Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 9. Jänner 1998 neu angelaufene Kinofilme


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Für Sissi:

DER EISSTURM (THE ICE STORM)

USA 1997. 112 Min
Regie: Ang Lee, Buch: James Schamus, Musik: Mychael Danna, Kamera: Frederick Elmes, Schnitt: Tim Squyres, Darsteller: Christina Ricci (Wendy Hood), Tobey Maguire (Paul Hood), Sigourney Weaver (Janey Carver), James Sheridan (Jim Carver), Elijah Wood (Mikey Carver), Adam Hann-Byrd (Sandy Carver)
Kinostart: 9/1/1998

Amerika im Winter 1973: Eine Familie in einem kleinen Dorf hat ihre eigenen Schwierigkeiten. Der Vater Ben (Kevin Kline) erwischt erst seine Tochter (Christina Ricci) bei Sexspielen und wird dann selbst mit der attraktiven Nachbarin (Sigourney Weaver) ertappt. Seine frustrierte Frau (Joan Allen) überdeckt ihre Vernachlässigung mit kleinen Diebstählen. Doch da bedroht ein Eissturm die Gegend. Er wird ein Opfer fordern und das Leben der Betroffenen gründlich ändern. Ein tiefsinniger Film über die Familienbande, der ohne lautstarke Auseinandersetzungen auskommt. Leise, aber kraftvoll. (film.de)

Die ersten Bilder verweisen auf das Ende der Geschichte: Es ist Nacht; ein Junge schläft in einem liegengebliebenen Vorortzug. Plötzlich beginnt das Eis an den Rädern und den elektrischen Oberleitungen zu brechen, die Bahn setzt sich in Bewegung. Als sie in die heimatliche Station einfährt, warten schon Mutter, Vater und Schwester auf den Sohn und Bruder, den sie in ihre Arme schließen. Für den Jungen ein ungewöhnlicher Vorgang, wie aus seinem Off-Kommentar ersichtlich wird, der eigentlich den Abstand zur Familie bekennt. Diese Ouvertüre mit ihren metaphorischen Motiven und philosphischen Sätzen verlangt nun nach einem erklärenden Hintergrund. Also blendet der Film zurück auf die Tag davor, skizziert das Innenleben der vier Hauptfiguren und entwirft zugleich ein Zeitbild der frühen 70er Jahre, einer Ära, deren politische Desaster heute noch traumatische Erinnerungen hervorrufen können: Vietnamkrieg, Watergate, die Lügen und Verstrickungen der politischen Elite in den USA, ja der angepaßten Bevölkerung überhaupt. Ang Lee liefert die "private" Ergänzung zum gesellschaftlichen Dilemma: die Irrwege einer Familie in Korrespondenz mit den Irrwegen einer Nation, die Risse in den familiären Zellen als Folge und Ursache der Krankheiten des gesamten gesellschaftlichen Organismus. Dabei ist "Der Eissturm" kein historischer Film; seine moralischen Fragen zielen durchaus auf die Gegenwart.
Familie Hood als Welt im Wassertropfen: Ben Hood, der seine Tage uninspiriert im Büro und ein paar freie Stunden im Bett der Nachbarin verbringt, seine Frau Elena, die Bücher über erfülltes Sexualleben liest und unter der zunehmenden Kälte ihres Mannes leidet, dessen Seitensprünge ihr längst nicht mehr verborgen sind. Langeweile, Einsamkeit und Prüderie liegen wie ein schwerer Teppich über dem Alltag der Kleinbürger von New Canaan, Connecticut. Nach außen hin wird zwar der Anschein eines erfüllten Lebens aufrechterhalten, aber die ausgebrannten Seelen schimmern durch die dünn gewordene Haut, und Auswege aus den verfahrenen Situationen führen immer nur in neue Sackgassen. Nach Jahren scheinbar ungebrochenen Selbstbewußtseins sind plötzlich alle in die Krise geraten. Es ist wie bei Tschechow. Ang Lee verknüpft die Erfahrungen und Haltungen der Erwachsenen mit denen der Kinder, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Paul Hood, der Sohn, wird auf dem Weg zum Ebenbild seines Vaters gezeichnet, von dem er sich eigentlich zu distanzieren sucht. Und Wendy, die Tochter, nimmt die Züge der Mutter an, deren Unglück sie zu reproduzieren scheint. Wie Ang Lee mit den jugendlichen Darstellern arbeitet, kann getrost als genial bezeichnet werden. Die Sehnsucht Pauls nach einer ersten sexuellen Erfahrungen, die auf einmal greifbar nah sind und dennoch nicht ausgelebt werden können, wird von Tobey Maguire in einer Mischung aus Neugier, Furcht und Anstand vorgeführt. Noch komplizierter ist die Rolle der Tochter Wendy, von Cristina Ricci mit einem fast maskenhaft unbewegten Gesicht gespielt: ein waches, am Tisch ihrer Eltern durchaus aufmüpfiges Mädchen, das die minderjährigen Nachbarjungen zu "verführen" versucht, tatsächlich aber nur Geborgenheit und ein bißchen menschliche Wärme sucht. Vielleicht die tragischste Figur, deren Weg in eine Welt der Drogen schon vorgezeichnet scheint.
Für Ang Lee bedeutet "Der Eissturm" ein Abschied von den klugen, würdigen Vaterfiguren, wie sie in "Das Hochzeitsbankett" (fd 30 467) und "Eat Drink Man Woman" (fd 30 959) zu sehen waren. Die Selbstzerstörung des "gütigen" Vaterbildes durch Richard Nixon gibt den Ton an und findet seine Entsprechung in der Krise der amerikanischen Väter überhaupt. Die Generation der 40jährigen taumelt im Strudel einer späten Pubertät; am deutlichsten zeigt sich das in einer Szene, in der während einer Party zum offenen Partnertausch aufgerufen wird. Wie in Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" sind viele Figurenfäden zu einem dichten, kunstvollen Knäuel gebündelt. Der Sommernachtstraum freilich kippt bei Ang Lee ins Winternachtstrauma um. Alles scheint gefroren: die Straßen und die Herzen. Und erst der plötzliche, sinnlose Tod eines Kindes reißt die Erwachsenen aus ihrer Lethargie. Mit Hilfe dieses Schockmoments verleiht der Regisseur seinem Film philosophische und religiöse Dimensionen: Ein unschuldiges Opfer öffnet gleichsam das Tor zu Einsicht und Buße. Am Ende hat sich wenigstens die Hood-Familie - nach außen hin - wieder vereint: ein sehr verletztliche Gemeinschaft, die die eigentlichen Prüfungen erst noch bestehen muß.
Die an unterschiedlichen Orten ablaufenden Ereignisse jener Nacht werden dramaturgisch so gebündelt, daß alle wichtigen Figuren in die furiose, aber nie auf vordergründige Effekte zielende Montage einbezogen sind - ein Kunststück an Szenenaufbau, das im aktuellen Erzählkino seinesgleichen sucht. Überhaupt kommt "Der Eissturm" ohne jede modische Mätzchen aus, er braucht keine schiefen Kameraeinstellungen und ausgetüftelte Gegenlicht-Aufnahmen, um Innenwelten nach außen zu kehren. Und doch ist seine "Natürlichkeit" auf kunstvolle Weise hergestellt worden. Penibel wird die Mode der 70er Jahre in all ihren Facetten rekonstruiert, ohne sich spöttisch darüber zu erheben: Wohnungen, Kleidung, Frisuren, Musik und Schmuck als Ausdruck eines Zeitgeistes, der sittliche Traditionen durcheinander wirbelte und die Moral auf den Prüfstand stellte. "Der Eissturm" wirkt zunächst sehr kühl. Bei näherem Hinsehen ist der Film freilich alles andere als unterkühlt - sondern ein melancholisches Plädoyer für die Sehnsucht nach Harmonie, für das Verständnis der Generationen, das im Alltagsstreß auf der Strecke zu bleiben droht. So ist "Der Eissturm" faszinierendes humanistisches Kino. (Ralf Schenk, film-dienst)

Als der 16jährige Paul Hood (Tobey Maguire) am Vorabend des Thanksgivingtages aus seinem Internat in New York zu seiner Familie in den kleinen Ort New Canaan / Connecticut zurückkehrt, zweifelt er am Sinn einer Familie. Die Familie ist die Antimaterie des Menschen, der Ort aus dem man kommt und wohin man zurrückkehrt, wenn man stirbt. Der einzige Lichtblick, die einzige Person in seiner Familie, mit der er sich normal unterhalten kann ist seine Schwester Wendy (Christina Ricci, Addams Family).
Scheinbar erst vor Kurzem hat hier die Sexuelle Revolution Einzug gehalten, zumindest muß man dies aus dem Verhalten aller Beteiligten schließen: der Vater Ben (Kevin Kline, Ein Fisch Namens Wanda) betrügt seine Frau Elena (Joan Allen) mit der Nachbarin Janey Carver (Sigourney Weaver, Alien), und selbst der Pfarrer hat keine Einwände gegen die Aussetzung des sechsten Gebotes, die spätestens auf Parties mit pubertären Partnertauschspielchen offensichtlich wird. Noch nicht einmal - oder gerade nicht - vor der 14jährigen Wendy machen diese neuen Sitten halt. Sie versucht mit viel Hingabe männliche Körper zu erkunden, vor allem die der Nachbarssöhne Mikey (Elijah Wood) und des etwas jüngeren Sandy (Adam Hann-Byrd).
Zu einer Änderung der Einstellung der Gesellschaft New Canaans kommt es erst in der Nacht des Eissturms. Durch die Ereignisse in dieser Nacht werden die Karten der Verhältnisse der Familien Hood und Clair neu gemischt, wobei die Beteiligten alte und neue Gefühle füreinander neu entdecken.
Warum immer nur Filme über große geschichtliche Ereignisse? Ang Lee hat die damalige Gesellschaft gut beobachtet und glaubwürdig dargestellt und sowohl die Charaktere als auch deren Besetzung passend gewählt. Auch die Kulissen und Einrichtungen der damaligen Zeit stimmen bis aufs i-Tüpfelchen. Erstaunlich ist auch die Tatsache, daß die komplette Winterlandschaft des Filmes künstlich geschaffen wurde; keine Schneeflocke und kein Stück Eis sind echt. Schade nur, daß der Film zeitweise recht langatmig wird und die rechte Spannung fehlt. (heinz-online)

Ang Lee dreht Familienfilme. Er dreht sie irgendwo zwischen Taiwan und China, zwischen dem späten 18. Jahrhundert und dem Heute, zwischen Hetero- und Homosexuellen - aber er dreht immer Familienfilme. Nach "Pushing Hands" (1991), "Das Hochzeitsbankett" (1992), "Eat Drink Man Woman" (1994) und "Sinn und Sinnlichkeit" (1995) ist "Der Eissturm" die nächste Variation dieser thematischen Konstante bei Ang Lee. (Und wieder klingt nur noch die Musik asiatisch.)
Es sind die Seventies, die Zeiten von Zappa und Nixon. Die Illusionen sind mit Vietnam und Watergate verflogen. Die Ehe im Stadium der Lieblosigkeit erfroren. Als Erbe der Sechziger blieb die sexuelle Freizügigkeit. Swinger-Parties sind jedoch mehr Pflichtprogramm als Lusterweiterung.
Es ist Thanksgiving - das familiärste aller familiären Familienfeierlichkeiten in den USA. An diesem Tag kulminiert der ganze us-amerikanische Glaube an eine heile (Familien-) Welt - und er zerbricht auch meist an diesen Familienfesten und anderen Schwierigkeiten. Da reicht schon ein politisch bewußtes Dankgebet um die Tafelstimmung explodieren zu lassen.
Denn so wie der Truthahn mit Obst, sind die Beziehungen prall mit unausgesprochenen Problemen gefüllt. (Secrets and Lies) Ben Hood (Kevin Kline) hat mit der einen Frau er eine Ehe, mit der Nachbarin Janey (Sigourney Weaver) Sex. Als die Kinder beginnen "Zeigst du mir dein's ...." zu spielen, schlägt allerdings der moralische Hammer zu. Doch es muß auch schockierend sein, die Tochter mit einer Nixonmaske beim Petting zu sehen! Fuck Nixon! Mutter Elena Hood (Joan Allen) und Tochter Wendy (Christina Ricci) stehlen sich in den Läden des Ortes den Frust von der Seele. Der kleine Sohn der Nachbarin Janey spielt sehr militant mit seinem militärischen Spielzeug und ist auch sonst ein kleines Monster. Paul Hood (Tobey Maguire) umschwärmt vergeblich eine Kommilitonin der naheliegenden Uni New Yorks.
Während die Jugendlichen neugierig ihre Wege suchen, bieten die Erwachsenen ein Trauerspiel: Einsame Menschen, die in Zweierpaaren auf falschen Bahnen leben. Sie können ihren Weg nicht mehr beeinflussen und im Staunen über den wundersamen Verlauf ereilt sie das Ende. So ließe sich vielleicht auch die äußerst bemerkenswerte Schlüsselszene des Films deuten: Die Art des Todes als Metapher des Lebens.
Und über all dem droht eine Katastrophenwarnung der Meteorologen: In der Nacht sollen Temperaturen dramatisch fallen, ein Regenschauer wird alles in ein märchenhaftes Eisland verwandeln. Die Kälte zieht sich durch den ganzen Film, Eiswürfel klimpern groß im Bild, der kühle, nüchterne Bauhausstil des Hauses läßt schaudern, Wendys Füße frieren dauernd. Die vielfältig verzwickten Beziehungen kulminieren in diesem sehr eindrucksvollen Naturspektakel. Das Knirschen und Brechen von Eis, der verharrende Moment erzeugen ein einzigartiges Erlebnis.
Trotz alberner 70er-Klamotten kommen die Menschen unter der Beobachtung Ang Lees interessant eigenwillig rüber. Ein sorgfältiger Aufbau, viele interessante Figuren sowie bemerkenswerte Ereignisse machen Ang Lees "Eissturm" besonders sehenswert. Die Besetzung bildet einen großen Starreigen bis hin zu den Jungstars Christina Ricci und Elijah Wood. Bekannte Gesichter, die sich vollständig in die Geschichte einfügen. (Günter H. Jekubzik, FILMtabs)

Kettenreaktionen in einer Eiswelt. Sehenswert: Ang Lees Literaturverfilmung „Der Eissturm“
Die Welt ist gefroren. Alles ist mit einer dünnen gläsernen Schicht überzogen – ein Eissturm ist übers Land gefegt, hat es in eine bizarre Szenerie verwandelt und für kurze Zeit stillgelegt. Erst gegen Ende des Films bricht das Naturereignis über seine Protagonisten herein.
Der Eissturm von Ang Lee (Sense and Sensibility), nach einem Roman von Rick Moody, schildert ein paar Tage im November 1973. Das Zeitkolorit, das der Film sich gibt, ist unaufdringlich – am markantesten vielleicht noch in den Innenräumen mit ihren transparenten Designs und den allgegenwärtigen Op-Art-Drucken – und nicht wirklich wesentlich. 1973 ist ein Hintergrund, vor dem Dinge stattfinden, die eine gewisse Zeitlosigkeit haben: Der Eissturm erzählt von zwei Mittelstands-Familien, die in ihren freistehenden Häusern in der kleinen Siedlung New Canaan in Connecticut leben und durch nachbarschaftliche und andere Beziehungen miteinander verbunden sind.
Die Personen existieren nebeneinander, in parallelen Welten wohnen Eltern und Kinder unter einem Dach und führen Eigenleben, wo die Erwachsenen den Nachwuchs (fälschlich) unter Kontrolle wähnen. Ganz im Gegensatz zur Vorab-Werbung für den Film, die sich auf die Affäre zwischen Janey Carver (Sigourney Weaver) und Ben Hood (Kevin Kline) konzentrierte, widmet Ang Lee vor allem seinen jugendlichen Protagonisten große Aufmerksamkeit und deren Darsteller (besonders Christina Ricci) leisten beachtliche Arbeit.
Der Eissturm ist in erster Linie ein Film über Familien und nicht (nur) über die notorischen sexuellen Ausschweifungen der 70er. Die Familien sind eingebettet in andere Kontexte – die Natur, das Klima, physikalische und metaphysische Sphären – und alles steht miteinander in Beziehung. Der Film bringt verschiedenste Formen von Verbundenheit sehr beiläufig ins Spiel: Ganz ruhig sitzt Janey Carver auf ihrem großen Ehebett und liest einen Roman von Philip Roth. Als ihr Mann den Raum betritt und sich zu ihr setzen will, gerät plötzlich der Untergrund in Bewegung, denn das Paar hat sich eine der Neuerungen der Zeit geleistet, ein Wasserbett, das die Frau nun gewissermaßen aus ihrer entspannten Lage schwappt.
Das ist nicht symbolisch zu verstehen, sondern nur ein weiteres Bild von mittelbaren Bezügen. Jim Carver (Jamey Sheridan) hat gerade eine bahnbrechende Erfindung gemacht. Er hat ein Styropor-Derivat, ein Kunststoff-Füllmaterial entwickelt, das zerbrechliche Güter beim Transport schützen soll und dessen Wirksamkeit wohl auf der Verteilung und Aufhebung von Bewegung beruht. Sein Sohn Mikey ist fasziniert von Reinheit, abstrakter Perfektion und von molekularen Strukturen, während der jüngere Sandy Modellflieger explodieren läßt.
Auch das Ende beschreibt eine Verknüpfung, die kleinste Teilchen und familiäre Verbände gleichermaßen betrifft: Wenn der Zug, in dem Paul Hood nach Hause fährt, auf offener Strecke stehenbleibt, weil der Strom ausfällt, dann hat es an einem anderen Teilstück der Leitung einen Unfall gegeben, eine elektrische Entladung in die falsche Richtung, eine fatale Kettenreaktion in einem bemerkenswerten filmischen Universum. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 12/1/1998)

Zwei oder drei Dinge über Amerika. "Der Eissturm", ein außerordentliches, kühl erzähltes neues Melodram aus Amerikas näherer Vergangenheit, erzählt von strauchelnden Politikern, von traumatischem Sex und dem Zeitalter der Paranoia.
Wovon Der Eissturm handelt, liegt zwischen den Worten, bleibt bis zuletzt ungesagt. Kino der Blicke: Jeder hier schaut, um zu erkennen, aber alle Blicke gehen fast immer nur ins Leere, weil die Figuren, jeder für sich, unsichtbare Schutzmäntel zu tragen scheinen, die alle Neugier sinnlos machen. Ein Film der Fassaden, hinter die nicht mehr zu sehen ist: Maschinenmenschen, möglicherweise. Der Eissturm sieht, nicht nur in dieser Hinsicht, ein wenig wie ein Science-fiction-Film aus.
Ang Lee, Filmemacher aus Taiwan und zuletzt (in Europa) als Regisseur des malerischen Sinn und Sinnlichkeit aktiv, zielt nun erstmals auf Amerika - und es ist wieder eine Art Kostümfilm daraus geworden: The Ice Storm / Der Eissturm, seine Adaption des Romans von Rick Moody, versucht das Amerika der siebziger Jahre, ein Land im Umbruch, zu begreifen. Von außen, denn Ang maßt sich nicht an, das Land und seine Menschen zu verstehen: Sein Blick starrt die an, von denen er erzählt, nicht sympathisierend und nicht feindselig, bleibt ihnen einfach nur fremd.
Die Story des Ice Storm geht viele Wege, weil sie sich an vielen Handelnden entlang bewegt: Ein junger Mann (Tobey Maguire) sitzt, gleich am Anfang, einsam in einem Nachtzug, den ein Kurzschluß zum Stehen gebracht hat. Er hält ein Comicsheft in seinen Händen, das ein phantastisches, gewaltbeladenes Abenteuer der "Fantastic Four" ablaufen läßt. Die Fiktion sieht in diesem Film der Wirklichkeit täuschend ähnlich.
Ein halbwüchsiges Mädchen (Christina Ricci), die Schwester des jungen Mannes im Zug, trägt - während sie die Chance wahrnimmt, Sex mit einem Ahnungslosen erkundet - eine Plastik-Maske mit dem Gesicht Richard Nixons. Sie tut das, um ihr Spiel spannender, abwegiger zu gestalten, aber auch, um ihren Haß auf lügende Politiker - in karikierender Form - zu artikulieren.
Nixons Gesicht ist allgegenwärtig in The Ice Storm, denn täglich zeigt es auch das Fernsehen: das Gesicht eines Mannes, der sich abmüht, sich den schweren Beschuldigungen, die man gegen ihn erhebt, zu entwinden. Der Vater des Mädchens (Kevin Kline) ertappt seine Tochter bei ihrer erotischen Forschungsarbeit. Er weist sie zurecht, obwohl er selbst keineswegs nach den Regeln der herrschenden Moral lebt: Sein Verhältnis mit der Nachbarin (Sigourney Weaver) bereitet dem Verheirateten erst dann Schwierigkeiten, als sich diese gelangweilt von ihm zurückzieht.
Von neuer Moral, von dem, was man für sexuelle Freiheit hält, berichtet The Ice Storm, aber ebensogut auch von bizarrer Inneneinrichtung, von Nadeln, die im Vinyl kratzen, von Haarschnitten und Glockenhosen. Ang Lee inszeniert Amerika als Requisitenmuseum, als Ort, in dem sich die Zeit wundersam in den Alltagsgegenständen konserviert hat. Der Nordosten Amerikas, wie er 1973 ausgesehen haben mag, bildet den Schauplatz dieses Films. Es wird Winter im Land, ein Eissturm kündigt sich an. Er wird am Ende einen Toten fordern, durch einen dummen Zufall, ein Opfer, das für all die anderen Opfer Amerikas steht.
The Ice Storm verrichtet Trauerarbeit, ohne sich Parteinahme zu gönnen, im wesentlichen tut er das aber doch mit den Mitteln des kommerziellen Films: Das läßt die Erzählung seltsam klingen, wie das ferne Echo eines anderen, fremden Films. Aber gerade in der Tatsache, daß Regisseur Ang Lee sich so sehr zur Distanz zwingt, liegt eine schöne Möglichkeit: sich eine Geschichte anzueignen, in der noch nicht alles feststeht, die einem den Umgang mit den Figuren nicht schon vorab diktiert.
Die Schauspieler in The Ice Storm sind makellos, vor allem (und erstaunlicherweise) auch die ganz jungen: Nur so, scheint es, kann man angemessen von der Familie berichten, die in diesem Film eine bloße Idee bleibt, eine Institution, die sich bis zum Ende der Erzählung selbst nicht findet. Die Sehnsucht nach familiärer Restauration ist Ang Lee anzumerken, aber weil er lieber bei der Wahrheit als bei der Utopie bleibt, schließt er seinen Film mit einem letzten Blickgewitter und einer neuen Eskalation der Wortlosigkeit. Wovon sich nicht träumen läßt, davon muß man schweigen. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 10/1/1998)

Bisher drehte Ang Lee augenzwinkernde Filme über die verschwindenden Familienrituale der Chinesen. Diesmal rückt der Blick dichter: Mit der Nahaufnahme einer US-Kleinstadt in den Siebzigern porträitiert Lee das Erwachsenwerden der amerikanischen Nation, die gern lässig wäre und meilenweit entfernt davon ist.
New Canaan, Connecticut, im November '73. Amerikanische Provinz, eine Kleinstadt ohne Profil: moderne Häuser mit großen Gärten und erfolgreiche Familien, die darin wohnen. So wie die Hoods und ihre Nachbarn, die Carvers. Doch von heiler Welt keine Spur. Eine beunruhigende Langeweile liegt über dem ganzen Nest, eine unterschwellige Erwartungshaltung, als müsse sich sofort alles ändern, als würde dadurch das Leben plötzlich lebenswert. Und wirklich, nach dieser unwirtlichen Thanksgiving-Woche wird zumindest für die Hoods und die Carvers nichts mehr so sein wie zuvor.
Der Beginn der siebziger Jahre als Wendepunkt. Neue Mode, grelle Versprechungen, neue Drogen und vor allem freie Sexualität. Doch letzterer ist in New Canaan kaum einer gewachsen. Noch tragen die Männer auf ihrem Weg zur Arbeit alle dieselben Trenchcoats, wirken ihre Familienleben so keimfrei wie in einem Bilderbuch. Aber unter der polierten Oberfläche lauern die kleinen Lügen. In Wirklichkeit haben sich die Hoods nicht mehr viel zu sagen: Der 16jährige, ruhige Paul (Tobey Maguire) liest in der Schule Dostojewski und ansonsten Comics, vorzugsweise "Die Fantastischen Vier". Seine jüngere Schwester Wendy (Christina Ricci) interessiert sich mehr für die handgreiflicheren Dinge des Lebens und entdeckt mit den beiden Nachbarsjungen ihre Sexualität - neugierig und frei. Ihre Eltern hingegen sind in ihrer Ehe an einem toten Punkt angelangt. Ben und Elena (Kevin Kline und Joan Allen) schweigen sich an. Während Ben der mondänen Nachbarin Janey (Sigourney Weaver) hinterherpirscht, bleibt Elena gefangen in ihrer Einsamkeit und flüchtet sich in Bücher wie "Die Möwe Jonathan".
Zum gesellschaftsfähigen Partnertausch brauchen die Erwachsenen kindische "Key-Parties", wären gern verrucht und sind meilenweit entfernt davon. Isolation, Langeweile und Depression. Menschen auf der Suche. Wo bleiben nur die Verheißungen der neuen Zeit?
Eine soziale Kälte durchzieht diesen Film. 112 Minuten lang. Einprägsame lange Kameraeinstellungen und schauspielerische Höchstleistungen verdichten seine klaustrophobische Atmosphäre. Der 1954 in Taipeh geborene Regisseur Ang Lee kennt kein Pardon. In seinen frühen "Vater weiß es besser"-Komödien "Das Hochzeitsbankett" und "Eat Drink Man Woman", symbolisieren die verschwindenden Familienrituale noch augenzwinkernd die Auflösung der taiwanesischen Traditionen und Gesellschaft. Doch spätestens seit seiner grandiosen Jane-Austen-Verfilmung "Sinn und Sinnlichkeit" ist die Komödie der Tragödie gewichen. Auch im neuen Meisterwerk, das nach dem gleichnamigen Roman des 1961 geborenen Rick Moody entstanden ist und dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme für das beste Drehbuch erhielt.
"Die Gesellschaftsstruktur zerbricht in diesem Film in stärkerem Maße als in meinen früheren Filmen", bemerkt Ang Lee. "Die Situation ist chaotischer. Die ganze Nation steckt in einer Adoleszenzphase." Und dazu gehört der Bruch mit dem Alten, der Sturz der Vaterfiguren von ihren Sockeln. In "Der Eissturm" fallen aber nicht nur die Familienväter. Gespannt und fassungslos verfolgt die Nation, wie ihr erster Mann im Staat, Richard Nixon, sich immer mehr in das Lügengespinst der Watergate-Affäire verstrickt. Selbst die Vertreter der Kirche haben ihre Glaubwürdigkeit verloren: langhaarig und kiffend steigt Pater Edwards den Hausfrauen nach.
Das Ende einer Ära. Alles gerät ins Wanken. Sogar die Comicwelt der "Fantastischen Vier". Nicht einmal diese Familie der Superhelden ist gegen die Gefahr von außen gefeit, gegen persönliche Antimaterie und negative Zonen. Sie werden über New Canaan hereinbrechen, wie jener fürchterliche Eissturm, der das sinnlose Treiben der Bewohner in seiner glitzernden Pracht erstarren läßt. (Cristina Moles Kaupp, SPIEGEL ONLINE 51/1997)

Wohlstand und Lebensglück, wen wird das überraschen, sind nicht unbedingt Zwillinge. Manchmal (ver-)führt die materielle Sicherheit zu Ausflügen aufs dünne Eis alternativer Lebensentwürfe (auf gut deutsch: Die Leute haben genug Zeit, ihr Vakuum existentieller Nöte mit neuen Problemen zu füllen).
Manchmal wird aus so einer Konstellation ein künstlerischer Glücksfall. So wie hier, in Ang Lees Film „Der Eissturm“, der in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch (James Schamus) ausgezeichnet wurde. Komödie, Farce, Tragödie und Psychodrama: All das ist in diesem hinreißendem Kammerspiel mit Star-Besetzung enthalten. Wie schon in seinem Hit „Sinn und Sinnlichkeit“ blickt Regisseur Ang Lee in die Vergangenheit. Diesmal allerdings in die jüngere.
Die Szene: Die Vororte von New York, 1973. Es ist die Ära von Richard Nixon, Watergate und freier Liebe. Eine Gruppe wohlsituierter Ehepaare sinnt auf Wege, der gepflegten Langeweile im Eigenheim zu entkommen. Ben betrügt Elena mit Janey. Elena schmökert in „Wie man zu einem erfüllten Sexualleben kommt“. Ihr Teenager-Sohn Paul unternimmt erfolglos erste Flirtversuche. Seine Alterskollegin Wendy ist besser dran. Sie hat alle Anlagen zu einem kleinen Vamp und überdies revolutionäre Wut im Bauch - auf die satte, verlogene Welt der Erwachsenen. Der Film webt kunstvoll an den Beziehungsnetzen.
Bis zu einer Nacht, die als Höhepunkt der Lust gedacht ist und in einer Katastrophe mündet. Eine „Schlüsselparty“ (die Herren werfen ihre Autoschlüssel in einen Topf und fahren zwecks Sex mit jener Dame heim, die ihren Schlüssel zieht) nimmt ein jähes Ende. Einer der Kids ist tödlich verunglückt. Fazit: Eine kleine Geschichte aus dem bürgerlichen Heldenleben - und zugleich ein großer Eissturm der Gefühle. Kolossal gut gespielt von ersten Kräften wie Kevin Kline, Sigourney Weaver, Joan Allen und der jungen Christina Ricci. (Gunther Baumann, KURIER)

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DIE SALZMÄNNER VON TIBET

D / CH 1996. 108 Min
Regie: Ulrike Koch, Buch: Ulrike Koch, Musik: Stefan und Frank Wulff, Kamera: Pio Corradi, Schnitt: Magdolna Rokob
Kinostart: 9/1/1998

Schwierig ist es für die Fremden, fremd genug zu sein und doch nicht fremd, uns zu gleichen und auch wieder nicht. Freundlich müssen sie sein, lächeln und singen, ihre Götter um Beistand bitten und nicht um Geld. Deshalb mußte schon Nanook, der Eskimo, erstaunt in eine Schallplatte beißen und mit seinen Freunden einen toten Seehund angeln. In den USA, wo ihn alle so liebten, wurde ein Eis nach ihm benannt. Er selbst ist später allerdings verhungert. "Die Salzmänner von Tibet" kommen auch ohne Biß in die Platte ganz aus der romantischen Tradition Robert Flahertys. Aber schon Grierson, auch nicht gerade ein Sozialrevolutionär, fand dessen Filme zwar dramaturgisch ergreifend, thematisch für die moderne Massengesellschaft aber nicht mehr ganz passend. Der Kampf des Individuums gegen die Naturgewalten hatte für ihn schon Ende der 20er Jahre mit der industriellen Welt zu wenig zu tun.
Natürlich haben die Fremden mit uns zu tun: Wir nehmen ihnen ihr Land weg, ihre Bodenschätze, ihre Religion, wir zwingen sie zur Monokultur, reden ihnen die Vielweiberei aus und trösten sie mit Schnaps. Sehen aber wollen wir das nicht. Lieber machen wir uns ein Bild, von dem wir morgen glauben wollen, daß es wenigstens gestern noch gestimmt hat. Nach dem Genozid im schlimmsten und der Verelendung im Normalfall sagen wir dann: Schau, so waren sie einmal, stolze Krieger (die Indianer), geschickte Fischer (die Eskimos), begabte Dichter und Reisende (die Tuareg). Und: Schau, so waren sie einmal, die Salzmänner von Tibet. Mehr als einen Monat sind sie unterwegs mit ihren kleinen Pferden und Yaks, um Salz aus einem See zu holen. Nur Männer dürfen mit. Ihre Regeln sind einfach: einer spielt die alte Mutter, einer den alten Vater, einer den Herrn der Tiere, und einen Neuling und Initianten haben sie auch dabei. Vor der Reise machen sie ein Ritual, damit alles gut geht, haben sie das Salz gesammelt, machen sie ein Ritual, weil alles gutgegangen ist. Dann kehren sie wieder zurück, in Wind und Regen und Schnee. Das verstehen auch wir, und mehr wollen und mehr müssen wir auch nicht verstehen. Denn die Salzmänner, das sind wir, das ist unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, nach guten Vätern und Müttern, nach wohlgesinnten Göttern. Und weil wir unsere Sehnsüchte pflegen, sagt der überflüssige Abspanntext, daß bald die böse Modernisierung kommt und es eines Tages keine Salzmänner mehr geben wird. Für diesen Fall haben wir dann den Film. Schau, so waren sie einmal, werden wir dann sagen, freundliche Tibeter, die ihre Yaks und ihre Götter liebten und in Einklang mit der Natur lebten. Nur wo sie ihre Gummistiefel kaufen und ihre Eisenschaufeln, wohin die Asphaltstraße führt, die sie überqueren, und woher die Lastwagen kommen, die ebenfalls Salz holen, das hat der Film ebenso wenig gesagt wie er über sich gesprochen hat. Über seine Reise, sein Auto, sein Zelt und seinen Tee schweigt er. Stattdessen tut er so, als sei er einfach nur mitgegangen, wochenlang in schlichter, menschlicher Einfachheit. Aber er hat sich ja auch nur ein Bild gemacht, und wenn es auch das falsche war, so wird es doch für immer schön gewesen sein. (Eva Hohenberger, film-dienst)

Die tibetanischen Nomadenvölker sind für ihren Unterhalt seit jeher vom Ertrag des Salzabbaus abhängig. Meherre Monata dauert die beschwerliche Reise der "Salzmänner" zum lebenswichtigen Salzssee. Ein Filmteam um die junge Filmemacherin Ulrike Koch begleitete eine dieser kleinen Gruppen auf einer solchen Reise und schuf so ein bleibendes Dokument einer durch die Kommerzialisierung des Salzhandels im Aussterben begriffenen Kultur. Aus der Zusammenarbeit der Catpics Coproductiobs Zürich und der D.U.R.A.N. Film Berlin ist ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Dokumentarfilm hervorgegangen. Seine größte Stärke ist vielleicht, daß er eube vollkommene Objektivität gar nicht erst vorgibt. Anstatt die Anwesenheit der Kamera bei den Beteiligten vergessen zu machen, wurden sie dazu aufgefordert, sich selbst, ihre Bräuche und Lebensweisen vorzustellen. So wird jegliche Kommentierung von außen durch die (in Untertiteln übersetzten) Erzählungen der Eingeborenen ersetzt. So lernt man im Laufe der rund 100 Minuten jeden der fünf "Hauptdarsteller" wirklich als Menschen kennen. Davor verblassen Vermutungen, hier verkläre der "europäische Sehnsuchtsblick due Zivilisationsferne und archaische Strapazen" (vgl. Eva-Maria Lenz in FAZ Nr. 231/Mo, 6.10. 97, S. 45). Auch die spärlich eingesetzte Untermalung besteht - bis auf wenige Ausnahmen (Stefan und Frank Wulff steuerten einige Klänge bei)- aus ritueellen Gesängen der Nomaden selber. Der schweizer Kameramann Pio Corradi, dem die Regisseurin nach eigener Aussage völlig freie Hand ließ, gelangen wunderbare Aufnahmen, bei denen die Karawane der als Lasttiere eingesetzten Yaks in den unendlichen, kargen Plateaus und Talebenen des Himalaya zu verschwinden scheint. (Jerry's Movie Page Das Salz der Erde und des Himmels. Auftakt in Nyon: Ulrike Kochs «Die Salzmänner von Tibet». Das Dokumentarfilmfestival Nyon hat ihn diese Woche zum Eröffnungsfilm gekürt: Ulrike Kochs filmischer Nachvollzug einer Salzkarawane in Nordtibet ist ein schönes Beispiel jener «Visions du réel», wie das Festivalkonzept sie sucht.
Die «Salzmänner», so erfahren wir in diesem ruhig-schönen, genauen Dokumentarfilm, sind Hirtennomaden Nordtibets, die alljährlich in einer rund dreimonatigen Reise ihre weit über hundert Köpfe zählende Yak-Karawane zu einem der zahlreichen Natronseen des Hochlands führen, um dort das Salz zu gewinnen, das sie vor allem brauchen werden, um es gegen Gerste und Tee einzutauschen. - Doch zu den Salzmännern fährt man nicht einfach hin. Erst muss man überhaupt Kenntnis von ihrer Existenz erhalten. Hierauf muss man herauszufinden suchen, wo genau sie leben. Ist das gelungen, gilt es, ihr Vertrauen zu gewinnen, um sie dereinst vielleicht einmal filmen zu können. Ist man schliesslich so weit gekommen, kann es leicht geschehen, wie es der in Zürich lebenden deutschen Sinologin, Dolmetscherin und Filmschaffenden Ulrike Koch 1992 bei ihrer Recherchenreise widerfuhr, dass die Regierung der Autonomen Region Tibet soeben ein unbeschränkt geltendes Verbot für ausländische Filmproduktionen erlassen hat.
Und was ist zu tun, wenn man diesen Film, nach weiterer, jahrelanger Vertiefung ins Thema, dennoch unbedingt machen will? Man bildet eben eine minimale kleine Equipe, die als Touristengruppe getarnt ist und anstelle der professionellen 16-mm-Ausrüstung bloss mit winzigen Digitalvideokameras reist. So etwas klingt in der Theorie meist besser, als die Praxis es später erlauben wird. Wenn man diesem Film seine technischen Beschränkungen jedoch praktisch nicht ansieht, dann ist das wohl wesentlich dem Können des Kameramanns Pio Corradi zu danken, der selbst Landschaftstotalen für den Transfer ins Kinoformat zuzubereiten weiss. Nur noch beim Flattern einer Gebetsfahne oder etwa im Flimmern der «skyline» einer Bergkette im Gegenlicht verraten sich manchmal die Schwierigkeiten des Videobilds mit der Auflösung.
Die Dramaturgie ist durch den Gegenstand vorgegeben: Es ist diejenige der Reise und damit der Langsamkeit. Vorbereitung und Aufbruch, Zug der Karawane, Rast und Nachtlager, Ankunft am Ziel und schliessliche Rückkehr - der Film folgt der Chronologie der Abläufe und Ereignisse, wobei er ganz unangestrengt hier bei einem Detail wie der Anbindeanordnung für die Tiere verweilt, dort einen Aspekt wie etwa die Organisationsstruktur der Karawane vertieft. Doch nie geht dabei der epische Erzählgestus verloren, der jedem Nachvollzug einer solchen Reise innewohnen muss. Noch betont wird er durch den Vortrag einer Gesar-Sängerin aus Zentraltibet. Das Gesar- Epos erzählt die Heldentaten eines legendären, vorbuddhistischen Königs; die ausserordentliche Bedeutung, die die Rezitation des Nationalepos für tibetische Kultur und Identität hat, können wir freilich höchstens erahnen. Durchaus bemerkenswert ist, wie es Ulrike Koch und ihrer ausgezeichneten Cutterin, Magdolna Rokob, gelungen ist, den Film ganz ohne Kommentar auskommen zu lassen; äusserst subtil setzt die Musik von Stefan und Frank Wulff ihre Akzente.
Die Sängerin, die ihrer ungewöhnlichen Popularität wegen von den chinesischen Behörden offenbar argwöhnisch observiert wird, erscheint zweimal mit längeren Passagen im Bild. Zu Beginn sehen wir vier ihrer Zuhörer - es sind die Salzmänner. Später werden sie sich selbst vorstellen, das heisst, sie werden ebenfalls anonym bleiben und einzig ihre Funktionsbezeichnungen während der Reise verwenden: Margen, «die alte Mutter», der Anführer und für die Teezubereitung Verantwortliche, Pargen, «der alte Vater», der für Rauchopfer und das Aufteilen des Fleischs zuständig ist, Zopön, «der Herr der Tiere», dem die Sorge um das Wohlergehen der 160 Yaks obliegt, sowie Bopsa, «der Neuling», der erstmals an einer Salzkarawane teilnimmt und in die Geheimnisse des Salzholens erst eingeweiht werden wird. Eindrücklich wird zu sehen sein, wie Zopön mit einem kranken Tier leidet, das dann nicht geschlachtet wird, sondern sterben dürfen soll; rührend, wie er sich vorstellt, was die Yaks nach der Ankunft nun wohl so denken, die erfahrenen und die Neulinge, während Margen dazu lacht.
Nicht von ungefähr sind es vier Männer, die das Salz holen. Frauen ist es verboten, auch nur in die Nähe des Tsatso-Sees zu kommen, dessen Herrin eine Frau ist, die Göttin Matsenten Gyalmo. Daran hatte sich auch die Regisseurin zu halten. Wie Ulrike Koch sagt, war sie heilfroh, ihren Film in einem derart guten Salzjahr realisieren zu können; bei schlechten Verhältnissen wäre vermutlich ihre Präsenz an der Missernte schuld gewesen. Gegenüber Unbefugten sind aber noch weitere Schranken errichtet worden. Die wichtigste ist zweifellos die «Salzsprache» Tsage, eine Geheimsprache, deren sich nur Eingeweihte bedienen können und die folgerichtig in den Untertiteln in Form von nicht dechiffrierbaren Ideogrammen erscheint, die Loten Dahortsang, der tibetische Sachverständige, gefunden hat. Die häufigen Lacher lassen jeweils vermuten, dass die zu sexueller Enthaltsamkeit während der Reise verpflichteten Salzmänner sich an den erotischen Anspielungen ergötzen, wie sie für diese Sprache charakteristisch sein sollen.
Die Gefährdung einer Tradition ist denn auch - nebst ihrer Dokumentation - das implizit bedeutsamste Thema. Ulrike Koch hat nicht nur den vermutlich ersten, bestimmt aber umfassendsten Film zu diesem Gegenstand gemacht; die Dinge stehen schlecht genug, dass es auch der letzte sein könnte. Dem Film haftet nicht im geringsten etwas Larmoyantes an, dennoch senkt sich im Fortgang des Geschehens allmählich eine stille Trauer auf diese Bilder von Menschen, die unter härtesten Bedingungen so heiter-selbstzufrieden leben. Die Zeichen dafür, wie bedroht dieses zutiefst in geistigen und religiösen Bezügen verankerte Brauchtum ist, sind eher banal denn ominös. Wiederholt sieht man Lastwagen, die ohne jedes Zeremoniell beladen werden und wegfahren, während bei den Salzmännern von der Gewinnung des Salzes bis zum Zunähen der Säcke jeder Arbeitsgang und, wie es scheint, fast jeder Handgriff von einer rituellen Handlung mit Sprechgesang begleitet ist. So werden denn zum Abschluss der Göttin des Sees die meisterhaft aus geröstetem Gerstenmehl und Butter geformten Yakfigürchen als Opfergaben dargebracht.
Die systematische Modernisierung trage dazu bei, dass die Daseinsberechtigung der Salznomaden Tibets und damit das letzte Gefühl von Freiheit in diesem Land ernsthaft bedroht seien, sagt die Autorin: «Mit dem Untergang der Tradition der Salzmänner wird ein weiteres Stück kultureller Identität des tibetischen Volks verlorengehen», heisst es zum Schluss. Wer den Film gesehen hat, versteht auch, warum. Eine schöne Konjunktion ist immerhin, dass er das Gespräch, das «Das Wissen vom Heilen» eröffnet hat, Franz Reichles beziehungsreiche Ergründung der Welt tibetischer Heilkunde, nun so substantiell aufnimmt und weiterträgt. Im Film findet sich ein einzigartiges Bild, nachdem die Karawane die Felsformation «Die Steinziege» passiert hat, den Punkt, von dem an «die Regeln eingehalten werden müssen»: Wir sehen sie in den gewaltigen, von Wolkenschattenbändern durchwellten Landschaften des Chantang, der «Ebene des Nordens», als sie, mitten im Bild, durch eine Geländefalte wie vom Erdboden verschluckt wird. Aus dem Sinnbild der Transformation wird dasjenige für den Sachverhalt des Verschwindens. (Christoph Egger, Neue Zürcher Zeitung, 25/4/1997)

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TITANIC (TITANIC)

USA 1997
Regie: James Cameron, Buch: James Cameron, Musik: James Horner, Kamera: Rae Sanchini, Schnitt: Conrad Buff, James Cameron, Darsteller: Kate Winslet (Rose DeWitt Bukater), Leonardo DiCaprio (Jack Dawson), Billy Zane (Cal Hockley), Kathy Bates (Molly Brown), Bill Paxton (Brock Lovett), Bernhard Hill (Captain Smith), Jonathan Hyde (Bruce Ismay), Victor Garber (Thomas Andrews)
Kinostart: 9/1/1998

Der Untergang des englischen Luxusliners "R.M.S. Titanic" am 15. April 1912 löste in der westlichen Welt eine Erschütterung aus, die heute so schwer nachempfunden werden kann wie die Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon 1755. Beide Katastrophen markierten das Ende eines kollektiven Traums - den Glauben an die Vorsehung Gottes bzw. an die Allmacht der Technik. Der Schock über das Verglühen der amerikanischen Raumfähre "Discovery" blieb dagegen eine vergleichsweise sentimentale Marginalie, vielleicht auch, weil das Unglück Tage später bereits von anderen Schreckensbildern überlagert wurde. Am Beginn unseres Jahrhunderts aber schlug die Nachricht von der Havarie wie eine Bombe ein: Vier Tage nach dem Stapellauf versank der stählerne, auf Grund seiner wasserdichten Schotten als unsinkbar geltende Riese nach einer Kollision mit einem Eisberg in den Fluten des Atlantiks. Mehr als 1500 von insgesamt über 2200 Menschen an Bord fanden den Tod. Die Fülle der Spekulationen, Theorien und Mythen, die sich binnen kurzem um das gekenterte "Schiff der Träume" rankten, oder in Romanen, Filmen und Opern wilde Blüten trieben, bezeugt eindrucksvoll das emotionale und intellektuelle Nachbeben der tragischen Jungfernfahrt. Selbst in der Gegenwart ist das Interesse an den Umständen des Unfalls nie ganz verschwunden: als 1985 das Wrack von einem Forscherteam nahe Neufundland aufgespürt wurde, zierten die Aufnahmen des Geisterschiffes weltweit die Titelseiten der Illustrierten.
James Cameron bezieht sich in seinem hochambitionierten Epos indirekt auf die Wiederentdeckung, wenn er seine fiktive Geschichte der Ereignisse mit einer Rahmenhandlung umgibt: Moderne Grabräuber dringen auf der Suche nach einem sagenhaften Diamanten "Herz des Ozeans" in den Todesdampfer ein, fördern stattdessen aber nur eine Aktzeichnung mit dem Schmuckstück ans Tageslicht. Da aber meldet sich eine schlohweiße Greisin mit der Behauptung, sie sei das Mädchen auf dem Bild: Rose DeWitt Bukater. Inmitten der Fundstücke erinnert sich die alte Frau jener vier Tage, die ihr Leben grundlegend veränderten: wie sie als 17jährige in Southampton zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Verlobten, dem Milliardärssohn Cal Hockley, die Gangway hochstieg, sich aus Überdruß und Verzweiflung über ihr versnobtes Dasein das Leben nehmen wollte, von einem jungen Maler namens Jack Dawson aber gerettet wurde und dessen unkonventionellen Avancen erlag. Mit ihr gleitet der Film 84 Jahre zurück in die euphorische Menschenmasse, die den Auslauf bejubelten, und taucht ein in die vibrierende Atmosphäre an Bord, in die spartanischen Unterkünfte der Dritten Klasse, wo bettelarme Emigranten der Zukunft entgegenfiebern, in die Salons und Suiten auf dem Oberdeck, wo das edwardianische Reglement jede Regung ins Korsett der Standesdünkel zwängte. Während in den Tiefen des Schiffes verrußte Heizer Kohle in die Feuerschlünde schaufeln und die ölglänzenden Maschinen immer schneller stampfen, spiegelt sich an Deck ein getreues Gesellschaftsbild der alten wie der neuen Welt wider: vornehme Langeweile und gediegene Konversation, hungrige Abenteuerlust und überschießende Erwartungen.
Der gebürtige Kanadier Cameron aber ist nicht nur ein Perfektionst, sondern auch ein durch und durch amerikanischer Regisseur, weshalb die schrankenübergreifende Liebesgeschichte zwischen dem Upper-Class-Mädchen und dem jungen Under-Dog das Kraftfeld seines gigantomanischen Opus bildet. Rose, von der robusten Kate Winslet wundervoll als schlummernder Vulkan gespielt, droht an der verbissenen Etikette ihrer Schicht zu ersticken, weiß aber bis auf kleine Fluchten in die Traumwelten der französischen Impressionisten keinen Ausweg. Als sie auf den Freigeist Jack trifft, der mit Leonardo DiCaprio zwar zielpublikumsgerecht, aber dennoch falsch, weil viel zu jung besetzt ist, spürt sie die Verheißung eines selbstbestimmten Lebens. Winslet vermag Roses plötzlicher Entscheidung, dieser Stimme des Herzens zu folgen, sogar den Anstrich von Plausibilität zu geben, obwohl es Cameron weniger darum zu tun ist, diese Wandlung auszuleuchten, als vielmehr die Magie der Anziehung in Szene zu setzen. Das aber tut er mit einer Intensität und Meisterschaft, die Rose und Jack in den Himmel der ewigen Liebespaare hebt. Vor allem Kate Winslet umspielt er als Botticelli-Venus und leiht dem verliebten Blick des Malers eine stupende Fülle an Anspielungen und Stimmungen, vor deren Hintergrund der irrwitzige, auf historische Hypergenauigkeit fixierte Aufwand verblaßt. Erst die Lektüre des Presseheftes offenbart die manische Akribie, mit der bis in kleinste Ausstattungsdetails hinein ein Fetisch um eine möglichst authentische Rekonstruktion des Schiffes und seiner Interieurs betrieben wurde. Den zweiten Riesenanteil des ominösen 300-Millionen-Mark-Budgets verschlang der Bau eines eigenen Studios in Mexiko, wo die Katastrophenszenen gedreht wurden.
Eingangs bereits war der Zuschauer mittels Computersimulation der Schatzsucher über die letzten wissenschaftlichen Erkenntnisse informiert worden, warum und wie der Ozeanriese innerhalb von zwei Stunden von der Wasseroberfläche versinken konnte. Dieser Kunstgriff erlaubt Cameron, sich ohne weitere Erklärungen ganz auf die spektakuläre Inszenierung zu stürzen, wie er auch die etwa in Herbert Selpins Version von 1943 ("Titanic", fd 620) strikt antisemitisch gewendete Schuldfrage nur am Rande streift: Bruce Ismay, der Besitzer der Reederei "White Star Line", macht dem Kapitän klar, daß er durch eine Rekordfahrt Schlagzeilen machen will. Trotz dieser geschickt strukturierten Erzählweise berühren der Untergang und die Tragödien, die sich dabei an Bord abspielten, am wenigsten. Das mag zum einen daran liegen, daß Camerons Aufmerksamkeit auch hier mehr dem Dreiecksdrama gilt, resultiert aber auch aus den Erschöpfungserscheinungen des Genres - und aus der an unvorstellbaren Katastrophen überreichen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zwar übergeht der bis in die Liebesszene politisch korrekte Film natürlich nicht die soziale Verteilung beim Sterben, wonach überproportional viele Reiche, aber nur wenige aus der Dritten Klasse überlebten, bekommt aber weder die Massenpanik noch das moralische Versagen derer in den Rettungsboten in Griff, die keinerlei Anstalten machten, Menschen aus dem Eiswasser zu fischen. Camerons Arbeit ist unabhängig von manchen Einschränkungen dennoch ein sehenswerter Film, weil er trotz seiner Länge keine Sekunde langweilt und durch seinen angenehm ruhigen Rhythmus eine Vielzahl von Themen anspielt. Mag der überzogene Historismus auch lächerlich und gerade in seiner Fixierung auf Details statt auf Schicksale sogar bedenklich sein, so rückt die ergreifende Liebesgeschichte alle Bedenken zurecht. Shakespeare hat schließlich auch niemand gefragt, ob er die geschichtlichen Aspekte zwischen Verona und Mantua exakt wiedergegeben habe. (Josef Lederle, film-dienst)

Als entstünde Kunst aus Erkältung. «Titanic» von James Cameron: Vom grandiosen Ertrinken.
Dass das königliche Schiff «Titanic», Eigentum der «White Star Line» des Reeders Bruce Ismay, am 14. April 1912 um 23 Uhr 40 einen Eisberg rammte und in mächtigem Todeskampf brach und sank; dass 712 Passagiere sich in 20 Rettungsboote retteten, 1495 Menschen aber im Eiswasser des Atlantiks ertranken und erfroren, nachdem das Licht ausgegangen und die Schiffskapelle (im Film interpretiert vom Berner Ensemble «I Salonisti») verstummt war, und wie dem Schreien die Stille folgte; dass das Heck hochaufgerichtet schwamm wie ein Korken, bevor das Meer es schluckte und mit ihm 2500 Flaschen Wein, 8000 Zigarren und die Ratten der unteren Decks; dass die ganze Tragödie sozusagen ein exemplarisches Lehrstück über die kapitalistische Art des nach Klassen geordneten Reisens, Sterbens und Gerettetwerdens war: Das alles nämlich ist beschriebene Geschichte und lässt sich als Drama auch nicht mehr ändern. Der Untergang der «Titanic» entzieht sich der Phantasie und der Dramaturgie des überraschenden Endes. Es hat ja auch kein Filmregisseur sich je im Ernst getraut, der Versuchung des «Was-wäre-wenn» zu erliegen und die Toten leben oder das Schiff effekthalber einmal nicht sinken zu lassen.
Immer war es die schwierigere Aufgabe, uns etwas zu erzählen, was wir schon wissen, und seit wir in diesem speziellen Fall nicht mehr zu befriedigen sind durch visuelle Andeutungen und die Zeichenhaftigkeit von Modellen, sondern einen Untergang erwarten, der mit der Wirklichkeit verwechselt werden kann, geht es nicht mehr ab ohne die Rekonstruktion einer minuziös ausgestatteten, zur Zerstörung in einem 64-Millionen- Liter-Bassin bestimmten «Titanic» im Massstab neun zu zehn. Derart ersäuft uns jetzt der Amerikaner James Cameron in der Grandiosität des Desaströsen. Es stimme, heisst es, einfach alles, auch das, was man gar nicht sieht.
Es dauert drei Stunden. Es vereinigen sich Virtualität und Realität, dampfender Kessel und stampfender Stahl, blühendes liebendes Leben und digitalisiertes Sonnenrot über generierten Delphinen in der künstlichen Buggischt zur Überwahrheit. Es hat einiges über 200 Millionen Dollar gekostet und wird sich rechnen, wie man jetzt schon weiss. Aber es ist, bei allem Respekt vor der normativen Kraft des Erfolgs und des Mythos, ein gewaltiger Schwarten und sich hinziehender Widerspruch zwischen der bildstarken Mächtigkeit und einer wirklich armseligen Standarddramatik.
Bei «Titanic» handelt es sich um einen jener Filme, die mit dem eindringlichen Hinweis darauf verkauft werden, wie die Schauspieler für die Authentizität tatsächlich gefroren hätten. Ganz so, als entstünde Kunst aus Erkältung. Sie entsteht aber doch wohl eher aus der Qualität von Geschichten, an denen das Herz sich wärmt, wenn einer schon sentimental wird. Und es gehört wirklich zu den seltsamen künstlerischen Ungerechtigkeiten, dass jemand die Fähigkeit hat, uns in schwebender Fahrt hineinzuziehen ins Dunkel eines Wracks und mit einem eleganten Türöffnen in den Glanz der Vergangenheit - soviel Talent zur folgenden Katastrophe und so wenig Begabung zur Dramatisierung von menschlichem Umgang.
Die Blutleere von «Titanic» ist geradezu quälend. Man will Cameron ja nicht einmal den etwas gewundenen Ansatz vorwerfen, einen amerikanischen Millionär (Bill Paxton) bei der Durchforschung des geborstenen Schiffs nach einem blauen Diamanten auf die Zeichnung eines nackten Mädchens stossen zu lassen, welche zwecks Rückblende eine wunderbar bewegliche hundertzweijährige Überlebende (Gloria Stuart) an die eigene Geschichte erinnert (die Zeit läuft jedem Regisseur davon, und solche Rüstigkeit soll vorkommen). Kolportage ist unser täglich Brot.
Aber dass die eine Liebesgeschichte von einem armen Künstler aus der dritten Klasse (Leonardo DiCaprio) und einem in Reichtum schmachtenden Mädchen (Kate Winslet) aus der ersten über das Riesenschiff in Glück und Tod gehetzt wird, durchwimmelt von nichts sonst als historischen Schemen, ohne wahre und erfundene Binnengeschichten, die aus dem Melodrama ein Epos machten, das drei Stunden verdient: so etwas in seiner grellen Kitschigkeit ist nur auszuhalten dank der Überflutung durch historisch exakte Wirkungsmittel. Vergleiche mit «Gone With The Wind» oder «Doctor Zhivago», das ist: mit ähnlich zeitaufwendigem Gefühlskino, sind durchaus nicht angebracht.
Am Ende ist auch diese «Titanic» untergegangen, grandios und überraschungslos, ein filmtechnisches Katastrophenwunder und poetisches Spekulationsobjekt. Dem sauberen Kalkül hat nur der menschliche Faktor gefehlt. Nämlich die biographische Leidenschaft oder ein anständiger Anlass, feuchte Augen zu bekommen. (Christoph Schneider, Neue Zürcher Zeitung, 9/1/1998)

Auf der Suche nach gesunkenen Schätzen findet Broke Lovett in einem Tresor der Titanic lediglich die Zeichnung einer jungen Frau, die einen überaus wertvollen Halsschmuck auf ihrem Dekolleté trägt. In der Fernsehübertragung identifiziert sich Rose DeWitt Bukater selbst und lässt es sich nicht nehmen, steinalt per Hubschrauber auf das Bergungsschiff einzufliegen und der Crew eine noch nie erzählte Liebesgeschichte zu offenbaren: Einst reiste sie 17-jährig mit ihrer Mutter Ruth auf der Jungfernfahrt der Titanic, um am Ziel der Schiffsreise ihren ebenfalls mit an Bord gekommenen Verlobten Cal Hockley zu heiraten. Den liebt sie zwar nun wirklich nicht, aber ihre zum Unwissen Dritter verarmte Mutter erhofft sich neuen Geldsegen durch den Millionenerben. Im Trubel der Verzweiflung will sich Rose von der Reling werfen, als sie der bettelarme Jack Dawson vom Zwischendeck auf andere Gedanken bringt. In der Tat entspinnt sich eine leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden jungen Menschen, die sowohl Mama, als auch Cal und sein treuer Kammerdiener Spicer Lovejoy mit wirklich allen Mitteln zu verhindern suchen. Selbst der Untergang des bis dahin größten beweglichen Objektes der Menschheitsgeschichte kann weder die Liebe noch die Feindseligkeiten Cals und Spicers stoppen...
Wer ehrlich ist, wird sich eingestehen, dass sie nur in Titanic geht, um mit der mittlerweile achten Verfilmung des größten Desasters der Geschichte im bisher teuersten Film aller Zeiten atemberaubende Tricktechnik der Superlative vorgesetzt zu bekommen. Der Untergang dauert denn auch grandiose 45 Minuten Filmzeit an (und nicht die doppelte Länge, wie im Vorfeld fälschlich berichtet wurde), nur wird hinterher die eine oder der andere, reichlich an die Nieren gegangen, diese Motivation hinterfragen, packt einen 86 Jahre später nach wie vor das Grausen in Anbetracht des Schicksals von über 1500 Menschen, die den Tod fanden.
Verpackt wurde das Spezialeffekte-Spektakel in eine Liebesgeschichte mit den zugkräftigen Jungstars Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, eine angenehme Abwechslung zu den dutzenden kleineren Charakteren vergangener Verfilmungen. Die Liebesgeschichte ist sehr konventionell, wenn auch dramatisch erzählt, würde aber wohl lange nicht derart viele ZuschauerInnen hinter dem Ofen hervorlocken, käme es nicht zum tragischen Finale. Die dreieinviertel Stunden vergehen tatsächlich ohne Längen, dies sollte fast schon Leistung genug sein, auch wenn die Beziehung zwischen Rose und Jack erst mit dem Einsetzen der Tragödie wirklich fesselt. Leider erzählt Cameron, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, seine Geschichte aus der Rückblicksperspektive. Somit ist der Film nicht nur eine unnötige gute halbe Stunde länger, sondern nimmt dem Geschehen einen Teil seiner Spannung, schließlich wissen wir bereits, wer die Katastrophe auf alle Fälle überlebt und bangen mit Rose nicht sonderlich mit. Cameron bewegt sich mit der in der heutigen Zeit spielenden Geschichte in der gefährlichen Nähe eines Drehbuchloches, denn so richtig plausibel ist es nicht, warum die über 100-Jährige Rose überhaupt eingeflogen kommt. Naja, ältere Damen sind manchmal eben für jede neue ZuhörerInnenschaft alter Geschichten dankbar. Aber ausgerechnet diese hatte sie bisher niemandem erzählt.
Ansonsten erliegt Titanic leider der Versuchung, sich in aus heutiger Sicht witzigen Ansichten (z. B. über einen damals noch unbekannten Picasso) und endlosen, dem Publikum wohl schwerlich unbekannten Fakten über das Schiff als Vorausahnung zu ergießen, sowie einigen Platituden. ("Das Herz einer Frau ist ein Ozean mit tiefen Geheimnissen.")
Titanic entspricht seinem Budget nach nicht einem Film, nach dem gefragt wird, wann frau ihn gesehen hat (wie bei Independence Day), sondern eben nur, ob. Aber seine Kosten wird der Untergangs-Epos wohl ohne größere Schwierigkeiten wieder einspielen. (queerview)

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NIX ZU VERLIEREN (NOTHING TO LOSE)

USA 1996. 98 Min
Regie: Steve Oedekerk, Buch: Steve Oedekerk, Musik: Robert Folk, Kamera: Donald E. Thorin, Schnitt: Malcolm Campbell, Darsteller: Tim Robbins (Nick Beam), Martin Lawrence (Terence "T." Paul), John C. McGinley (Davis "Rig" Lanlow), Giancarlo Esposito (Charlie Dunt), Kelly Preston (Ann Beam), Michael McKean (Philip Barrow)
Kinostart: 9/1/1998

Für den erfolgreichen jungen Werbemanager Nick Beam sieht alles nach einem Tag wie jeder andere aus. Er diskutiert neue Werbekonzepte, redet mit seinem Chef Philip Barrow über dessen monströs-phallisches Lieblingskunstwerk und telefoniert mit Ehefrau Ann. Nick, der sich stark über seine Ehe definiert, will sie mit einem Blumenstrauß überraschen - und wird Zeuge, wie sich die geliebte Frau mit einem anderen Mann im häuslichen Doppelbett vergnügt. Die Identität ihres Liebhabers glaubt er durch verräterische Manschettenknöpfe mit den Initialen seines Vorgesetzten enthüllt. Beides nur scheinbar, wie auch dem Zuschauer nicht verborgen bleibt: zu offensichtlich zeigt die Kamera nur den Rücken der vermeintlichen Ehebrecherin, und zu deutlich ist Anns vorangegangener telefonischer Hinweis auf ihre Nick noch unbekannte Schwester, die mit ihrem Geliebten anreisen soll, als daß man nicht eins und eins zusammenzählt. Das ist indes keine Stümperei des Regisseurs, sondern Teil seiner raffinierten Erzählstrategie. Nicht nur, daß er ein amüsantes Spiel mit Sein und Schein treibt, denn kaum jemand ist tatsächlich so, wie man ihn auf den ersten Blick einschätzt. Vor allem aber erhalten Nicks extreme Reaktionen auf den vermeintlichen Ehebruch durch den Informationsvorsprung des Zuschauers den Beigeschmack des Wahnwitzigen, weil die daraus resultierenden Aktionen letztlich vollkommen ohne Grund sind. Nick hingegen glaubt, nichts mehr zu verlieren zu haben, und handelt auch so. Das erfährt der schwarze Staßenräuber Terence Paul, der sich in Rappermanier T. nennt, als er mit geladener Pistole zu Nick ins Auto steigt. Der Bedrohte drückt so selbstmörderisch aufs Gaspedal, daß T. um sein Leben fürchten muß. Sie landen in einem abgelegenen Rastplatz-Diner, wo T. hinter Nicks vorgebliche Beziehungskatastrophe kommt. Seine großmäuligen Sprüche und seine Kleinkriminalität bringen Nick auf die Idee, den Firmentresor auszurauben und sich dabei an seinem Chef zu rächen. Der Zusammenstoß mit den flüchtigen Zuchthäuslern Davis und Charlie, die nicht dulden können, daß jemand eine längere Knarre als sie auf dem Highway spazieren fährt, bestärkt Nick noch in seinem neuen Lebensgefühl. Bei der Durchführung seines Plans kommt T. Nick zu Hilfe, indem er die Laserstrahlen des Sicherheitssystems für fünf Minuten außer Kraft setzt. Die symbolische Kastration macht Nicks Rache an Philip Barrow perfekt: Mit einem Samurai-Schwert hackt er den Angeberphallus von dessen Lieblingskunstwerk ab. Berauscht von diesem Befreiungsschlag vergißt er alle Vorsichtsmaßnahmen und nimmt vor der Überwachungskamera seine Maske ab. Das wird ihm zum Verhängnis, als Ann ihm in einem Telefongespräch schlagartig den wahren Sachverhalt klar macht. Nur für einen Moment scheint Nicks Welt wieder in Ordnung, tatsächlich aber hat die Handlung eine Wende um 180 Grad gemacht, denn der Moment von Nicks größtem Triumph offenbart sich nun als Beginn seiner wahren Schwierigkeiten. Jetzt hat er nicht mehr "nix zu verlieren", es alles steht auf dem Spiel.
Steve Oedekerk reißt den Zuschauer damit aus der amüsiert-distanzierten Beobachterposition, nimmt ihm jeden Wissensvorsprung und läßt ihn mitfiebern. Gleichzeitig schlägt die temporeiche Komödie plötzlich ernste Töne an. Es geht nicht mehr wie im Slapstick-Wettkampf einer vorhergehenden Sequenz um zehn Dollar und eine Kreditkarte, sondern für beide Männer hängt ihre Existenz an dem geraubten Geld. "Nix zu verlieren" ist ein "Buddy Movie", das funktioniert, weil es nicht nur zwei physisch wie charakterlich völlig unterschiedliche Männer aufeinanderprallen läßt, sondern auch, weil es beide Hauptfiguren gleich wichtig nimmt. Obwohl Nicks Fallhöhe wesentlich größer ist, verwendet der Film Mühe und Zeit auf die Charakterisierung von T. Paul, anstatt ihn auf seine bloße dramaturgische Bedeutung für den Fortgang der Handlung zu reduzieren. Martin Lawrence spielt auf den ersten Blick den schwarzen Underdog als Eddie-Murphy-Verschnitt, darf dann aber größere Komplexität als liebevoller Ehemann sowie als ingeniöser Akademiker entfalten, der auf Grund seiner Hautfarbe bislang nur Absagen auf seine Bewerbungen erhalten hat. Hinzu kommt, daß die gegenseitige Sympathie der Hauptfiguren für den Zuschauer deutlich zu spüren ist. Für Drehbuchseminare wäre "Nix zu verlieren" ein ideales Demonstrationsobjekt. Nicht nur, daß der Film die Figuren geschickt durch ihre Aktionen charakterisiert, er versteht es geschickt, mit großen und kleinen Plotpoints sowie ständigen Twists innerhalb der Sequenzen zu wuchern. Höchst unterhaltsam operiert er mit Parallelszenen und Cliffhanger-Situationen, variiert Standardszenen wie der Leidenschaftausbruch im Fahrstuhl und demonstriert seine Vorliebe für einen witzigen Umgang mit Musik sowie für Bildkomik. (Ursula Vossen, film-dienst)

Nick Beame (Tim Robbins, Hudsucker) ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der alles hat, was man sich wünschen kann: einen guten Job und einen glückliche Ehe. Seine Welt bricht zusammen als er eines Tages früher als erwartet nach Hause kommt und auf dem Küchentisch die Manschettenknöpfe seines Chefs Phillip Barrow (Michael McKean) findet und er eindeutige Stöhngeräusche aus dem Ehebett vernimmt. Ohne einen Kommentar verlässt er das Haus und fährt kopflos durch die Stadt. Nick fährt über rote Ampeln und Stopschilder und merkt daher auch nicht, daß plötzlich eine weitere Person im Auto ist, die ihn um sein Geld erleichtern will.
Aber dieser Straßenräuber T. Paul (Martin Lawrence, Do the Right Thing) hat sich den falschen Mann am falschen Tag ausgesucht, denn der hat nix zu verlieren. Statt einfach das Bargeld rauszurücken sperrt der gefrustete Ehemann seinen Wagen per Zentralverriegelung ab und düst trotz vorhehaltener Waffe quer durch die Stadt - und hält erst an einer Tankstalle in der Wüste Arizonas wieder an. Mit der Zeit freundet sich das ungleiche Paar an und kommt, zum einen aus Geldnot zum anderen aus Rachegedanken, auf die Idee, Nicks Chef den Tresor auszuräumen, in dem sich eine große Menge Geld befindet. Also zurück in die Stadt und ran an den Speck!
In "Nix zu Verlieren" zeigen sich Tim Robbins und Martin Lawrence von ihrer besten komödiantischen Seite. Auch wenn ich zugeben muß, daß der Film, vor allem die Rahmenhandlung auf die sich die Konfrontation der beiden Haupffiguren stützt, recht belanglos ist, so ist es doch Kino mit sehr hohem Spaß-Faktor. Besonders sehenswert sind die Tanzeinlagen von "Scatman" Robbins und dem Regisseur Steve Oedekerk als tanzendem Wachmann. Schade nur, daß der Film irgendwann aufhört und zum Schluß auch recht gewöhnlich wird. (heinz online)

Nick Beam (Tim Robbins), ein netter, erfolgreicher, glücklicher Geschäftsmann will seine Frau (Kelly Preston) mit einem frühen Feierabend überraschen. Doch seine Überraschung wird zum Schock, als er im Schlafzimmer einen fremden Mann stöhnen hört. Völlig geknickt schleicht sich Nick aus der Wohnung, fährt ziellos durch die Stadt. An einer Ampel nutzt ein Räuber (Martin Lawrence) die Unachtsamkeit, setzt sich mit vorgehaltener Waffe auf den Beifahrersitz. Doch Nick lächelt nur gequält und meint: "Mann, du hast dir den Falschen ausgesucht!"
Allein der Blick von Tim Robbins in dieser Situation zeigt all sein komödiantisches Vermögen. Ab da drückt er aufs Gas und der Spaß geht los: Nick hat "Nix zu verlieren". Mit der nötigsten psychologischen Ausstattung stürzen sich die beiden Figuren in ein rasantes Abenteuer. Nach einer Achterbahnfahrt des lebensmüden Nick landen beide in der Wüste und sind aufeinander angewiesen. Der kleine Gauner T-Paul erhält vom rachsüchtigen Geschäftsmann Nachhilfe in Sachen "ganz großes Ding". Beim ersten gemeinsamen Auftritt diskutieren die freundlichen Diebe mit dem beraubten Ladeninhaber, wer denn der beeindruckendere Gangster ist. Etwas schwarz-weiße Sozialromantik gesellt sich zur Komödie und zwei wirklich miese Schurken (Giancarlo Esposito, John C McGinley) sorgen für Spannung.
Zwischendurch legt Regisseur und Autor Oedekerk als tanzender Wachmann selbst eine flotte Lachnummer aufs streng gesicherte Parkett. Noch einige urkomische Situationen, rasante, aberwitzige Texte und zwei exzellente Darsteller: Bei dieser Komödie kann man nicht verlieren. Eigentlich schade, daß sich die Geschichte irgendwann auflöst, gerne hätte ich die Albernheiten der beiden Kerle weiterverfolgt. Der Rahmen ist sowieso ein Hohn. Die Täuschung, auf die der ganze Humortrip aufbaut, ist so miserabel angelegt, daß man sie besser sofort vergißt. (Günter H. Jekubzik, film-tabs)

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