vorausgeeilte, ähnlich gestrickte Mitleidsknüller „Brassed off“, wo abgehalfterte Bergleute mittels Blechmusik mental überleben, wie ein weinerlicher Trübsalblaswettbewerb.
Rädelsführer Gaz (der neue Superstar Robert Carlyle, ein aufmüpfiges Grinsen markengerecht festgeklebt) hat nämlich einen Auftritt der männlichen Strippertruppe Chippendales belauscht. Von der Idee besessen, deren Show trotz Hühnerbrust und Krummbeinen gewinnbringend zu kopieren, rekrutiert Gaz die brauchbarsten unter seinen Kumpeln. Das Ergebnis: eine Riege motivierter Freaks läßt hinter dem Rücken ihrer Frauen nach und nach Depressionen und Hemmungen fallen; ob auch die Hosen, das soll sich selbst ansehen, wer da will. (Rudi John, KURIER)

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VOLL DRAUF (GRIDLOCK'D)

USA 1997. 91 Min
Regie: Vondie Curtis-Hall, Buch: Vondie Curtis-Hall, Musik: The Angel, Stewart Copeland, Kamera: Bill Pope, Schnitt: Christopher Koefoed, Darsteller: Tupac Shakur (Spoon), Tim Roth (Stretch), Vondie Curtis-Hall (D-Reper), Thandie Newton (Cookie), Charles Fleischer (Mr. Woodson)
Kinostart: 14/11/1997

Der Kampf gegen Drogen: ein Kampf gegen sich selbst, aber ebenso einer gegen eine unmenschliche Bürokratie. Aus einem fröhlichen und unbekümmerten Trio wird durch den dramatischen Tod der Freundin von Spoon und Stretch ein Duo, das den Kampf gegen die Sucht und für einen Therapieplatz antritt. Ein aussichtsloses Unterfangen.
Regisseur Vondie Curtis-Hall gelingt mit seinem Erstlingswerk ein toller Film, der nicht einfach nur dramatisiert, sondern dem Zuschauer mit tollem schwarzen Humor und gelungenen Dialogen viel Spaß bereitet. Der ehemalige Gangsta-Rapper Tupac Shakur zeigt eine herausragende schauspielerische Leistung, wurde jedoch nur einige Wochen nach dem Film erschossen aufgefunden. (film.de)

Der schwarze Rapper und Schauspieler Tupac Shakur, ein Mann von gewalttätigem Temperament, wurde niedergeschossen am 6. September 1996, kurz nach Beendigung der Dreharbeiten zum Film «Gridlock'd». Er starb eine Woche später an seinen Verletzungen, Opfer eines rassistischen Alltags, dem er immer mit militanter Wut begegnet war, und einer Wirklichkeit, in die er selbst einige lyrische Brandsätze geworfen hat. Der vermutliche Urheber des Anschlags, der New Yorker Rapper Notorious B.I.G. (welcher Shakurs öffentliche Anspielungen auf seine drei Zentner Lebendgewicht und auf inzestuöse Praktiken ganz schlecht vertragen hatte), fiel einige Monate später ebenfalls in einem Kugelhagel. Der Plattenverkauf zog danach an wie nie zuvor, das Magazin «Newsweek» erkannte ein tödliches Muster der Profitmaximierung, von der die Toten allerdings nichts mehr haben. Die real existierende Brutalität des bandenmässig organisierten Ghettolebens, die sich im sogenannten Gangsta Rap bis zur völligen Vermischung von Leben und Kunst fortsetzt, ist ja vor allem eine blutige Verschwendung von Talent.
Dies nur vorausgeschickt, weil «Gridlock'd» von Vondie Curtis Hall jetzt auch zu Tupac Shakurs Nachlass gehört und vom Tod seines Hauptdarstellers vermutlich mehr profitiert als von seinen genuinen Qualitäten. Die Trauer, die sich als Widmung äussert («For 2Pac ‹One Love› R.I.P.»), hat in so einem Fall immer etwas sehr Geschäftstüchtiges.
Der Film seinerseits, der nicht als Epitaph gedacht war, handelt von zwei Detroiter Junkies (neben dem melancholisch eloquenten Tupac Shakur ein wuseliger Tim Roth), die lernen müssen, dass es auch für Entzugswillige einen Dienstweg gibt. Von zweien, die's noch packen könnten, ehe ihnen das Glück davonläuft, wenn nicht die Verbürokratisierung menschlicher Notfälle schon so weit fortgeschritten wäre. Also zum Beispiel von der Erfahrung, dass der Wille zur Gesundung sich an einem Beamtenschädel bis zur Resignation abarbeitet. Fast freundlich skurril macht das die Pose von komödiantischer Radikalität: ein Produkt dramatischer Begabung, exakter Beobachtung und effektvoller Flüchtigkeit. Die Inszenierung, leider, hat einen Hang zum Panoptikum, sozusagen zu den eindimensionalen Gustostücklein aus dem Bereich der amerikanischen Sozialfürsorge, den kaltherzigen Verteilerinnen von Wartenummern und den tobsüchtig philosophierenden Kriegsveteranen. Und es genügt ihr halt nicht, was in seiner differenzierten Komik wirklich bewegt: das Drama zwischen der Hilflosigkeit der Helfer und der Penetranz der Hilfesuchenden. Vergleichssüchtige haben «Gridlock'd» bereits die amerikanische Antwort auf «Trainspotting» genannt. Das Regiedébut des Schauspielers Curtis Hall verdient allerdings seinen eigenen Respekt. Aber die Stacheligkeit von Danny Boyles surrealem Gegenwartskonzentrat, dieser Geschichte aus dem dreckigen Paradies der Sucht, bleibt unerreicht. Denn immer noch liegt eine künstlerische Welt zwischen einem, der in unbefriedeten Widersprüchen denkt, und dem anderen, der mit der moralischen Wirkung von Kontrasten schon ganz zufrieden ist. (Christoph Schneider, Neue Zürcher Zeitung, 21/8/1997)

"Gridlock'd - Voll drauf", derzeit im Kino, schlägt mit einer denkbar kleinen Junkie-Geschichte bemerkenswert leise Töne an: Kino unter Freunden, mit Tim Roth und Tupac Shakur.
Waffen werden in diesem Film auch nicht seltener gezogen als bei Quentin Tarantino. Dafür haben sie hier mehr Wirklichkeitswert. Tim Roth, ohne den solche Geschichten im amerikanischen Independentfilm praktisch nicht mehr auskommen, nennt, ohne groß nachzudenken, bei der Arbeit einen Geschäftspartner freundlich "Nigger". Sowas sagt man aber nicht, wenn man ein white boy ist und einen respektablen schwarzen Mann vor sich hat. Also blickt Roth in den Lauf eines gezückten Revolvers: Er habe es nicht so gemeint, sagt sein bester Freund, Rap-Star Tupac Shakur, er glaube einfach nur tatsächlich, ein black man zu sein.
Gridlock'd , mit Voll drauf! gewohnt todesverachtend ins Deutsche übertragen, ist die Geschichte einer Wohngemeinschaft, in der Rassismus keine Frage ist: Roth und Shakur wohnen, leben, dealen und fixen miteinander. Die Story beginnt lebensgefährlich, aber denkbar lakonisch: Shakurs Freundin wacht nach einem Schuß Heroin nicht mehr auf, bleibt im Koma. Shakur, der verantwortungsvollere der beiden, beginnt nachzudenken - und kommt zu einem Schluß: "I'm kickin'", sagt er, er wolle aufhören mit den Drogen.
Daß das weniger leicht getan ist als gesagt, ist bekannt, dazu braucht man diesen Film nicht, der auch sonst an Innovation wenig interessiert ist. Regisseur Vondie Curtis Hall aber scheint das gesamte Blaxploitation- Kino der siebziger Jahre sehr gelassen mit den Gegebenheiten der Gegenwart gemischt zu haben, und kommt in einem Film an, der nichts als er selbst ist: eine kleine coole Story vom Leben in der Stadt und in der Sucht. Gridlock'd schlägt keine besondere Richtung ein und keine besonderen Töne an - und allein dafür, für die Verweigerung der Moden und der Großspurigkeit, kann man ihn gut mögen.
Regisseur Hall, der mit Gridlock'd, wenn auch vage, die eigene Biographie verfilmte, geht stereotypen Bildern aus dem Weg, indem er Botschaften konsequent meidet und seine Helden ihre Rollen tauschen läßt. Bei ihm ist Roth der quirlige, flatternde Junkie, während der schwarze Shakur, im richtigen Leben Gangsta-Rapper, die Ruhe bewahrt und für die Vernunft zuständig bleibt. Die Räume, in denen Hall seine Story erzählt, sind nicht die Lofts des Schauwertkinos und nicht die Höllen-Slums des Sozialrealismus, sondern einfach nur die Orte, an denen Menschen leben. Kleine Geschichten benötigen keine großen Effekte.
Und wenn Roth und Shakur, im Vorraum des Spitals auf die Nachricht des Arztes wartend, vor einer Phototapete einschlafen, die sie - wie in einer Rückprojektion - ins Grüne, in eine Idylle unter freiem Himmel setzt, dann scheint die eigenartig sachliche Ironie dieses Films am Ziel zu sein: Gridlock'd setzt Paradoxes so gegeneinander, daß es so aussieht, als wäre es stets nur das Allernatürlichste.
Das Understatement Halls zieht sich zwar zuweilen bis ins Drehbuch, dem nicht jeder Einfall gelingt, und in die Inszenierung hinein, der man manchmal ansieht, unter welcher Geldnot hier gearbeitet wurde: Aber allein die Tatsache, daß die Komödie hier nicht vom Drama erschlagen wird (oder umgekehrt), daß einem der HipHop einmal nicht atemlos um die Ohren geschlagen wird, allein das nötigt Respekt ab - und erinnert daran, daß man es im Kino, wenigstens ab und zu, auch mit der Wirklichkeit zu tun kriegen kann. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 8/11/1997)

Ein hartes, zynisches Doku-Drama über Drogen, Kunst und Gewalt. Als ihre Freundin Cookie an einer Überdosis stirbt, probieren es die Musiker und Junkies Stretch und Spoon mit Entzug. Doch sie scheitern an der Sucht und der abweisenden Gesundheits-Bürokratie. In einer Hauptrolle dabei: der im Vorjahr ermordeten Rapper Tupac Shakur. (KURIER)

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SPAWN (SPAWN)

USA 1997. 90 Min
Regie: Mark A.Z. Dippé, Buch: Alan McElroy, nach der gleichnamigen Comic-Serie von Todd McFarlane, Musik: Graeme Revell, Kamera: Guillermo Navarro, Schnitt: Michael N. Knue, Darsteller: Michael Jai White ("Spawn"/Al Simmons), John Leguizamo (Clown), Martin Sheen (Jason Wynn), Nicol Williamson (Cogliostro), Theresa Randle (Wanda), D.B. Sweeney (Terry)
Kinostart: 31/10/1997

Nur noch ein einziges Mal will sich amerikanische Geheimagent a.D. Al Simmons für die gute Sache reaktivieren lassen. Sein früherer Vorgesetzter Jason Wynn hat es geschafft, den sich im freiwilligen Ruhestand befindlichen früheren Superagenten für einen Einsatz in Nordkorea zu motivieren. Es gilt, eine Fabrik für biologische Kampfstoffe zu zerstören. Doch Wynn hat mitnichten die Rettung der zivilisierten Welt im Sinn, vielmehr trachtet er einzig und allein nach dem tödlichen Retrovirus "Heat 16", um zukünftig selbst die Welt beherrschen zu können. Simmons ahnt erst zu spät, daß er bei diesem Plan als Werkzeug mißbraucht wird. Sein Tod ist unvermeidlich und grausam... Da man sich bis hierher lediglich im Prolog eines Comic Strips befindet, ist der Tod des Helden fünf Minuten nach dem Vorspann kein sonderliches Problem für die Geschichte. Natürlich steigt er aus dem Reich der Toten wieder empor, nachdem er mit dem Teufel höchstpersönlich einen Pakt geschlossen hat. Und wollte Simmons ursprünglich nur noch einmal Frau und Kind sehen, so muß er bald schon als böser Superheld die Weltherrschaft für seinen Meister erringen. Damit "Spawn", wie Simmons jetzt genannt wird, seinem Versprechen auch wirklich nicht untreu wird - ein bißchen Herz und Menschlichkeit steckt schließlich in jedem ehemaligen Erdenbürger - , bekommt er einen ganz und gar gefühllosen Höllenclown namens Violator mit auf den Weg, der ihn zur Not zu seiner zerstörerischen Mission zwingen soll. Wären da nicht seine früheren Freunde, seine Familie und Cogliostro, ein mit Zauberkräften versehener Kreuzritter des Guten, dann hätte "Spawn"die Erde dem Bösen untertan gemacht.
Wird er dennoch endgültig dem Bösen verfallen? Wird seine Frau ihn im neuen Outfit überhaupt erkennen? Was hat Cogliostro noch für Trümpfe in der Hand? Und was ist eigentlich mit Wynn und dem Virus und seinen Weltherrschaftsambitionen? Sämtliche Handlungsstränge werden tatsächlich irgendwie zusammengeführt und auf wundersame Weise aufgelöst. Was allerdings nicht heißt, daß dabei etwas Sinvolles herauskommt. Bevor Mark Dippé mit "Spawn" seinen ersten Kinofilm realisierte, war er maßgeblich an den 3D-Computer-Animationen der Special-Effects-Firma Industrial Light & Magic beteiligt, die Filmen wie "The Abyss", "Terminator II" oder "Jurassic Park" ihr beeindruckendes Äußeres verschafften. Auch protzt "Spawn" mit Effekten aus dem Computer, und in der Tat sind einige Animationen vorzüglich gelungen, etwa das Markenzeichen des Superhelden, ein feuerrotes Wundercape, Spawns wirkungsvollste Waffe. Allerdings ist der Handlung wenig Interessantes abzugewinnen. Zwar ist die Grundkonstellation nicht von vornherein zur Spannungslosigkeit verdammt, weil dem quasi unsterblichen Superhelden Spawn mit Violator wenigstens ein ebenso unsterblicher Kontrahent gegenübergestellt wird. Doch aus dem Kampf der Mächte wird nur wenig Originelles herausgezogen, und die Geschichte ist durch nur oberflächlich ausgearbeitete Nebenplots zu stark verwässert, um auf Dauer das Interesse wachhalten zu können. Auch die Schauspieler bringen kein Leben in das Kunstprodukt. Martin Sheen als machtbesessener Polizeichef ist allenfalls eine lächerliche Maske, und das darstellerische Potential von John Leguizamo ("Romeo und Julia") verschwindet gänzlich hinter der zentimeterdicken Maske des Clowns Violator. So vermag "Spawn" - wie auch schon die Versuche zu "The Crow" "Tank Girl" oder "Das Phantom" - als Comic-Adaption nicht zu überzeugen. Todd McFarlanes 1992 kreierte, äußerst fantasievolle, virtuos gestylte und gezeichnete, extrem brutale Comic-Serie muß in einer filmischen Realversion einfach scheitern, zumal wenn sie so konventionell und ganz dem Mainstream gehorchend inszeniert ist. (Jörg Gerle, film-dienst)

"Spawn": Ein weiterer Comics-Superheld hat sich ins Kino verirrt.
Seit die Computer-Animateure die Grenzen des Leinwand-Möglichen ausloten, ist das Kino vor keiner Comicsfigur mehr sicher. Neben den Großvätern unter den Superhelden erobern nun immer mehr zweitklassige Weltretter den dreidimensionalen Raum auf der Basis der größtmöglichen Einfalt. 1992 von Zeichner Todd McFarlane geboren, poltert nun ein Halbwesen namens "Spawn" im Kino. "Spawn" ist ein Ding, das als Mensch ein Superagent war und nun ein Doppel-Halbleben führt: Vom übel verunstalteten Dauer-Jammerlappen, der seine moralische Ader entdeckt, verwandelt er sich von Zeit zu Zeit in eine kindisch aufgemotzte Kampfmaschine, die die Welt vor Ober-Schurken Jason Wynn (Apocalypse Yesterday: Martin Sheen) retten muß.
Zusätzlich zu aller Schablonenhaftigkeit ertönt in Spawn (Regie: Special-Effects-Zauberlehrling Mark Dippé) aus dem Off auch noch eine gepreßt-pädagogische Märchenonkel-Bruststimme. Einzig der Vorspann lädt zu einem visuell-musikalisch effektvollen Nachvollzug der späteren Höllenfahrt des Helden ein. Vielleicht tut man dem Film ohnehin Unrecht, wenn man ihn in Erzählkino-Begriffen beurteilt. Seine Machart suggeriert vielmehr, daß es sich um einen etwas lang geratenen Musikclip handelt, in dem renommierte Vertreter des Bösen, Häßlichen und/oder technologisch Avancierten in der Popmusik (Prodigy, DJ Spooky, Marilyn Manson, Goldie, Orbital) ihr Ständchen bringen. Nur daß von diesen Pop-Granden wohl niemand etwas mit einem Clip wie diesem anzufangen wüßte. (Robert Buchschwenter, DIE PRESSE, 8/11/1997)

In der Sekunde seines Todes hat der Geheimagent Al Simmons nur den einen Wunsch: Er will zurück zu seiner Frau Wanda. Ihr gilt sein letzter, verzweifelter Schrei, bevor ihn seine korrupten Kollegen ermorden. Al (Michael Jai White) würde alles dafür geben, Wanda noch einmal sehen zu dürfen. Und tatsächlich soll er die Gelegenheit dazu bekommen: Unter der Bedingung, im Auftrag des Teufels die Menschheit zu vernichten, darf er mit unmenschlichen Kräften ausgestattet auf die Erde zurückkehren. Doch dort hat sich in den fünf Jahren Abwesenheit einiges getan. Erschüttert muß er bei der Rückkehr feststellen, daß Wanda (Theresa Randle) inzwischen seinen ehemals besten Freund Terry (D.B. Sweeny) geheiratet hat. Ihren ersten Mann erkennt sie nicht wieder, denn der gewaltsame Flammentod entstellte sein Gesicht. Doch damit nicht genug für den leidgeplagten Heimkehrer: Zugleich belästigen ihn zwei mysteriöse, widerstreitende Gewalten. Der korpulente Clown (John Leguizamo) mit dem blauen Gesicht erinnert ihn immer wieder eindringlich an sein Versprechen an den Teufel. Der schlapphütige Hirte Cogliostro (Nicol Williamson) dagegen mahnt ihn, seine neuen Kräfte zum Wohle der Menschheit einzusetzen und gegen das Böse zu kämpfen. Der Comic-Held "Spawn" ist hierzulande kaum bekannt, hat in den USA, seit er erstmals 1992 erschien, allerdings Kultstatus. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis er auch von Hollywood entdeckt wurde. Der Fantasy-Thriller bietet eine Menge Effekte und Action - animiert von "Industrial Light & Magic", die auch schon "Jurassic Park" belebten. Die Geschichte an sich bleibt trotzdem ziemlich schwach. Der Soundtrack allerdings ist stark und prominent besetzt mit Marilyn Manson, Henry Rollins, Atari Teenage Riot, Metallica und einigen bösen Jungs mehr. (SPIEGEL ONLINE 44/1997) Mit einem Fegefeuerwerk neuester Filmtricks macht uns die Kultcomicverfilmung eine menschliche Killermaschine im Dienste Satans als Retter der Menschheit weis. Super-, Spyder, Bat- und Mannesmann sind im Out, Spawn ist in. Virtuelle Fantasy tanzt Apocalypso now, Faust läßt grüßen. Voll elektronisch, sind hier die Ausgeburten der Hölle nicht von Hieronymus, aber vielleicht dennoch von Bosch. (KURIER)

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SLING BLADE (SLING BLADE)

USA 1996. 136 min
Regie: Billy Bob Thornton, Buch: Billy Bob Thornton, Musik: Daniel Lanois, Kamera: Barry Markowitz, Schnitt: Hughes Winborne, Darsteller: Billy Bob Thornton (Karl Childers), Dwight Yoakam (Doyle Hargraves), J.T. Walsh (Charles Bushman), John Ritter (Vaughan Cunningham), Lucas Black (Frank Wheatley), Natalie Canerday (Linda Wheatley), James Hampton (Jerry Woolridge), Robert Duvall (Karl's Father), Rick Dial (Bill Cox)
Kinostart: 31/10/1997

Karl Childers sitzt in der Heilanstalt für geistesgestörte Kriminelle ein. Still hockt er auf seinem Stuhl und schaut zum Fenster heraus. Ein anderer Patient, Charles Bushman (J.T. Walsh), kommt hinzu. Charles redet gern viel, am liebsten über Autos, Frauen und schlüpfrige Details. Und Karl sitzt da und hört sich das an. Aber nicht mehr lange. Denn es ist der Tag, an dem Karl entlassen wird.
Karls Eltern waren zwei gottesfürchtige Menschen. Weil sie aber in Karls Geburt eine Strafe Gottes sahen, mochten sie den Jungen nicht um sich haben. Daher baute der Vater einen kleinen Schuppen für Karl.
Mrs. Childers war eine sehr schöne Frau. Das jedenfalls hat Jesse, mit dem sie ein Verhältnis hatte, immer behauptet. Eines Abends, als Karl in seiner Hütte saß und auf die Bibelstunde seiner Mutter wartete, hörte er seltsame Geräusche aus dem Elternhaus und ging hin um nachzusehen. Er fand seine Mutter auf dem Boden, Jesse über ihr. Neben der Tür lehnte eine Sichel. Karl griff danach und schlug zu. Erst trennte er Jesses Kopf vom Rumpf. Dann trieb Karl das Eisen in den Leib seiner Mutter.
Karl war 12 Jahre alt. Er bereute die Tat nicht. Der Junge wurde in die staatliche Heilanstalt eingewiesen. Dort lernte er Lesen. Die Bibel wird seine Hauptlektüre.
Nach 25 Jahren soll er hinaus in die Welt und ihm ist gar nicht wohl dabei. Ein paar Bücher sind Karls einzige Habe. Freunde hat er nicht. Zu seinem Vater will er nicht. Am Abend geht Karl zurück zur Heilanstalt, weil er keine Unterkunft fand. Doch natürlich kann er dort nicht bleiben. Der Direktor verschafft ihm daraufhin einen Job und eine Bleibe in der Reparaturwerkstatt.
In dem Jungen Frank Wheatly findet er schnell einen guten Freund. Nach einiger Zeit zieht er in die Garage, die zu Franks Elternhaus gehört. Karl nimmt an dem Familienleben teil und lernt so den aggressiven Freund der Mutter kennen.
Doyle trinkt zuviel und neigt zur Gewalttätigkeit. Frank hat Angst vor Doyle und er ist überzeugt, daß sein richtiger Vater einen Kerl wie Doyle aus dem Haus gejagt hätte. Aber die Mutter fühlt sich zu Doyle hingezogen.
Frank erzählt auch von Vaughan (John Ritter), dem Geschäftsführer des Supermarktes. Der ist ein komischer Kauz aus St. Louis, den es irgendwann mal in die Gegend verschlagen hat. Vaughan ist der beste Freund der Wheatleys und setzt sich tapfer für sie ein. Aber er kann nicht viel ausrichten, weil er Doyle körperlich unterlegen ist.
Und dann erzählt Frank auch noch die Wahrheit über seinen Vater, der in Wirklichkeit nicht unter einem Zug starb, sondern mit einem Gewehr Selbstmord beging.
Frank weiß nur vage von Karls Vergangenheit und will wissen, wen Karl einst tötete, und ob das böse Menschen waren. "Ich hielt sie dafür", antwortet Karl.
Die Tage vergehen. Karl macht sich glänzend bei der Arbeit und vergrößert seinen Bekanntenkreis.
Eines Tages besucht Karl das Haus seiner Eltern. Das Gebäude ist in erbärmlichem Zustand. Im Wohnzimmer findet Karl seinen Vater (Robert Duvall) vor, ein alter Mann, der dumpf in seinem Sessel brütet. Als Karl sich vorstellt, erwidert Mr. Childers nur: "Ich habe keinen Sohn." Das krasse Wort öffnet Karls Seele. Er sagt seinem Vater ins Gesicht, wie sehr ihn die grausame Erziehung verbittert hat. Und dann gibt er zu, daß er eigentlich gekommen sei, um seinen Vater zu töten. Doch für das menschliche Wrack im Sessel empfindet Karl nur noch Mitleid und Verachtung. Daraufhin verläßt er seinen Vater für immer.
Mitten in der Nacht weckt Karl Linda und Doyle und erklärt ihnen, daß er sich taufen lassen wolle. Am nächsten Tag wird die Zeremonie vollzogen. Nach der Feierlichkeit schickt Doyle Linda unter einem Vorwand aus dem Haus und wendet sich drohend gegen Frank. Er spielt sich als Familienchef auf, schüchtert den Jungen ein und kündigt an, daß er Karl aus dem Haus werfen wird. Als Frank sich dagegen wehrt, wird Doyle handgreiflich gegen den Jungen.
Diesmal hält Karl sich nicht still zurück, sondern schreitet ein. Doyle läßt sich nicht beeindrucken und weist Karl aus dem Haus. Im Wald trifft Karl auf einen verzweifelten Frank. Er spricht dem Jungen Mut zu. Karl will dem Jungen helfen...(kinoweb)

Der Mann, der im Schein einer Funzel aus dem Halbdunkel heraus einer Reporterin erzählt, wie er mit der Sense, der «sling blade», zugeschlagen habe, als er, damals ein Teenager, eigentlich in Erwartung der Bibelstunde, doch von Geräuschen befremdet, mit ansehen musste, wie nebenan sich ein Mann namens Jesse nackt auf seine ebenfalls nackte, bildschöne Mutter gelegt hatte und diese wiederum sich nicht dagegen wehrte - der Mann spricht, als sänge er einen Blues aus dem Jenseits. Mit der gestauten Monotonie einer retardierten Seele, die die Erinnerung gleich ganz zerreissen will. In einer gestossenen, in urlautlichen Refrains nachswingenden Sprache am Rande des Verständlichen, hervorgepresst aus einem an seinen Enden wie zugenähten Mund, die Unterlippe leicht vorgeschoben, was dem Gesicht unter dem geschorenen Schädel etwas unheimlich Freundliches und Hellsichtiges verleiht. Karl Childers hat +getötet, seines Erachtens legitim getötet in dem, was er für Selbstverteidigung hält.
Es ist bezwingend, was der aus dem Süden der USA stammende Schauspieler Billy Bob Thornton in einer einzigen langen Einstellung mit nur einer Zwischenschnittpassage in Grossaufnahme hier leistet: in nuce bereits die Geschichte eines ganzen Films erzählend. Der 1955 geborene, weitgehend unbekannte und mit zwei Oscar-Nominationen ins Rampenlicht katapultierte Darsteller muss einen guten Regisseur und einen guten Drehbuchautor gehabt haben. Hat er auch: er heisst ebenfalls Billy Bob Thornton, und für das Drehbuch hat er den Oscar im März schliesslich erhalten. «Sling Blade» erweist sich als eines jener künstlerischen Ein-Mann-Unternehmen, in denen Talent und Hartnäckigkeit, ja Besessenheit erfolgreich zusammengefunden haben.
Der vorliegende Langspielfilm ist dabei lediglich das Endprodukt einer mehr als zehnjährigen Auseinandersetzung mit der Figur des geistig beschränkten und dafür seelisch gerechten Karl Childers, den seine Tat für Jahre in eine Anstalt führte, bis er nach 25 Jahren mit bloss einem Packen Bücher unterm Arm, zuoberst die Bibel, ins sogenannt normale Leben entlassen wird. Erst war Karls erinnernder Monolog ein Einpersonenstück für die Bühne, was 1993 einen Kurzfilm mit den Szenen in der Anstalt inspirierte. Und nun Thorntons zweieinviertelstündige Filmfassung der Geschichte, die nach der Entlassung aus der Anstalt spielt - und in diese mit jener tödlichen Folgerichtigkeit wieder zurückführt, an der «Sling Blade» keinen Augenblick lang zweifeln lässt. Karl Childers, der eigentlich nie mehr einen Grund haben würde zu töten, wird abermals in der kindlichen Tiefe seines Gerechtigkeitssinnes getroffen, als er in die von einem Mann terrorisierte Familie seines kleinen Freundes Frank Einblick erhält... Das kleine Wunder dieses Erstlings liegt wohl in der Kühnheit, mit der die Strenge und Offenheit des Eröffnungsmonologs, die aus einer dramaturgisch schlichten Situation und Beschränkung heraus alles in die Phantasie der Zuschauenden verlegt, zu einer langen, anschaulichen Kinogeschichte ausgebaut wird, ohne den Grundgestus zu verlassen. Wie leicht hätte das an keinem Ende genügen können. Und Billy Bob Thornton hätte die Last des Scheiterns auch als Darsteller auf sich nehmen müssen, zeichnet er doch seine Figur des Karl Childers mit wenigen Strichen aus, die kaum Schattierungen oder Farben zulassen. Aber durch seine phänomenale Präsenz transzendiert er diesen schrecklichen guten Menschen aus der tiefsten Provinz von Arkansas, dass man ihn nicht mehr aus Augen und Herz wird verlieren können.
Darüber hinaus ist er nicht nur ein hervorragender Regisseur seiner selbst. Auch die meisten andern Darsteller, unter ihnen in Kleinstauftritten Prominenz wie Jim Jarmusch (leider verschenkt!) oder Robert Duvall, sind es. Ihre Figuren bevölkern in den Versatzstücken provinzieller Enge, familiärer Gewalt gegen Frauen und Kleinkinder, leer an Lebensperspektiven, aber dennoch voll von alltäglicher Würde, die Gottverlassenheit von God's own country. Zur Gottverlassenheit kommt die Langsamkeit. Diese ist das auch musikalische und verbale Prinzip des gebremsten Rhythmus in diesem Film aus dem Süden: «Sling Blade» sehen ist wie Musik hören (wobei das mitunter aufdringliche eigentliche Score von Daniel Lanois paradoxerweise zu den Schwächen des Films gehört). An dieser in langen, ruhigen Einstellungen sich entfaltenden Musikalität saugen sich unsere Empathie und Phantasie fest; sie trägt uns über die an sich schlichte Konstruktion einer gar säuberlich zwischen den moralischen Kategorien von Gut und Böse scheidenden Geschichte buchstäblich spielend hinweg. Auch insofern ist Karl Childers ein Bruder im Geiste von John Steinbecks Lenny aus dem Film «From Mice and Men», den vor wenigen Jahren John Malkovich so unvergesslich gespielt hat. (Martin Walder, Neue Zürcher Zeitung 3/10/1997)

Im amerikanischen Kino der genormten Körper und der stereotypen Gesten wirkt Billy Bob Thornton ein wenig wie ein Waldschrat. Seine Erscheinung bei der letzten Oscar-Verleihung, wo er für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet wurde, war fast ein Manifest: Er trug den Anzug derer aus dem Inneren Amerikas, wo schon Carl Franklins One False Move spielte (das Thornton verfaßt hatte) und auch seine erste Regiearbeit Sling Blade spielt, ein erratischer Findling.
Sling Blade: Der Klang dieses Wortes mehr noch als seine Bedeutung kündigen die archaische Moral an, mit der Karl Childers sein zweites Leben bestehen will. Childers (Thornton) wird in einer hypnotischen Eröffnungssequenz (die Musik von Daniel Lanois spielt dabei eine elementare Rolle) einer Befragung unterzogen. Seit 25 Jahren sitzt er in einer Nervenheilanstalt.
In einer grausamen Urszene hat er mit einer Sling Blade, einer Sichel, seine Mutter und ihren Liebhaber ermordet. Jetzt hat er sich unter Kontrolle: Childers wird nicht mehr töten. Das ist sein fester Vorsatz, den er jederzeit mit einem mahlenden „mhm“-Laut bestätigen wird.
Childers findet wie alle weisen Narren zuerst die Freundschaft der Kinder, und auf diesem Weg den Zugang zu einigen Menschen in seiner Heimatstadt: Frank, seine Mutter Linda, deren homosexueller Freund Vaughan. Nur mit Lindas Lebensgefährten Doyle (Country-Sänger Dwight Yoakam) gibt es Spannungen.
Die Auseinandersetzungen läßt Thornton meist langsam eskalieren, in langen, unbewegten, konzentrierten Einstellungen, die auffällig selten durch Schuß und Gegenschuß dramatisiert werden. Von Karls Körper strahlt die Spannung förmlich ab: Seine ungelenken Versuche, Emotionen preiszugeben, sein handwerkliches Geschick, das die Heimwerker aller Professionen zuerst aggressiv macht, dann aber einnimmt, seine auffällige Präsenz auf den Straßen einer Kleinstadt, auf denen ihm die Kamera häufig mit langen Brennweiten folgt.
Der Rhythmus dieser Einstellungen, das außergewöhnlich physische Spiel (Robert Duvall hat einen Auftritt als Vater von Childers) der Akteure, die Farben dieser Landschaft, die man im amerikanischen Kino so selten zu sehen bekommt – all das fügt sich zu einem nicht uneingeschränkt meisterlichen, aber unbedingt empfehlenswerten Epos auf kleinsten Raum, aber mit beträchtlicher mythischer Tiefenschärfe. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 31/10/1997)

Karl Childers hat es gut. Etliche Jahre lang war eine psychiatrische Anstalt sein Heim, aber jetzt gilt er als geheilt und darf hinaus ins freie Leben. Karl findet es nicht gut, daß er es gut hat. Die Welt draußen versteht er nicht. Am Abend des ersten Tages in Freiheit klopft er in der Klapsmühle an die Tür und bittet um Einlaß. Natürlich geht das nicht. Die Vorschriften. Doch dem Mann wird geholfen: Er findet einen Job in einer Elektrowerkstatt, und er hat bald einen Freund, einen kleinen Jungen. Die Leute in einem Südstaaten-Provinznest, irgendwo in Arkansas, akzeptieren Karl. Obwohl ihn seine autistische Art zum Außenseiter macht. Und obwohl er, wie sich bald herausstellt, einmal etwas Schreckliches angestellt hat. Mit einer Sling Blade, einer tödlich scharfen Klinge. Die hielt Karl einst zufällig in der Hand, als er seine Mutter mit einem Liebhaber ertappte. Da hat er dem Mann den Kopf abgehackt. Und auch die Mutter umgebracht. Billy Bob Thornton, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller, erhielt für "Sling Blade" heuer einen Drehbuch-Oscar. Zu Recht. Sein Film, der in keine gewohnte Kino-Kategorie paßt, ist das faszinierende Porträt eines seelisch kranken Menschen, der immer wieder daran scheitert, seinen Platz im Leben zu finden. Der spröde Sonderling ist alles andere als ein Sympathieträger, doch man kann gar nicht anders, als ihn im Lauf der Geschichte immer lieber zu gewinnen. (Gunther Baumann, KURIER)

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SCREAM - SCHREI! (SCREAM)

USA 1996. 111 Min
Regie: Wes Craven, Buch: Kevin Williamson, Musik: Marco Beltrami, Kamera: Mark Irwin, Schnitt: Patrick Lussier, Darsteller: Neve Campbell (Sidney Prescott), David Arquette (Deputy Dewey Riley), Courtney Cox (Gale Weathers), Jamie Kennedy (Randy), Skeet Ulrich (Billy Loomis), Rose McGowan (Tatum Riley)
Kinostart: 31/10/1997

Wes Craven, der ungekrönte König des amerikanischen "slasher-movies" und Schöpfer der Albtraumfigur Freddie Krueger, die er nach ihrer (filmischen) Geburt 1984 ("Nightmare - Mörderische Träume", fd 25 237) sechs Kino-Fortsetzungen und zahlreichen TV-Serials selbst "zu Grabe getragen hatte ("Freddy's New Nightmare", fd 31 161), erfüllte mit seinem neuesten Horrorfilm alle Erwartungen - zumindest an der Kasse. Mit über 100 Millionen Dollar Einspielergebnis avancierte er in den USA zum erfolgreichsten Horrorfilm seit "Der Exorzist", fd 18 987). Der Plot von "Scream" bietet auf den ersten Blick keine Überraschungen: Ein Killer im schwarzen Umhang und einer leicht verfremdeten, entfernt an Munchs Gemälde "Der Schrei" erinnernden Totenmaske tötet in einer kaliformischen Kleinstadt eine College-Schülerin und ihren Freund. Während die Polizei im dunkeln tappt und der ganze Ort rätselt, wer der Mörder ist, sucht der sich sein nächstes Opfer: Caseys Klassenkameradin Sidney. Die entgeht nur knapp dem Anschlag, weil in letzter Sekunde Deputy Dewey und überraschenderweise auch ihr Freund Billy auftauchen. Billy wird daraufhin als Tatverdächtiger festgenommen. Als Sidney am nächsten Tag erneut von dem Unbekannten in der Schule attackiert wird, scheint seine Unschuld jedoch bewiesen. Mittlerweile hat sich auch die Sensationsreporterin Gale Weathers auf den Fall gestürzt, wurde doch vor einem Jahr Sidneys Mutter vergewaltigt und ermordet. Sidney hatte damals einen der Liebhaber als Täter identifiziert, während Gale nach wie vor von dessen Unschuld überzeugt ist. Da die Schule wegen der schrecklichen Ereignisse vorerst geschlossen wird und die Polizei eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, treffen sich die Teenies des Ortes zu einer Horrorfilm-Party in einem abgelegenen Haus. Während Deputy Dewey das Anwesen observiert, Gale eine versteckte Kamera im Haus installiert und Sidney und Billy sich wieder näherkommen, schlägt der Killer erneut zu.
Während Wes Cravens Inszenierung in den eingefahrenen Bahnen des klassischen B-Movies dahindümpelt, sie allenfalls durch den Einsatz des CinemaScope-Formates ein wenig aufmöbelt - wobei ihm und seinem Kameramann keine wirklich aufregenden Bilder einfallen -, versucht das Drehbuch sich in "Medienkritik". "Scream" nimmt die Beziehung zwischen Film und seinem Publikum auf und vor der Leinwand aufs Korn: Die amerikanischen College-Schüler um die Siebzehn herum, die wieder einmal ziemlich unglaubwürdig von Mittzwanzigern dargestellt werden, scheinen außer Sex, Popcorn und Horror-Videos keine Freizeitinteressen zu haben. Der Killer nutzt das zu einem perfiden Mörder-Spiel aus: Caseys Freund wird auf bestialische Weise vor ihren Augen ermordet, weil sie am Telefon die Frage nach dem Namen des Mörders aus "Freitag, der 13." falsch beantwortet. Sie selbst wird in "Schweigen der Lämmer" - Manier ausgeweidet, weil sie nicht errät, durch welche Tür ihr Mörder eindringt. Warum sie sich dieses Gespräch überhaupt aufzwingen läßt, bleibt genau so unerfindlich wie später Sidneys Reaktion auf den Anruf des Killers. Sie findet seine Stimme auch noch sexy und läßt sich auf die Veranda locken, obwohl sie weiß, was Casey zugestoßen ist. Und in der Schule bleibt sie, trotz eines unguten Gefühls, allein in der Toilette, damit der Zuschauer in den Genuß der nächsten Attacke des Serienkillers kommt. So bezieht die Inszenierung ihren Spannungsaufbau letztlich aus dem dümmlichen Verhalten der Opfer und einer unheilschwangeren Musik. Man mag darin parodistische Ansätze sehen, besonders wenn im Finale der "Scary movie"-Fan Randy bei der Video-Party dem Opfer auf dem Bildschirm zuruft, es möge sich doch endlich umdrehen, während hinter ihm selbst schon der Totenkopf-Killer das Messer schwingt, oder wenn Sidney eben jenen Fernseher mit den Worten "Stirb in deinen Träumen" auf den Kopf des Killers fallen läßt. Aber diese Szenen bleiben, wie auch das genreübliche "Wiederauferstehen" des Killers auf Gag-Niveau hängen, "brechen" das Genre nicht wirklich. Das liegt vor allem auch daran, daß Craven letztlich mehr die groben Strickmuster des Horrorfilms als die subtileren Spielarten des Psychothrillers bedient. Um eine mehr innere Spannung aufzubauen, hätte es natürlich auch psychologisch durchgezeichneter Charaktere bedurft. So nimmt man keinerlei Anteil am Schicksal der "flachen" Personen, wartet nur auf den nächsten "Taschenspieler"-Trick. Eigentlich ist es wie mit dem berühmt-berüchtigten Hütchenspiel: wenn man genau hinschaut (und mitdenkt) engt sich der Täterkreis sehr schnell (auf zwei Personen) ein. Alle anderen Ablenkungsmanöver sind dermaßen durchsichtig, daß man sie ohnehin schnell fallen läßt. Und einen Täter aus dem "Hut zaubern", den man vorher gar nicht eingeführt hat, das erlaubt sich nicht mal der drittklassigste Film. Was bleibt, ist der übliche (Sound-)Ritt auf den Nerven des Zuschauers und das lustvolle Zelebrieren eines Spiels, das in der Realität schon zu den täglichen (Horror-) Schlagzeilen gehört: Das Töten von Menschen aus purem Spaß. Aber anders als Hanekes "verwandter" "Funny Games" (fd 32 731) vermittelt "Scream" dem Zuschauer nicht die Leiden der Opfer, sondern nur den (zweifelhaften) Unterhaltungswert solcher abwegigen Fantasien. (Rolf-Ruediger Hamacher, film-dienst)

Es hängt gleich ein Mädchen (Drew Barrymore) zerschnitten und ausgeweidet von einem Baum in der amerikanischen Provinz. Und die Mutter schreit, und den jungen Besuchern der Horrorabteilung in der örtlichen Videothek läuft das Blut im Mund zusammen, und mehr ist nicht zu sagen. Alles, was verraten werden darf ohne Beschädigung einer wirkungsvollen Grässlichkeit, ist die Tatsache, dass diese Geschichte von einem sich durch die kleinstädtische Gegenwart metzelnden Messermörder handelt, der seine filmästhetischen Hausaufgaben gemacht hat. Es sind ihm der Leistungsauftrag und die Regeln seines Genres vertraut, das Handwerk des Hinterhältigen, die Lichtregie des Töteligen, die Technik des schnellen Schnitts und die dramatischen Farbvaleurs blutnasser Innereien. Ausserdem trägt er eine idiotische Maske.
Wir schätzen an einem Horrorfilm, der seinen Namen verdient und das Schreckliche nicht mit dem Fratzenschneiden verwechselt, die morbide Eleganz des simplen Wahnsinns, um nicht zu sagen die Archaik des motivlosen Abschlachtens. Dem Regisseur Wes Craven verdanken wir bereits die Existenz des Freddy Krueger monströsen Angedenkens («A Nightmare On Elm Street», 1984): Der Amerikaner ist ein Meister jener Albträume, die in den Wandschränken von Einfamilienhäusern hocken. Ein Routinier und Philosoph der Angst, die vor Mädchenzimmern fensterlt. Aber er weiss natürlich, dass die kreative Unschuld seiner filmischen Gattung verloren ist, seit auch unsere Kleinen sich an Kettensägenmassakern psychisch abgehärtet und ihr Verhältnis zum Menschenzerstückeln durchaus entspannt gestaltet haben. Man hat einfach alles schon gesehen, und das Vergnügen an der Sache kommt vom Zitat.
«Scream» seinerseits ist das Produkt einer Nostalgie des Schauderns, die halt auch nicht unter ihr Niveau will, wenn es sie gruselt. Darüber liegt die Stimmung von in Blutbädern erworbener Bildung. Der Film vereinigt die Lakonik der einfachen Metzgerei mit der distanzierten Ironie einer bewussten Musterhaftigkeit. So geht's dann wieder, wenn auch im Wechsel zwischen Drama und Dramentheorie die Geschichte etwas träge fliesst. Nämlich: Es erweist sich die Gültigkeit alter Regeln und der schreckliche Effekt der Gewohnheit, insbesondere an vollbusigen blonden Mädchen, die darauf bestehen, allein in dunkle Keller zu steigen. Neu ist nur die Aufnahme des Mobiltelefons unter die Standardrequisiten des Horrors. (Christoph Schneider, Neue Zürcher Zeitung vom 10/10/1997)

Drew Barrymore stellt den Fernseher an. Das Popcorn und der Messerblock stehen bereit. Alles klar für einen netten Horrorabend! Nur wird Drew Barrymore nicht lange dabeisein, weil "Scream" ohne Umschweife sein blutiges Metzelhandwerk startet. Die ersten zehn Minuten sind klarer, geradliniger, gnadenloser Horror. Ein geheimnisvoller, hörbar wahnsinniger Anrufer umschleicht das einsame Haus. "Wenn du die folgende Frage nicht beantworten kannst, mußt du sterben: Wie hieß der Mörder in 'Freitag, der 13.'?"
Nicht schwer - sagen die Fans des Genres für die dieser Film gemacht ist. Ihnen reicht schon der Name Wes Craven als Qualitätsurteil. Der graduierte Philosoph Craven inszenierte 1984 den Klassiker "A Nightmare on Elmstreet", der es mit der rasiermesserscharfen Kultfigur Freddy Krueger auf sechs mehr oder weniger gute Fortsetzungen brachte. Zum Abschluß gab es dann den düsteren, selbstreflexiven "Wes Craven's New Nightmare". Auf die Frage nach ihrem Lieblingsfilm antworten die mordgefährdeten Teenager "Nightmare - aber nur den ersten Teil, der Rest war Mist!" Das erzählt "Scream" alles auch - nebenbei.
"Scream" spielt mit der Angst und dem Horror - Funny Games. Eine Art postmoderner, selbstreflexiver Horrorfilm also? "Scream" meint dazu selbst: "Wenn es zu kompliziert wird, verliert man seine Zielgruppe." Wie wahr!
Deshalb zum Inhalt: Eine dämonische Gestalt mit schwarzem Umhang und weißer Totenmaske quält auf mörderische Weise amerikanische Teenager. Es gibt einige Verdächtige für die Morde. Ein Junge will nach zwei Jahren seiner Freundin Sidney an die Wäsche und bekommt eine Abfuhr. Und da war noch der Mord an Sidneys Mutter vor genau einem Jahr. Ist der Vater vielleicht zu moralisch?
Der amerikanischen Teenager-Horror war besonders schrecklich, weil er Moral und Gesellschaft mit scharfen Messern und viel Blut ofenlegte. Siebzehnjährige, die immer knapp vor der Unterhose haltmachen. Mädels, deren Zimmer wie ein Barbie-Puppenhaus wirken. Und wer sich nicht an die Regeln äußerster Biederkeit hielt, soff, kiffte oder herumvögelte, starb umgehend. (Andere Hautfarben oder sexuelle Ausrichtungen hatten noch weniger Überlebenschancen.) Somit ist "Scream" auch ein Lehrfilm in Sachen Horror: Frag' nie "Wer ist da?", Sag' nie "Ich bin gleich wieder zurück". Und falls du ein Mädchen bist, verliere auf keinen Fall deine "Unschuld" - das wäre dein Todesurteil! Auch einige Gedanken zum schädlichen Einfluß der Horrorfilme auf die Jugend? Ein guter Scherz! Immerhin ist ein Horrorfan unter den Verdächtigen.
Zum lustigen Zitateraten des Films paßt, daß einem die jungen Darsteller sehr bekannt vorkommen: Billy ähnelt einem Johnny Depp-Double mit Rändern unter den Augen. Sidney, das zentrale Opfer, hat etwas von der Jamie Lee Lewis, die am Anfang ihrer Karriere eine Reihe von Horrorstreifen überlebte.
Mit "Scream" macht Craven seinem schaurigen Ruf - nach dem guten aber harmlosen "Vampire in Brooklyn" - wieder alle Ehre. "Scream again" steht übrigens schon als Nachfolger auf dem Drehplan! (Günter H. Jekubzik, FILMtabs)

Wes Cravens "Scream" , ein erfinderischer neuer Horrorfilm, betreibt Psychoanalyse im blutigen Selbstversuch.
Drew Barrymore, Ex-Kinderstar, ist das erste Opfer: home alone, das tut braven reichen Teenagern halt nicht gut, wenn ein anonymer Serienkiller gerade seinen Telephon-Terror begonnen hat. Die blonde Drew, bedroht, schockiert, schließlich gemetzelt, ist nur das Vorspiel dieser seltsam selbstironischen Arbeit, eines Horrorfilms, der sein Genre mit dem Skalpell zerlegt. Wes Craven, US-Schockmeister aus der Elm Street, hat Scream, seinen jüngsten Film, nach der erwünschten Reaktion im Zuschauerraum benannt. Aber er besteht auch darauf, daß das alles nur Kino ist, über den sich der blutige Spaß selbstreflexiv in absolut jede Richtung treiben läßt.
Im Zentrum von Scream steht eine Mordserie, irgendwo im sonnigen suburbanen Kalifornien: Die Kids dort (wie direkt aus Clueless : Neve Campbell, Skeet Ulrich) sind, wie überall in Amerika, verliebt in den Horror, wie er in der Videothek um die Ecke, anregend abgepackt, in tausend schauerlichen Ausführungen zu haben ist. Der Killer, einer von ihnen, beginnt sein Werk streng nach den Vorgaben der Splatter-Industrie, der Fabrik des blutbefleckten Entertainment: ein film crazy thriller über film crazy people - und über den Zusammenhang zwischen Amerika und seinen abgründigen Fiktionen, die die reale Welt längst in jeder Hinsicht infizieren. Scream ist ein multifunktionaler Horrorfilm, der neben Angst & Schrecken eben auch die virtuellen Wirklichkeiten des adoleszenten Amerika detailbesessen zu vermitteln weiß. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 31/10/1997)

Wer war der erste Serienkiller im Gruselklassiker "Freitag der 13."? Schnell, die richtige Antwort. Wer sie nicht weiß, wird mit dem Tode bestraft.
So wie die Gymnasiastin Casey. Ein Unbekannter ruft sie eines Abends an und will mit ihr ein makabres Quiz veranstalten: Sollte sie nicht wissen, wer in "Freitag der 13." die Schlachterei startete, wird der anonyme Telefonterrorist ihren Freund, der gefesselt auf Caseys Terrasse sitzt, kurz und schmerzhaft hinmetzeln. Leider versagt Caseys filmische Bildung. Ihr Freund stirbt, und auch Casey (Drew Barrymore) baumelt bald ausgeweidet an einem Baum. Und das sind nur die Greueltaten der ersten Viertelstunde von "Scream". Da sage einer, Trivial-Wissen zahle sich nicht aus.
Den meisten Jugendlichen in "Scream" wäre Caseys Fauxpas nicht passiert. Sie kennen sich bestens in der Geschichte der Slasher-Filme aus, in denen angstkreischende, meist weibliche Minderjährige reihenweise ihr Leben aushauchen. Diese Kids haben "Halloween" gesehen und sämtliche Folgen der "Freitag der 13."-Serie, dazu selbstredend "A Nightmare on Elm Street", Teil eins bis sechs. Der erste "Nightmare"-Film sei ja okay gewesen, bemerkt einer der altklugen Blutbad-Experten, die restlichen aber Schrott. Wer es nicht weiß: "Nightmare I" ist vom selben Regisseur wie "Scream", Wes Craven. Daß jetzt ein Serienkiller mit gewetztem Messer und einer Plastikmaske, die wie eine Shopping-Mall-Fassung von Edvard Munchs Gemälde "Der Schrei" aussieht, in ihrem eigenen Städtchen umgeht, nehmen die Jugendlichen gelassen. Statt ihre Schlafzimmer zu verrammeln, feiern sie eine Party - ein dreifach Hurra darauf, daß das langweilige Mittelklasseleben endlich ihre Topten-Schlachtfeste nachahmt. Sie kennen ja die Regeln: Es stirbt im Gruselfilm, wer sich zum Sex verlocken läßt, wer Alkohol oder Drogen schluckt oder wer sagt: Ich komme gleich wieder. Denn der kommt nie wieder.
Cravens parodistischer "Scream" pumpt - buchstäblich - frisches Blut in eine Gattung, die jahrelang so untot gewirkt hatte wie ihre populärsten Helden, allen voran Freddy Krueger aus der "Nightmare"-Reihe. Bis Anfang der Neunziger hatten er und andere Zombies immer da gemetzelt, wo sich Jugendliche zuhauf versammelten.
Aber da hatten sich die Exzesse der Splatter-Opern, ihre blutige Entgrenzung und ihre gerade von pubertierenden Teenagern geschätzte Entladung blinder Wut in der ritualisierten Wiederkehr des ewig Gleichen eigentlich schon erledigt. Daher wurden keine Fortsetzungen mehr gedreht, und die sadistischen Grufties spukten nur noch traurig durch die Videotheken. Als "Scream" Ende vorigen Jahres in den USA startete, war kein Wiedererwachen der Gattung in Sicht. Selbstgewiß prophezeite das Branchenorakel "Variety", daß der "satirische Unterton" des Films "den eingefleischten Fans nicht gefallen" werde und daher allenfalls "bescheidene Kassenerfolge" zu erwarten seien. Irrtum.
Die clevere, mit sehenswerten Fast-Stars wie Neve Campbell und Courteney Cox aus der amerikanischen Fernsehserienwelt besetzte Meuchelmoritat hat bisher mehr als 100 Millionen Dollar eingebracht, was "Scream" zum erfolgreichsten Schreckenstrip aller Zeiten veredelt; "Scream 2" ist selbstredend in der Mache. Und die Kids halten den ebenso spannenden wie satirischen Meta-Schocker für "Kult", weil er sie nicht nur Blut und Wasser schwitzen läßt, sondern ihrer Kennerschaft huldigt.
Eine solch stilsichere Hommage, gespickt mit Zitaten, verrät aber immer, daß die Originale verwelkt, die Zeiten ihrer Unschuld unwiderruflich vergangen sind. Cravens erster großer Streich des Grauens, "Hügel der blutigen Augen", datiert von 1977. Das waren noch Zeiten, als sich anhand der Slasher-Gattung der amerikanische Zeitgeist analysieren ließ: Der Einbruch des Alptraums in den Alltag wurde an Vietnam und Watergate festgemacht, und als Brutstätte des Schreckens mußte sich die Kleinfamilie entlarven lassen, deren vorgetäuschter Idylle die Attacken der enthemmten Freaks den Garaus machten.
In der Figur des brutal schlitzenden Außenseiters sammelte sich nach diesen Theorien all das, was im Kapitalismus untergebuttert wurde: Der Totmacher (und es handelte sich fast immer um einen Mann) war das Nachtschattengewächs einer Welt, in der Ordnung, Jugendlichkeit, Wohlstand und Monogamie verherrlicht wurden; er war der archaische, anarchische Dreck unter dem Fingernagel der Gesellschaft; und wenn er Rache nahm an denen, die ihm keine Chance gegeben hatten, war jedes Recht auf Erbarmen verwirkt.
Aber was an derlei Theorien verzapft wurde, hat auch ein Filmemacher wie Craven (ein ehemaliger Hochschullehrer) gelesen - und seine Werke blut- und wasserdicht gegen diese Art der gesellschaftskritischen Analyse abgeschottet. "Scream" prahlt geradezu mit der Tatsache, daß er nichts als zutiefst unernste, eskapistische Unterhaltung liefern will, und er macht sich einen Spaß daraus, die Zuschauer durch den Irrgarten ihrer Erwartungen zu schicken.
Der Täter in "Scream" ist kein beschädigter, zu kurz gekommener Freddy K. Er läßt sich nicht mehr gesellschaftlich abgrenzen von denen, die er zielstrebig kaltmacht. Und wer will, kann das als fiese Warnung nehmen: Der Slasher-Film ist noch nicht am Ende - und seinen Theoretikern allemal eine Messerspitze voraus. Auch wenn die wissen, daß der erste Killer in "Freitag der 13." Jasons Mutter war. (Susanne Weingarten, DER SPIEGEL 44/1997)

Wes Craven, einer der Kultregisseure des Horrormovie, hat einst die Regeln mit Blut festgeschrieben. Wenn du dem Killer ent- kommen willst, mußt du Jungfrau sein. Außer Sex auch kein Alk und kein Crack. Und nie sagen, du kämst gleich wieder - das tun immer nur die, welche nie mehr zurückkehren . . . Jetzt ist Wes Craven mit seinem neuesten Schrei und einem ganz anders gearteten Serienkiller zurückkehrt, um die eigenen Regeln zu brechen. Ob "Freitag, der 13." oder "Halloween, die Nacht des Grauens", immer wollte ein Mordfreak sehen, "wie all die Teenies mit den prallen Titten und wippenden Röckchen von innen aussehen" (Zitat), und so schlitzte er sie im Dutzend. Weil solch Pubertätsgrusel trotz Kultstatus altmodisch geworden ist und schal, schreit derlei heut geradezu nach Persiflage. So schrecklich lustig macht sich Wes Craven daher jetzt über sein einstiges Erfolgs-Genre, daß auch uns nun das Lachen nicht im Hals stecken zu bleiben braucht. Also auf zum fröhlichen Halsabschneiden, witzigen Meuchelmorden und lusti- gen Leichenausweiden. Klopf, klopf, klopf machen Mörderfaust und Hasenherz. Klopf, klopf, klopf - die Spannung steigt. Kein Tor versperrt, kein Fenster verriegelt genug, als daß er nicht Zutritt bekäme, der maskierte Blutsäufer mit dem Gesicht aus Edvard Munchs "Schrei". Mit sadistischer Scha- denfreude narrt und foppt jede einzelne Szene, und neben den armen Opfern macht sich diese Teufelei satirisch über Highschool- Kids, Fernsehreporter, Sheriffs und Splatter-Fans her. In gewissen Momenten fühlt man sich an "Funny Games" des Österreichers Haneke erinnert, etwa wenn der Killer seine eigenen Motive höhnisch in Frage stellt. Und plötzlich weiß man, was dem zum Publikumserfolg seiner blutigen Parabeln fehlt: Humor, über den man trotzdem lacht. (Rudi John, KURIER)

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