Filmhaus Hasnerstraße - Filmkultur in Ottakring



In Österreich am 1. Mai 1998 neu angelaufene Kinofilme


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TANGO LESSON (TANGO LESSON)

GB 1997. 102 Min
Regie: Sally Potter, Buch: Sally Potter, Musik: Fred Frith, Sally Potter, Kamera: Robby Müller, Schnitt: Hervé Schneid, Darsteller: Sally Potter (Sally), Pablo Veron (Pablo), Gustavo Naveira (Gustavo), Fabian Salas (Fabian), Carlos Copello (Carlos), Carolina Iotti (Pablos Partnerin), Zobeida, Orazio Massaro, Anne Fassio, Guillaume Gallienne, Michael Andre, Flaminio Corcos, Peter Eyre, Morgane Maugran, Geraldine Maillet, Katerina Mechera, David Toole, George Yiasoumi, Howard Lee, David Derman, Oscar Dante Lorenzo, Omar Vega
Kinostart: 1/5/1998

Die Filmemacherin Sally (Sally Porter) fährt nach Argentinien, um den Tango kennenzulernen. Dabei lernt sie den Top-Tänzer Pablo (Pablo Veron) kennen und lieben. Sie vereinbaren, daß sie von ihm Tanzen lernt und ihn dafür zu einem Filmstar macht. Da das Tanzen zuerst an der Reihe ist, verläuft ihre Beziehung zunächst im gewohnten Mann-Frau-Verhältnis, in dem er der Stärkere und Führende ist. Doch durch die darauffolgende Schauspielerausbildung muß er sich ihr unterodnen, was seinem südamerikanischen Temparement nicht entspricht.
Sally Porter zeigt einen teilweise autobiographischen/dokumentarischen Film, der sehr schön den gefühlvollen Tango-Tanz sowie die Beziehung zwischen Mann und Frau zeigt. (film.de)

Die englische Filmregisseurin Sally Potter trifft in Paris den argentinischen Tangotänzer Pablo Veron und nimmt bei ihm Unterricht, um einen Film zu drehen. Ihre Recherche über Tango ist kein Materialsammeln, sondern die Selbsterfahrung. Wo endet das autobiographische Moment und wo beginnt die Fiktion? Sally Potter, ausgebildete Tänzerin und Choreographin, erarbeitete sich mit dem Film "Orlando" jenen Erfolg, der Projekte wie dieses zuließ. Gegliedert in 12 Tanzlektionen vollzieht Potter eine künstlerische und persönliche Beziehung nach, die über gegenseitiges "Führenwollen" hinauswächst. Ein Film nicht nur über Tango, sondern über das Wesen des Tanzes und der Liebe.

Eine englische Filmregisseurin und ein argentinischer Tangotänzer verlieben sich und treffen ein Abkommen: Er lehrt sie tanzen, sie macht aus ihm einen Filmstar. Die Erfüllung dieses Abkommens führt zu Differenzen, und beide müssen lernen, ihre Rollen als Mann und Frau zu sprengen, damit ihre Liebe Bestand hat. Sally Potters formal ungewöhnlicher, innovativer Film schildert in dichten Metaphern den Prozeß einer Auseinandersetzung zwischen zwei Individuen jüdischer Herkunft und reflektiert tiefgründig über Liebe, Tanz, Film und die menschliche Existenz. (Zoom, 9/97)

(...) Es gibt in diesem Film ein paar Reflexionen über die Kunst oder darüber, wer in einer Partnerschaft führt und wer geführt wird bzw. führen darf und sich führen lassen muß. Dazu einige wunderschöne Regieeinfälle wie etwa jener, in der Jakobs Kampf mit dem Engel nachgestellt wird. Ansonsten aber dominieren schier endlose Tanzgotänze. Goutieren wird den Film also nur, wer ebenfalls dem Tango verfallen ist oder wer Sally Potters sehr subjektiv empfundene dialektische oder künstlerische Vorlieben teilt. (Thomas Engel, Der Gildendienst, 9/97)

Sally Potter spielt die Filmemacherin Sally, die sich in den Tangotänzer Pablo verliebt und seine Schülerin wird. In der turbulenten Beziehung der beiden besessenen Künstler treffen auch die Kunstformen Kino und Tanz aufeinander. Ein Film zwischen Selbstironie und Poesie, der auch die spannende Frage nach der Sublimierung der Liebe in der Kunst stellt. (ID, tip, 21/97)

Die Regisseurin Sally schließt mit dem Tangotänzer Pablo einen Pakt: Er soll ihr das professionelle Tangotanzen beibringen, dann macht sie einen Filmstar aus ihm. Doch plötzlich dominiert Gefühl statt Geschäft, tanzen auch die Hormone Tango. Die Probleme beginnen. Bei der Britin Sally Potter, die auch die Hauptrolle spielt, wird der Tango und seine innere Welt zur Metapher für Zusammenprall und Gleichklang der Geschlechter. Ein verführerisches Gesamtkunstwerk für Seele und Sinne. (M.K.)

(...) In Zeiten lärmender Katastrophenfilme erscheint "Tango Lesson" wie ein verwunschener Zaubergarten der fast vergessenen Zwischentöne. Es geschieht so etwas wie ein Wunder: Intelligenz und Intuition gehen eine verführerische Allianz ein. (Margret Köhler, AZ, 9.10.97)

Im Mittelpunkt steht die Filmemacherin Sally. Während sie mit Unterbrechungen an einem Drehbuch für Hollywood schreibt, das ihr immer weniger gefällt, entdeckt sie den Tango. Sie nimmt Unterricht bei Pablo, einem argentinischen Tangotänzer. Im Laufe der Tanzstunden verlieben sie sich ineinander und schließen einen Handel ab: Wenn er eine Tangotänzerin aus ihr macht, wird sie einen Filmstar aus ihm machen. Sein Teil des Handels ist erfüllt, als sie gemeinsam in einer Show auftreten. Doch ihr Versuch, in Buenos Aires einen Film mit Pablo zu drehen, enthüllt die komplexe Struktur ihrer Beziehung und der Geschichte: wie kannst du dich führen lassen, wenn dein Instinkt will, daß du führst? (Verleihprogramm)

Eine Filmregisseurin und ein Tango-Star verabreden einen Handel: Er bringt ihr das Tanzen bei, sie macht ihn zum Filmstar. Daß der Mann den Rollenwechsel vom Führen zu Geführtwerden akzeptiert, macht ihre Liebesbeziehung erst möglich. Ein ambitionierter Tanz- und Musikfilm mit herausragenden Tanzszenen. Statt sich auf diese Qualität zu konzentrieren, überfrachtet die Regisseurin jedoch ihr Werk mit philosophischen Aspekten und gerät zudem häufig in die Nähe zum Kitsch.
Wie sonst nur der Flamenco vermag der Tango als Tanz, Musik oder Lied, disparaten Gefühlen wie Traurigkeit und Leidenschaft, Einsamkeit und Erotik Ausdruck zu geben. Das haben sich so unterschiedliche Filme wie Rex Ingrams "Die vier apokalyptischen Reiter" (1920/21) mit dem Urahn des Latin Lovers Valentino, "Süden (Sur)" und "Tangos" (1985) von Fernando E. Solanas und jüngst "Happy Together" von Wong Kar-wai zunutze gemacht. In Sally Potters "Tango Lesson" gleicht manche jener Tanzszenen, die Robby Müller mit viel Gefühl für den Ganzkörpereinsatz beim Tango fotografiert, sogar einem Liebesakt, so sehr verschlingen sich Füße und Beine in atemberaubenden Schrittkombinationen ineinander. Um diesen argentinischen Nationaltanz strickt Sally Potter die Geschichte ihres Alter egos Sally, von Beruf ebenfalls Drehbuchautorin und Filmemacherin. Diese Sally nimmt Tanzstunden bei Pablo Veron - gespielt vom gleichnamigen Tangostar - , die, mal im engeren Sinn als Übungseinheiten, mal im weiteren Sinn als neue Erfahrungen verstanden, den Film formal strukturieren. Zuerst finden Sally und Pablo als Tanzpartner, dann als Liebespaar zueinander, bis das Privat-Amouröse und das Beruflich-Kreative nicht mehr voneinander zu trennen sind. Für Sally ist dies die ideale Arbeitsbedingung, für Pablo ein Trennungsgrund.
Ihre Faszination für den Tango läßt Sally ihr Drehbuch über einen Pariser Modeschöpfer ohne Unterleib und die mysteriösen Morde an drei Mannequins vernachlässigen. In knalligen Farbtönen dringen ihre visualisierten Vorstellungen dieser Geschichte schockartig in die stimmungsvoll in Schwarz-weiß gefilmte Tangowelt ein. Und obwohl man gerne mehr über diesen Plot erfahren würde, gerät er nach dem ersten Filmdrittel (und dem Veto eines Produzenten) in Vergessenheit. Stattdessen gibt sich Sally ganz dem Tango hin und schlägt Pablo einen Handel vor: Er macht eine Tangotänzerin aus ihr und sie ihn im Gegenzug mit der Hauptrolle in ihrem nächsten Film zum Leinwandstar. Und wen würde es wundern, wenn dieses Werk, dessen Vorbereitungen zwischen Buenos Aires und Paris als Work-in-progress gezeigt werden, am Ende genauso aussähe wie "Tango Lesson"?
Die Höhepunkte des Films sind zweifelsohne die Tanzszenen. Die musikalische Begleitung hat Sally Potter mit viel Sachverstand ausgewählt, ohne sich ausschließlich auf die großen Tangointerpreten wie Piazzola und Pugliese zu beschränken. "Tango Lesson" präsentiert den Tango sowohl als Kunst- als auch als Lebensform. So wirbt Pablo um Sally mit einem furiosen Solo am nächtlichen Seine-Ufer, und im strömenden Regen gleiten sie in so unpassender Kleidung wie Jeans und schweren Stiefeln auf den Straßen von Buenos Aires daher. Unvergeßlich, wie Pablo das Zubereiten eines Salats zur schmissigen Revue-Nummer mit Steptanzeinlage auf dem Kaminsims à la Fred Astaire wird. Dabei setzt die Regisseurin den Tango, der nach einem Wort von Jorge Luis Borges Fest und Kampf zugleich ist, als Sinnbild für die Geschlechterproblematik in Szene, um die auch ihr vorangegangener Film "Orlando" (fd 30 023) kreiste: Der Mann führt, die Frau hat zu folgen. In ihrer Machtposition als Regisseurin dreht Sally - nicht frei von Revanchismus - den Spieß um. Erst als Pablo in der Lage ist, diese für ihn völlig neue Rolle zu akzeptieren, kann "Tango Lesson" auf das Happy-End zusteuern.
Die autobiografischen Bezüge liegen auf der Hand, zumal die attraktive Endvierzigerin Potter ihre Sally mit einer eigentümlichen Mischung aus Sanft- und Bestimmtheit selbst spielt. Der Film ist nicht zuletzt eine beeindruckende Leistungsschau dieses als Tänzerin und Choreografin ausgebildeten Multitalents, das auch noch als Autorin, Sängerin, Texterin und Komponistin reüssiert. Falsche Bescheidenheit ist dabei nicht Potters Sache; immer wieder inszeniert sie die Aura der Sally in Großaufnahmen. Dies wird man ihr genauso vorwerfen können wie man es bei Barbra Streisand, Clint Eastwood oder Mel Gibson merkwürdigerweise nicht tut. Die Schwäche von "Tango Lesson" ist, daß der Film mehr sein will als ein überdurchschnittlicher Tanzfilm und so zum "Dirty Dancing" für Intellektuelle gerät. Denn der Mythos eines deterministischen Füreinanderbestimmtseins wird mittels Martin Bubers dialogischem "Ich und du"-Prinzip philosophisch überhöht. Erschwerend kommt hinzu, daß Sally und Pablo ihre empfundene Wurzellosigkeit auf ihre jüdische Identität zurückführen. Nach dem Besuch einer Synagoge läßt Potter sie in einer Hochzeitsfantasie ganz in Weiß einander Heimat werden. Während sie das Aufgehen des einen im anderen tänzerisch besiegeln, preist die Regisseurin das auch noch musikalisch auf dem Niveau von Schlagertexten. Vielleicht sollte man zufrieden sein, daß nach Filmen wie "Breaking the Waves" und "Lea" eine filmische Erlösungsfantasie einmal nicht auf Kosten (und Leben) der Frau geht, sondern auf Gegenseitigkeit beruht. Dennoch scheitert der ambitionierte Film daran, daß er zu viel auf einmal will. "Finde deine Achse", lautet Pablos erste Unterrichtslektion für seine Schülerin. Schade, daß Sally Potter diesen Ratschlag nicht beherzigt hat. (Ursula Vossen, film-dienst) The Tango Lesson» - eine Lektion fürs Leben? Metapher und Musical: Sally Potter über ihren Tanzfilm
Was fasziniert die Engländerin Sally Potter besonders am Tango?
Zum Scherz habe ich einmal auf ein Stück Papier geschrieben: Wenn Tango die Antwort ist, was ist dann die Frage? Tango ist eine Metapher. Was von aussen betrachtet eine Tango-Stunde ist, ist in Wirklichkeit eine Lektion fürs Leben. Als Filmthema ist Tango ein komplexer, komplizierter, mit vielen Bedeutungen aufgeladener Tanz, eigentlich mehr als nur ein Tanz. Ein Rahmen, in dem zwei Personen zu einer einzigen verschmelzen können. Der Tango ist im Kern universell, aber seine Sprache kommt aus der argentinischen Kultur. Pablo und ich sind dafür das beste Beispiel. Pablo ist Argentinier und lebt in Paris, und ich bin Engländerin und bin überall zu Hause, wohin mich der Film führt. Wir sprechen Französisch, aber unsere wirkliche Sprache ist die Sprache des Tanzes.
Der Mann geht vorwärts, die Frau rückwärts. Die Geschlechterrollen sind eindeutig verteilt. Geht es um Geschlechterkampf?
In Argentinien führt immer der Mann, in Europa und in Nordamerika lernen viele Frauen zu führen. Es ist eine Rolle; es ist nicht in den Tango eingeschrieben, dass der Mann führt, die Frau folgt. Aber auch innerhalb dieser Rollenverteilung ist es ein Dialog, eine Zusammenarbeit, 50:50, kein Zwang. Im Film geht es um die Dynamik, die daraus entsteht. Im Tanz führt der Mann mich, ich ergebe mich seiner Umarmung; aber im Film, der den Tanz enthält, führe ich ihn, gibt er sich mir hin. Da findet ein Austausch statt, es irritiert, dass er als Mann das Objekt meines Blickes ist. Das widerspricht immer noch unseren Sehgewohnheiten. Als eine Filmregisseurin, die daran gewöhnt ist zu führen, war es ein grosser Luxus für mich, im Tango zu folgen; es war sehr entspannend, mich einem anderen kreativen Impuls hinzugeben.
Sie haben zwei Jahre vor den Dreharbeiten angefangen, Tango zu tanzen. Wie war das, für eine gelernte Tänzerin, nach so vielen Jahren zum Tanz zurückzukehren?
Es brachte Glück und Schmerz zugleich. Das Glück bestand darin, meinen Körper wiederzuentdecken. Als Filmregisseurin wird man sehr einsam und sehr vergeistigt. Die Arbeit besteht darin, dass man die Vorstellung eines Films sehr lange im Kopf herumträgt, bevor er wirklich existiert. Man wird geradezu entmaterialisiert. Deshalb war es eine wunderbare Erfahrung, zu meinem Körper zurückzukehren, eine unschuldige, freudvolle Erfahrung. Der Schmerz kommt von der körperlichen Beschränkung. Wenn man Tanz ernst nimmt, wie ein Instrument, ist man sehr bald an der Stelle, wo es nicht mehr geht. Man versucht dann, die Grenzen auszudehnen, und das bringt körperlichen Schmerz. Und dann gibt es eine Art emotionalen Schmerz über die Unfähigkeit, zur Perfektion zu gelangen. Jeder Performer kennt das Gefühl der Enttäuschung nach dem Auftritt. Das gilt auch für eine Regisseurin.
Ist die Sally im Film identisch mit Sally Potter?
Film ist unwirklich, das ist seine Natur, das ist seine Schönheit. Es ist eine illusionäre Welt von Licht und Schatten. Wir benutzen sehr künstliche Mittel, um die Realität zu beschwören. Wenn ich diese Person auf der Leinwand sehe, mich selbst, ist das nicht die Person, die ich kenne, sondern jemand, der verschiedene Anteile von mir hat, die ich benutzt habe, um diese Geschichte zu erzählen. Ich habe mich rücksichtslos selbst benutzt, als Material. Das war die Natur des Projekts.
Sie zitieren Martin Buber, aber mir erscheint noch wichtiger, dass Sie sich beide als Juden offenbaren, dass Sie ein jüdisches Paar sind.
Ja, es ist mir sehr wichtig. Ich sage im Film, dass ich mich als Jüdin fühle. Und am Ende des Films fragt er, was es eigentlich heisst, sich als Jude zu fühlen. Er sagt, dass er sich weder in der Synagoge noch in Argentinien, noch in Frankreich zu Hause fühle. Es geht um Menschen, die sich nicht zu Hause fühlen in der Identität, die sie erhalten haben, die sich in einer Art selbstauferlegtem Exil aufhalten. Ich glaube, dass das einen Teil der jüdischen Identität ausmacht. Es geht nicht um Religion, sondern um den Nomaden, um den ewig wandernden Juden, den ewigen Frager. Ich bin nicht in einer jüdischen Familie aufgewachsen, aber Martin Bubers Buch «Ich und Du» war mein Lieblingsbuch, als ich sechzehn Jahre alt war. Es gab etwas im jüdischen Mystizismus, mit dem ich mich völlig identifizieren konnte. Das hatte für mich auch sehr viel mit Tango zu tun. Der Zusammenhalt von «Ich und Du» als etwas Grundsätzliches.
Warum haben Sie sich für diese Art von Tango- Musik entschieden, für Tango ohne Gesang? Ist das nicht ein sehr intellektueller Tango?
Finde ich nicht. Für mich ist der Gesang beim Tango nicht das Wichtigste. Es ist nur ein Aspekt der Tango-Musik. Das ist so, als wenn man sagt, dass Oper wichtiger sei als konzertante Musik. Mir gefallen die kleinen konzertanten Tango- Gruppen. Das ist für mich sehr komplex, sehr anregend und sehr aufregend. Ich konnte einfach nicht alle Aspekte des Tangos zeigen, ich musste mich entscheiden. Ich habe mich für den passenden Tango fürs Kino entschieden.
Wie fühlt sich das an, sich selbst auf der Leinwand zu sehen?
Furchtbar. Ich bekam einen riesigen Schock, als ich mich zum erstenmal auf der Leinwand gesehen habe. Ich musste die Vorstellung aufgeben, dass ich mich mit meinem eigenen Bild wohl fühlen könne. Es hat mich sehr beruhigt, als ich las, dass Martin Scorsese vor seinen Auftritten auf der Leinwand Angst hat. Das scheint vielen Regisseuren so zu gehen, auch vielen Schauspielerinnen. Sie sehen sich keine Muster an, sie halten es nicht aus, sich selbst zu sehen. Es ist ein bisschen paradox. Aber ich spiele gern, ich gebe gern, es ist eine Verkörperung. Mir war auch klar, dass man mir vielleicht Eitelkeit vorwirft. Aber ich versichere Ihnen, dass die Filmerfahrung das genaue Gegenteil von Eitelkeit war. Es war eher so, als ob ich die Schwachstellen meiner eigenen Existenz ausstelle, dass dadurch etwas entstehen würde, mit dem sich andere Menschen identifizieren können. Es war ein Risiko. Und manche Kritiker werfen mir das jetzt auch vor.
Marli Feldvoss führte das Gespräch anlässlich der Uraufführung des Films am Festival von Venedig. (NZZ)

Hier ist kein schmutziger Gedanke
Wenn man dem Argentinier Jorge Luis Borges Glauben schenken möchte, dann stimmen alle Quellen über den Ursprung des Tangos zumindest in zwei Punkten überein: in seiner Herkunft aus den Bordellen und in seiner Schamlosigkeit. Aber Sally Potters Film beginnt vor einem blütenweissen Blatt Papier in der dünnen Luft der Gedankenwelt einer Autorin beim Schreiben - in der Leere, aus der Fülle entstehen soll. Blitzlichter in Farbe, Drehbuchideen für einen Film, der im Pariser Modemilieu spielt, hoheitsvoll schreitende Models in Blau, Gelb, Rot, ein Schuss, ein Sturz, ein anderer Film, der nicht gedreht wird. Diese Rahmenhandlung ist ein effektvoller Auftakt, um die Protagonistin bei der Arbeit vorzustellen, eine Filmregisseurin, die zu einer Tanzschülerin wird und dann wieder, ihr eigenes Spiel mit Rollenwechsel und Geschlechterantagonismen reflektierend, zu ihrer Rolle als Regisseurin eben dieses Tango-Films zurückkehren wird.
Mit ihren zwölf Lektionen in Tango, dem narrativen Stützkorsett des Films, will Sally Potter mehr als nur eine Liebesgeschichte zwischen einer Engländerin und einem Argentinier an den Originalschauplätzen Paris und Buenos Aires erzählen, auch mehr als einen Tanzfilm auf die durchtrainierten Beine stellen: Sie zielt auf das Exemplarische einer Geschlechterbegegnung zwischen den Kulturen, sogar auf das Lebensgefühl einer jüdischen Weltverlorenheit. Ein anspruchsvolles Programm. Die Herausforderung des Tangos, die stets sichtbare Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau, zwischen Führen und Folgen, ist und bleibt aber der rote Faden des hervorragend photographierten Schwarzweissfilms (Kamera: Robby Müller ), der seinen Werkstattcharakter nur behauptet, der keinen Unfall, keinen wirklichen Schmerz zeigt (ausser den kleinmädchenhaften Weinkrämpfen seiner Protagonistin), der Licht und Schatten des Mediums in hoher Künstlichkeit kultiviert und ganz in den Dienst des nokturn ausgeleuchteten Tangos stellt.
Letztlich also doch kein Lehrstück für «gender studies», sondern ein spektakulärerer Tango- Film, der seine Spannung aus der Virtuosität der Tänze, der Schönheit seiner Protagonisten und der fliessenden Choreographie Pablo Verons an berückenden Schauplätzen bezieht. Die aus den verschiedensten Epochen zusammengestellte Tango-Musik bleibt zwar Stichwortgeber, aber nur in wenigen Augenblicken gelingt es, der Klammer der Perfektion zu entkommen - die selbst Jakobs Kampf mit dem Engel, inspiriert durch und getanzt vor Delacroix' Gemälde, zur Pose erstarren lässt - und zur Essenz des Tangos vorzudringen: zum traurigen Gedanken, den man tanzen kann, in vieler Hinsicht auch ein schmutziger, ein elender Gedanke. Deshalb bleibt Sally Potters Film durchaus der Tradition des Musicals verhaftet, das von artifiziellen Traumbildern lebt, von Fluchtstrategie, aber eben auch vom altmodischen Trost durch Schönheit. (Marli Feldvoss, Neue Zürcher Zeitung, 26/9/1997)

Sally ist Regisseurin und arbeitet an ihrem neuen Stoff. Witzig dargestellte Momente einer kreativen Schreibblockade treiben die britische Autorin von penibel sauberen Schreibtisch nach Paris. (Der Exilstadt vieler von Diktaturen vertriebener Argentinier. Siehe auch "Tangos - Das Exil von Gardel" von Solanas.) Dort verfällt sie dem professionellen Tangotänzer Pablo und macht ihm ein Angebot: Wenn er ihr den Tango beibringt, würde sie ihn zum Filmschauspieler machen.
Sally (Sally Potter) und Pablo (Pablo Veron) haben Gemeinsames, beide sind Juden. Doch die Partnerschaft wird ein Duell in zwei Teilen. Die Tango-Stunden beherrscht der Macho aus Südamerika. Er führt launig, tanzt sich selbstverliebt ins Zentrum, erlaubt ihr nur dekorative Figuren um ihn herum. So sei der Tango - deshalb könnten die emanzipierten Frauen Westeuropas ihn nicht tanzen, sie würden sich nie gehenlassen, schreit der Lehrer im Streit. Ihre Gefühle stellt die ältere Frau zurück, obwohl eine starke Leidenschaft auch für den Lehrer des Tango unübersehbar ist. Wie ihre Schuhe und Kleider macht Sally nun eine Entwicklung durch: Von kräftigen Boots zu unsicheren Pfennigabsätzen. Von einlullenden Tüchern zu körperbetonten Reizstoffen.
Dann übernimmt die Frau die Regie. Er müßte sich jetzt unterordnen, Anweisungen befolgen und auf Kommando spielen - ein Ding der Unmöglichkeit. Doch er tanzt: Ein Bitte um Vergebung. Einen Abschied. Ein Menü mit Salat. Wie bei kitschigen Hollywood-Musicals wird alles, auch ein Transportband am Flughafen, zur originellen Tanzeinlage genutzt. Jedoch läuft die "Tango Lesson" in passendem Schwarzweiß ab. Nur schaurig schöne Visionen eines in Hollywood scheiternden Filmprojekts der Autorin Potter lassen die Leinwand mit Farben und Stoffen überfließen.
"Tango Lesson" ist nach "Orlando" wieder ein Film mit berauschenden Bildern (Kamera Robby Müller) aber auch mit anspruchsvoll kantigen Inhalten. Sally Potter verbindet in ihrer verführerischen Tanzstunde elegant eine Vielzahl von Themen: Die Faszination des Tango. Die Entwicklung des Films, den wir gerade sehen. Die Geschlechterfrage: Wie kommen Mann und Frau damit zurecht, wenn die Führungsrolle wechselt? Sally Potter tanzt dabei selber. Sie ist und spielt die sensible und starke Regisseurin, wie auch der berühmte Tangotänzer und -Choreograph Pablo Veron den Pablo spielt und die Tänze choreographierte. Sallys Tanzrepertoire scheint zwar begrenzt, die Figuren und Schritte, die sie beherrscht, geben aber die Faszination des Tango ganz wieder - ob an den Quais der Seine oder in den Tanzhallen von Buenos Aires. (Günter H. Jekubzik)

Der Tango: Das ist Erotik pur, Leidenschaft und Melancholie, Anziehung und Abstoßung, Hingabe und Koketterie. Sally Potters Film ist folglich (obwohl keine einzige Bett-Szene vorkommt) ein sehr erotischer Film - überdies direkt dem Leben abgeschaut. Die britische Filmemacherin („Orlando“) nahm vor ein paar Jahren Tangostunden beim weltberühmten Tänzer Pablo Vernon. In ihrem Film trifft nun eine Regisseurin namens Sally (gespielt von Sally Potter) auf einen Tänzer namens Pablo (gespielt von Pablo Vernon).
Aus dem Unterricht wird ein Flirt, aus dem Flirt dann Liebe. Doch die gerät in Turbulenzen. Sally und Pablo haben nämlich einen Deal abgeschlossen: Wenn er ihr den Tango beibringt, macht sie ihn zum Filmschauspieler. Sie hält Wort. Pablo findet sich in seiner neuen Rolle aber nicht zurecht. Denn als Tänzer (und, natürlich, argentinischer Macho) ist er gewohnt, zu führen. Vor der Kamera muß er sich jedoch weiblichen Anweisungen fügen. Das hält sein Ego kaum aus. So ist „Tango Lesson“ vielerlei: Liebesfilm, Tanzfilm, Musikfilm.
Die Schauplätze wechseln zwischen Paris, London und Buenos Aires. Der Soundtrack, mit Kompositionen von Pugliese bis Piazzola, verstummt fast nie. Die Musik zieht den Zuschauer mit sinnlicher Kraft in das Geschehen auf der Leinwand hinein. Die Optik ist den Klängen kongenial. Deutschlands Kamera-As Robby Müller („Breaking The Waves“, „Dead Man“) erzeugt Bilder, die gleichfalls im Tango-Rhythmus zu tanzen scheinen. Seine herbe Bildsprache (in Schwarzweiß) setzt einen coolen Kontrapunkt zu den Erruptionen vor der Kamera. Großartig. (Gunther Baumann, KURIER)

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MARIUS UND JEANETTE - EINE LIEBE IN MARSEILLE (MARIUS ET JEANETTE: UN CONTE DE L'ESTAQUE)

F 1997. 102 Min
Regie: Robert Guediguian, Buch: Jean-Louis Milesi, Robert Guediguian, Musik: Vivaldi, Johann Strauss, Kamera: Bernard Cavalie, Schnitt: Bernard Sasia, Darsteller: Ariane Ascaride (Jeannette), Gerard Meylan (Marius), Pascale Roberts (Caroline), Jacques Boudet (Justin), Frederique Bonnal (Monique), Jean-Pierre Darroussin (Dede), Laetitia Pesenti (Magali), Miloud Nacer (Malek), Pierre Banderet (M. Ebrard)
Kinostart: 1/5/1998

Eine arbeitslose Mutter mit zwei Kindern und ein Wachmann lassen sich trotz vergangener Enttäuschungen und Skepsis gegenüber einer neuen Bindung auf das Abenteuer Liebe ein. Sie erhaschen ein Stück vom Glück, bis der Mann eines Tages verschwindet. Der Film erzählt mit großer Leichtigkeit und dem Charme des "Midi" eine herzerwärmende Liebesgeschichte. Utopie und Realität, Poesie und Melancholie verbinden sich zu einer verführerischen Mischung. (M.K.)

(...) Es gelingt dem Film, die Sozialkritik und die Liebesgeschichte paritätisch zu behandeln, ohne daß einer der beiden dramaturgischen Waagschalen zu sehr nach oben geht. (...) (Thilo Wydra, Filmecho-Filmwoche, 2/98)

Die Liebesgeschichte zwischen einer arbeitslosen Mutter zweier Kinder und dem Wachmann einer stillgelegten Fabrik vor dem Hintergrund eines Hafenviertels von Marseille. Eine überzeugende Balance aus der realistischen Darstellung der Lebensumstände in dem Arbeiterviertel, ironisch gebrochenen politischen Diskursen und einer fast operettenhaften Stilisierung der nachbarschaftlichen Verhältnisse wie auch der mit Leichtigkeit erzählten Liebesgeschichte. Die mitunter recht schlichten formalen Mittel mindern den Gesamteindruck geringfügig. - Sehenswert.
Ihre erste Begegnung verheißt nichts Gutes. Jeannette, die in Estaque wohnt, einem Hafenviertel von Marseille, ist knapp bei Kasse, vor allem, seit sie wegen ihrer vorlauten Art den Job im Supermarkt verloren hat. Ihr bescheidenes Zuhause aber muß sie dringend anstreichen. In einer längst stillgelegten Zementfabrik vor den Toren der Stadt entdeckt sie ein paar Farbeimer, von denen sie sich zwei nimmt. Marius aber ist Wachmann in der Fabrik, erwischt sie und heischt sie an. Damit wäre die Geschichte der beiden zuende, wenn Marius nicht auf die Idee käme, Jeannette die Farbeimer nach Hause zu bringen, ja, ihr auch noch beim Anstreichen zu helfen. So etwas erstreckt sich über Tage, und im Laufe dieser Zeit freundet sich Marius nicht nur mit Jeannette, sondern auch mit ihrer Tochter und ihrem kleinen Sohn an. Beide, Marius und Jeannette, sind nicht mehr die Jüngsten und haben einige gescheiterte Beziehungen hinter sich. Aber sie lassen sich dennoch schließlich auf das Abenteuer Liebe ein - bis Marius eines Tages verschwindet.
Eine einfache, fast schwerelose Liebesgeschichte erzählt Robert Guédiguian, und seine besondere Kunst ist es, der Geschichte sowohl den Reiz des Besonderen zu verschaffen, indem er die schwierigen Lebensbedingungen in Estaque darstellt, zugleich aber jene betörende Leichtigkeit beibehält, die mitunter milde tragikomische, ja sogar komödiantische Züge annimmt. Da ist der ältere, alleinstehende Nachbar Jeannettes und seine etwa gleichaltrige, ebenso allein lebende Nachbarin, die eine wohl schon Jahrzehnte währende Liebesbeziehung führen. Zusammenziehen, heiraten? Nein, das würde alle Romantik zerstören. Dann die junge, engagierte Kommunistin und ihr politisch gleichgültiger Ehemann, der in einem einmaligen Anflug von Überdruß die rechtsradikale Front Nationale gewählt hat, was ihm die Frau fortan tagtäglich lautstark vorwirft - ein Brauch, auf den beide nicht mehr verzichten mögen. Außerdem Jeannettes ehemaliger Chef, dem Jeannette in regelmäßigen Abständen begegnet: Er hat sich vom groben Klotz zu einem nicht uncharmanten Aufschneider gemausert und versucht sich seither mal als Kellner, mal als Vertreter für Damenunterwäsche. Bei der Zeichnung dieser Figuren behielt Guédiguian eine wundersame Balance zwischen stilisierter Allgemeingültigkeit und treffender Charakteristik bei; zusammen mit den sich wiederholenden nachbarschaftlichen Ritualen, die sich schließlich bis ins Groteske steigern, erschafft er eine geradezu operettenhafte Enklave, die an die Filme Jacques Demys erinnert. Ein anderes Vorbild mag die bittere und durchaus plakative Ironie eines Jean Vigo gewesen sein; das gilt bereits für den Vorspann - eine aufblasbare Weltkugel treibt einen verschmutzten Kanal entlang - wie auch für die behutsame Entlarvung von politischem Unverständnis. Die Passagen, in denen über Religion und Klassenkampf diskutiert - und fabuliert - wird, lassen zudem an Pasolini oder Ken Loach denken; Guédiguian selbst sieht sich, deren Tradition folgend, "auf dem schmalen Grat zwischen Diskurs und Erzählung". In seinem Zentrum aber bleibt der Film eine märchenhafte Liebesgeschichte, die gezeichnet ist von Melancholie und Schmerz, zugleich aber von Heiterkeit und der Perspektive auf ein Glück, das selbst dem kargsten Leben Glanz verleiht. Die formalen Mittel lassen bisweilen zu wünschen übrig; so traut man seinen Augen nicht, als einmal ein mit amateurhafter Geste herbeigeführter rabiater Zoom zu sehen ist. Doch angesichts eines offensichtlich mangelnden Budgets, mit dem sich Guédiguian seit Beginn seiner Karriere herumschlagen muß, und seines andererseits großen Talents, eine anrührende Geschichte zu erzählen, mag man dies nachsehen. (Oliver Rahayel, film-dienst)

Engagierte Winkel-Advokaten. Monty, Marius, Jeannette et les autres - Lob des Regionalismus
Der filmische Regionalismus treibt in Europa frische Knospen. Und zwar endlich auch in andern als den bereits seit langem fruchtbaren Winkeln und Ecken Grossbritanniens (und Irlands), wo das Kino immer wieder beweist, dass im Kleinen das Grössere (ja manchmal sogar der grosse Kassenerfolg) und im Engen das Weitere liegen kann. Zurzeit etwa mit «The Full Monty», dem neuesten Beispiel, das zeigt, wie sich der lange verschmähte Diskurs in der Enge erweitern lässt um eine Dimension, in der sich das herzliche Engagement einer Low-Budget-Produktion für ein paar Arbeitslose aus der tiefen englischen Provinz global bezahlt gemacht und bereits sagenhafte 200 Millionen Dollar eingespielt hat.
Was die Weltliteratur schon lange weiss - dass ihre schönsten Blumen nicht selten auf dem ganz kommunen Mist vor der eigenen Haustür spriessen -, hat das heutige Kino mit seinen immer teureren Kunstzüchtungen aus Hollywoods Glashäusern und deren europäischen Verschnitten fast ganz vergessen. Gerade auch das Cinéma français - jedenfalls dasjenige, das des Exports beziehungsweise des Imports für wert befunden wird - geht ungern in die Provinz, es sei denn hoch zu Ross im historischen Kostüm. Bevorzugt lebt es in der urbanen Gleichförmigkeit der Postmoderne, wo die Menschen jung, schön, verloren und gewalttätig sind und entweder ein globales Grunge-Label oder einfach teuren Pariser Chic tragen.
Falls aber ein paar Schwalben bereits einen Sommer machen, ändert sich das vielleicht bald. Am letzten Filmfestival Cannes war die einheimische Bestückung des offiziellen Programms (damit also der vermuteten «Bestenliste») - neben der üblichen teuren Knallerbse zum Auftakt - mit zwei bezaubernden Beispielen filmischen Lokalkolorits vertreten, die beide zusammen wohl nicht mehr als die Garderobe von Bessons «Le cinquième élément» gekostet haben dürften. Und beide haben den Weg ins Ausland gefunden, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, wo doch das Kinobusiness stets vermutet, dass gewisse Filme, wie Weine, nicht reisen könnten. Was aber für einfachen Rebensaft gelten mag, gilt glücklicherweise für Filme noch lange nicht.
Sowohl «Western», das originelle Roadmovie vom äussersten westlichen Rande Frankreichs, das kürzlich in der Schweiz zu sehen war, als nun auch «Marius et Jeannette - Un conte de l'Estaque» gehören, ähnlich wie «The Full Monty», in jene Kategorie Filme, die man Winkel-Advokaten nennen möchte: Filme aus der Provinz, in denen Ort und Geschichte unzertrennlich miteinander verbunden und einander treu ergeben sind - die aber über die Leinwand hinaus mit vielen andern Orten und Geschichten die intimsten Beziehungen eingehen können, ohne ihre spezifische Bindung zu verlieren. Aus ihrem vermeintlich engen Winkel strahlt eine Authentizität, die bei allen bescheidenen Ansprüchen weiter blickt als vieles, was aus den Metropolen der Kunst kommt, eine Echtheit, die transportabel wird, unabhängig davon, ob wir im Kinosaal beispielsweise wissen, wo oder was L'Estaque eigentlich ist.
Und obschon «Marius et Jeannette», dieser zärtlichen Liebesgeschichte aus dem besagten Hafenquartier in Marseille, der Verkaufsvorteil der englischen Sprache fehlen dürfte, hat sie immerhin im eigenen Land die Herzen des Publikums mit einem ähnlichen Überraschungscoup erobert wie die nordenglischen Stripper mittlerweile den Rest der Welt. (Dass jene womöglich ursprünglich neuseeländische Stripper sind, wie eine Plagiatsklage behauptet, bestätigt nur die Repräsentanz ihrer Geschichte - und nebenbei die weltweite juristische Verblödung durch die Expansion US-amerikanischer Prozesshysterie).
Auch Marius, der Nachtwächter, und Jeannette, die Kassiererin, sind robuste einheimische Gewächse auf einem Stück Acker, der, ausgetrocknet und öd, scheinbar nichts mehr hergeben kann: Verfall, Arbeitslosigkeit und neue Armut kennzeichnen ein Quartier, das seine spezifische Kultur sozusagen längst transzendiert hat - und in der globalisierten Welt überall auf Wiedererkennen stösst. Und auch hier weigern sich die Protagonisten - sowie eine wunderbar skurrile Truppe von Nebenfiguren - hartnäckig, sang- und klanglos vor die Hunde zu gehen. Und das im wahrsten Sinn des Wortes: Ihre Rebellion gegen die Verhältnisse, die nicht einfach so sind, weil sie so sind, drückt sich nicht zuletzt dadurch aus, dass die Schweigsamen noch summen können und ihre Träume von Vivaldi, Strauss und Pavarotti begleitet sind - prächtig paradox schallt der Ohrwurm «O sole mio» über den Schutt einer stillgelegten Fabrik -, während die Beredten den Verhältnissen ebenso komische Zornesausbrüche wie ironische Politanalysen entgegenhalten.
Robert Guédiguian - seit Jahren tätig als Produzent und Regisseur, aber ausserhalb Frankreichs als Name bezeichnenderweise kaum jemandem ein Begriff - bearbeitet offenbar seit seinem ersten Film 1980 mit der gleichen Familie von Technikern und Schauspielerinnen treu den gleichen traditionsreichen Boden (gewiss auch gedüngt von Marcel Pagnols Asche): Ein gestandener Sozialist, will er einfache Geschichten von einfachen Leuten erzählen, möchte er «réenchanter la vie». Man soll die Verzauberung als (auch politisches) Programm nicht unterschätzen: ein ausserordentlich schwieriges Geschäft (wie sich auch an Fredi Murers neuem Film «Vollmond» erfahren lässt, der ja ebenfalls zu den tapferen Verfechtern lokaler Loyalitäten gehört). Guédiguian, ein poetischer Realist der französischen Tradition, meistert es mit schöner Leichtigkeit, unprätentiösem Ernst und grosser Heiterkeit. (Pia Horlacher, Neue Zürcher Zeitung, 13/3/1998)

Die in ihrer stillen, einfachen Art sensationelle Arbeiterkomödie "Marius et Jeannette" ist eine Liebesgeschichte aus einem Vorort Marseilles. Das Klischee "arm aber glücklich" funktioniert bestens in dem sonnigen Hinterhof mit vier anliegenden Wohnungen und deren voll im einfachen Leben stehenden Bewohnern. Die wegen ihres sehr frechen, nie stillstehenden Mundwerks arbeitslose Jeannette hat zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern. Bei einem kleinen Raubzug auf dem Gelände einer stillgelegten Zementfabrik stellt sie der humpelnde Wachmann. Und etwas später erwischt die Liebe alle beide. Wenn beide die erste Nacht miteinander verbringen, ist das nicht wie im Film - vielleicht ein wenig wie im Leben. Daß Marius Probleme mit dem Alkohol hat, wird sehr schnell angedeutet. Wie allerdings eine rauh-fröhliche Männerpartie die erste Krise der frischen Liebe zweier Mittelalter löst, ist einmalig. Ebenso die Tatsache, daß Marius nur humpelt, um seinen Job zu behalten.
Hier vereinigen sich realistische Darstellung, politisches Denken und die Romantik des Alltags mit Leichtigkeit zu einem Meisterwerk. Ganz unspektakulär aber wunderschön anrührend. Erst später wird klar, daß im Personal ein weiterer Reiz der sympathischen Komödie liegt. Es sind alles einfache Leute "aus dem Volk" und aus dem Leben. In diesem Sinne will Jeannettes Tochter Journalistik studieren, um einst über "Tausende unbekannte Arbeiter" zu berichten, die auch dieser sehr leichte und sehr humorvolle Film von Robert Guédiguian ehrt.
PS: Mittlerweile wurde auch der Vorgänger von "Marius und Jeannette" herausgekramt. "A la vie, à la mort!" aus dem Jahr 1995 spielt mit den gleichen Darstellern im selben Viertel - das klingt vielversprechend. (Günter H. Jekubzik)

Auch in Gegenden, in denen stets die Sonne scheint, kommt es vor, daß man sich fühlt wie sieben Tage Regenwetter. Von Luft und Liebe läßt sich schwer auf Dauer leben, ebensowenig vom Gehalt einer Kassiererin. Also wird gespart, und bald sind die Ansprüche so heruntergeschraubt, daß man übersieht, wie man langsam verkümmert. Hier beginnt Marius und Jeannette, eine Liebesgeschichte von Robert Guédiguian. Jeannette (Ariane Ascaride) lebt in Estaque, bei Marseille. Zwei Kinder wollen versorgt sein, der Vater war nicht der Mann fürs Leben. Nebenan wohnt Marius, ein Stadtindianer im roten Overall, der Fauteuil und Fernseher ins Freie gestellt hat und eine Fabrik bewacht, die schon vor langer Zeit outgesourcet wurde und vergessen.
In jeder Einstellung ist Guédiguians Film der Versuch, ein Milieu, das einer Landschaft so stark verhaftet ist wie die Klischees davon, das gute Essen, die linke Gesinnung, die Sinnlichkeit und der Sinn für das Praktische. Der Nachbar liest die Monde Diplomatique und L’humanité, er ist Spezialist für die großen Zusammenhänge, die sich im _Estaque insofern bemerkbar machen, als das Konzernbier Heineken zunehmend die lokale Marke verdrängt. Die Nachbarin kocht gut und öffnet dem Intellektuellen ab und zu ihre Kemenate.
Jeannette trifft Marius (Gérard Meylan), und wie aus der Bekanntschaft zweier nicht mehr ganz unbefangener Menschen eine Romanze wird, das ist die Geschichte des Films. Auch die Dramaturgie ist nicht außergewöhnlich, nach der ersten Annährung erfolgt ein Rückzug, Menschen brauchen Zeit auf dem Weg zueinander.
Da hilft es, daß Marius auch an Jeannettes Freunden gefallen findet. Einmal richtig zechen, das rückt die Welt wieder ins Lot. Die Frauen treffen sich währenddessen und besprechen die Qualitäten der Unterwäsche, die ihnen ein Vertreter angedreht hat und die ihnen jetzt doch ein wenig frivol erscheint. Jeannette wird sie ihrer Tochter geben, in einem schönen, intimen Moment.
Anders als viele sozialkritische Filme aus Frankreich ist Marius und Jeannette eher die Beschwörung eines Zustands. Guédiguian verleugnet die harten Realitäten der Ökonomie nicht, aber er erzählt von einer Gegenkultur: sentimental zwar, aber auch deswegen, weil die Figuren sentimental sind, und weil die Strapazen nur diesen Ausweg zulassen. Den Ausweg Hedonismus können und wollen sich Guédiguians Helden nicht leisten. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 2/5/1998)

Das Licht von Marseille. Robert Guédiguian, Kinoautor, stellt sich mit "Marius et Jeannette", einem bemerkenswerten kleinen Arbeiterfilm aus Frankreich, erstmals auch hierzulande vor.
Die Mittellosigkeit bringt die Liebenden zusammen: Der Versuch eines kleinen Diebstahls, einer Entwendung, nicht der Rede wert, steht am Beginn der Romanze dieses Films. Eine Frau, die es auf eine Baustelle verschlagen hat, beschließt, zwei herumstehende Farbtöpfe mitgehen zu lassen. Der Mann, der eine stillgelegte Fabrik an der Baustelle zu bewachen hat, ertappt sie. Sie verschwindet, er blickt ihr nach. Wenig später stellt er den Kontakt her: Er sucht sie auf, schenkt ihr zwei Töpfe Farbe.
Die Schauplätze von Marius et Jeannette, dem siebenten Film von Robert Guédiguian, sind nicht gestellt und daher nicht besonders photogen: Der Marseiller Stadtteil Estaque, die Heimat des Filmemachers, ist der Ort der Handlung aller seiner Filme. Das Licht und die Menschen von Marseille sind seine erzählerische Basis. Der Filmautor, 45, erzählt in Marius et Jeannette die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, Kassierin in einem Supermarkt, die eine Beziehung mit dem stillen Mann ins Auge faßt. In diesem Alter verliebt man sich allerdings nicht mehr so, wie einem das Hollywood vorgaukelt: Man überlegt, wägt ab, macht sich in Zusammenhang mit der neuen Liebe eine Reihe sehr prosaischer Gedanken, die dennoch mit dem, was man Romantik nennen mag, vereinbar sind.
Auch davon handelt dieser Film, der nun auch schon fast zwei Jahre alt, ohne Stars auskommt, ohne Spektakel, Spannungskurven und ohne großes Geld, ohne alles also, was Filmromanzen im allgemeinen ausmacht. Daß dieses Werk, ein klassisch "schwer verkäufliches", in Österreichs nun ganz regulär verliehen wird, darf hierzulande schon als kleines Wunder angesehen werden.
Stars sind sie nicht, aber wie beseelt, wie beherzt sie in dieser Geschichte spielen, macht sie schnell liebenswert, zu heimlichen Stars: Gérard Meylan gibt den wortkargen Wachmann mit dem Stoizismus eines Kaurismäki-Schauspielers (nur weniger lustig); und Ariane Ascaride, seine abgebrühte Partnerin, ist ihm ein realistischer, aber umso strahlenderer Widerpart: Sie streitet, strahlt, flucht, sie nimmt das Leben, wie es kommt, und den zermürbenden Alltag so locker, wie es eben geht.
Zusammen sind sie ein Gewinn: die perfekte Basis eines intelligenten Schauspielerfilms, dem Eitelkeit und Überlebensgröße in jeder Form zuwider sind. Daß Meylan und Ascaride, der Kindheitsfreund und die Lebensgefährtin Guédiguians, Helden aller seiner Filme sind, ist nur ein weiterer Beleg für die Unbeirrbarkeit seiner Arbeit. Seine Idee vom Kino ist tatsächlich seltsam: Er erfindet, wenn man so will, autobiographische Geschichten.
Guédiguians Inszenierung ist formal bestechend schlicht, ohne Angst vor leiser Unbeholfenheit und hübschen Banalitäten, sanft infiziert vom poetischen Realismus der vierziger Jahre. Es wird viel debattiert in diesem Film, daran erkennt man seine politische Wachheit, wie man sie sonst nur in den Filmen Luc Moullets feststellen kann: In einem Innenhof wird das Essen, linke Zeitungen und die Neue Rechte in Frankreich verhandelt, die Arbeitslosigkeit, die Solidarität unter den Mittellosen.
Marius et Jeannette mag sich zwischen der erdverbundenen Komödie und dem größeren Format des politischen Melodrams nicht entscheiden: Es ist, als wollte der Filmemacher die Wirkungsweisen des Tragikomischen in der Wirklichkeit auf ihre Standfestigkeit überprüfen. Wer die Arbeit Guédiguians weiter zurückverfolgen will, kann dies übrigens demnächst tun: Das Filmmuseum zeigt das inzwischen acht Arbeiten starke Gesamtwerk dieses - in Frankreich seit langem akklamierten - Filmemachers im Mai-Programm. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 30/4/1998)

„Mir scheint, als hätte sich mein Bett in einen eiskalten Feind verwandelt. Und diese Kälte spürt man bis in seine Träume.“ Das hat Jeannette, vom Liebhaber verlassen, doch schön gesagt? Aber man muß sich nur einmal vorstellen, im „Kaisermühlenblues“ würden die Prolos so daherreden. Die arbeitslose Supermarktkassiererin - alleinerziehende Mutter zweier Kinder zweier Väter - formuliert einmal wie ein wandelndes Poesiealbum, dann wieder wie eine akademisch gebildete Fürsorgerin.
„Der Typ hier hat nicht mehr so viel Musik im Herzen, um sein Leben zum Tanzen zu bringen,“ stammt auch von ihr. Da sind mir die ungebildeten, prosaischen Dreckschleudern aus dem Kaisermühlischen um Götzzitate lieber. Das unerträgliche Süßholzaroma verlogener Sozialromantik versifft diesen französischen Versuch, es den britischen Arbeiterkomödien gleichzutun mit witzigen Klassenkampfansagen. Ihren cleveren Armen und deren pfiffigen Heldentaten.
In Marseilles aber kommt zum hochgestochenen Ton nur schlichte Liebesmüh. Zart, zwischen gestohlenen Farbkübeln, keimt die Liebe zwischen der Stehauffrau Jeanette und dem hinkenden Fabrikwächter Marius mit der Maulsperre; den - wir erfahren e«s spät - ein tragisches Schicksal überschattet. Daneben wird mit den Slumnachbarn über den Kapitalismus geplaudert und, daß Rußland bald wieder so dastehen wird wie einst beim Zaren.
Was deutlich fehlt, ist die Genialität des Gemeinen, Erbärmlichen, Primitiven. All dessen, das hier weggeleugnet wird, um eine in sich heile Welt aus dem Mülleimer französischer Wohlstandsgesellschaft zu zaubern. „Wir brauchen Journalisten aus unserem Milieu“, heißt eine der Forderungen dieser versammelten armen Schlucker. Wenn das genau so in falschen Tönen liefe wie bei dem Macher dieses Films, dessen Biografie das zitierte Milieu reichlich enthält, blieben sie trotzdem arm dran. (Rudi John, KURIER)

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DAS LEBEN IST EIN CHANSON (ON CONNAIT LA CHANSON)

F / CH GB 1997. 120 Min
Regie: Alain Resnais, Buch: Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri, Musik: Bruno Fontaine, Kamera: Renato Berta, Schnitt: Hervé de Luze, Darsteller: Pierre Arditi (Claude), Sabine Azéma (Odile Lalande), Jean-Pierre Bacri (Nicolas), André Dussollier (Simon), Agnès Jaoui (Camille Lalande), Lambert Wilson (Marc Duveyrier), Jane Birkin (Jane)
Kinostart: 1/5/1998

Eine Mischung aus Liebesgeschichte und Musical, in der in laufende Dialoge bekannte französische Chansons (Joséphine Baker, Edith Piaf, ...) eingepflegt wurden. Die Handlung spielt mit zwei Frauen (Schwestern) und vier Männern. Die Ältere der beiden, Odile (Sabine Azéma), möchte unbedingt eine Luxuswohnung haben, während die jüngere Camille (Agnès Jaoui) nach Beendigung ihrer Doktorarbeit in einen feschen Immobilienmakler verliebt ist. Beide sind mit ihren momentanen Lebensgefährten nicht so recht zufrieden und suchen nach Abwechslung.
Ein französischer Schwank, der in Frankreich außerordentlich erfolgreich in den Kinos lief. Da die überwiegende Zahl der Deutschen die notwendigen Texte der französischen Chansons jedoch nicht verstehen dürfte, ist fraglich, inwieweit der Film Interesse in Deutschland erzeugen kann. (film.de)

Eine frustrierte Geschäftsfrau, deren Mann sie verlassen will, ihre studierende Schwester, die sich irrtümlich in einen unehrenhaften jungen Makler verliebt, während dessen ältlicher Angestellter sie heimlich liebt, und ein eingebildeter Kranker bilden einen Reigen gelebter (Lebens-)Lügen, verborgener Gefühle und mühsam vorgehaltener Masken. Nur wenn sie unvermittelt anfangen, ihre Dialoge durch einen Schlager-Refrain singend zu unterbrechen, treten ihre wahren Sehnsüchte zutage. Mit dem Kunstgriff, einige Takte aus Chansons und Popsongs lippensyhchron von den Schauspielern "singen" zu lassen, wird das Alltägliche überhöht und dringt mit spielerischer Leichtigkeit dennoch in die Tiefe der Figuren ein. Das von einem spielfreudigen Ensemble getragene "Experiment" wird so zu einem amüsanten Exkurs über die zu Lebensweisheiten erhobenen Binsenwahrheiten von Schlagertexten.
Odile, erfolgreiche Pariser Geschäftsfrau Mitte Vierzig, ist auf Wohnungssuche. Sie möchte ihre Altbauwohnung gegen ein schickes Penthouse tauschen. Ihr Mann Claude, der sich von ihr wegen einer jüngeren Frau trennen will, teilt nur sehr verhalten ihren Enthusiasmus. Deshalb nimmt Odile ihre jüngere Schwester Camille, die gerade ihre Doktorarbeit zum Thema "Der Landadel am See Paladru im Jahre 1000" schreibt, mit zur Besichtigung, und Camille verliebt sich in den Makler Marc, einen attraktiven und anscheinend auch sensiblen Yuppie. Aber auch Marcs Angestellter Simon, ein Alt-68er, der ein Doppelleben zwischen Geldverdienen und Selbstverwirklichung führt, ist in Camille verliebt. Aus Angst, abgewiesen zu werden, traut er sich nicht, ihr seine Gefühle zu offenbaren, und beläßt es bei freundschaftlichen Treffen. Einen Zuhörer für seine Nöte findet er in seinem Kunden Nicolas, einem früheren Geliebten von Odile, der sich auch in einer Lebenskrise befindet. Nicolas sucht Arbeit und Wohnung in Paris, möchte aber eigentlich seine Familie gar nicht nachkommen lassen und zieht als "eingebildeter Kranker" von einem Arzt zum anderen. Natürlich kreuzen sich die Wege dieser Personen ständig, bis es bei der Einweihung der neuen Wohnung zum "reinigenden Gewitter" kommt: Marc entpuppt sich als Schwindler, Camille erkennt ihre Liebe zu Simon, Claude bringt es nicht übers Herz, sich von Odile zu trennen, und Nicolas scheint in Simon einen Freund fürs Leben gefunden zu haben.
Eine typisch französische Komödie im schicken Ambiente über wohlhabende Leute und ihre Midlife-Krisis, denkt man im ersten Augenblick. Dann aber fangen die Personen plötzlich an zu singen, nur ein paar Takte oder den Refrain aus einem klassischen Chanson oder einem französischen Popsong. Sie singen nicht mit der eigenen Stimme, sondern mit der des eingespielten Original-Interpreten, und da die "Liedfetzen" immer auf die jeweilige Situation oder die Gefühlslage der Protagonisten abgestimmt sind, ergibt es sich auch schon einmal, daß Simon mit einer Frauen- und Odile mit einer Männerstimme singt. Spätestens da wird deutlich, daß Alain Resnais keine Erneuerung des französischen Filmmusicals à la Jacques Demy ("Die Regenschirme von Cherbourg", fd 30 511) im Sinn hatte und auch nicht versucht, einen Beziehungsfilm mit Musical-Elementen im Stil von Woody Allens "Alle sagen: I Love You" (fd 32 694) aufzupeppen. Deshalb wird auch nicht getanzt, nicht einmal ansatzweise geraten seine Figuren in tänzerische Bewegungen, sie scheinen manchmal gar nicht wahrzunehmen, daß ihr Gegenüber singt. Der Schlagertext wird so zu einem sprichwortähnlichen Einwand (oder Kommentar), der einem immer dann einfallen, wenn einem nichts mehr einfällt. Das Prinzip, durch Reproduktion Klischees überdeutlich zutage treten zu lassen, war Resnais schon mit der Verfilmung des Theater-Melodrams "Mélo" (fd 26 644) gelungen. Nun geht er noch einen Schritt weiter und erhöht die Gemeinplätze und Binsenweisheiten des Schlagers zur Kunstform. Ein wenig hat er das bei dem von ihm verehrten englischen Autor Dennis Potter ("Der singende Detektiv"), dessen Figuren auch unvermittelt zu zeitgenössischen Liedern synchron die Lippen bewegen. Aber während bei Potter schwarzer Humor und sarkastische Gesellschaftskritik Triebfedern der Handlung sind, sind es bei Resnais die alltäglichen Situationen und die (verborgenen) Gefühle der Figuren. "Parole, Parole", schmettert Claude Odile im Ehestreit mit der Stimme Alain Delons entgegen, während er ansonsten eher ein "Leisetreter" ist. Simon, der gerade Camille auf einer Stadtführung begleitete, läßt versonnen und sehnsüchtig Gilbert Becauds "Natalie" erklingen: "Der rote Platz war leer, und vor mir ging Natalie." Und wenn Marc Jacques Dutroncs "J'aime les filles" erklingen läßt, dann weiß man sofort, daß hinter dem vermeintlich so Sensiblen, in das sich Camille verliebt hat, ein ausgemachter Macho steht.
So führt Resnais mit leichter Hand mitten hinein in die Dauerkrise der 90er Jahre, in der Menschen ständig bemüht sind, einen Erfolg vorzutäuschen, den sie nicht haben. Durch die Schlager-Zitate, die einerseits ihre Gefühle auf den Punkt bringen, andererseits aber auch von einer Verarmung der Sprache zeugen, reißt er seinen Lebenslügnern die Maske herunter. Daß sie darunter (bis auf den Immobilien-Hai) nicht weniger sympathisch sind, liegt an der "Zärtlichkeit", mit der Resnais seine Figuren betrachtet, und an den wundervollen Schauspielern, die sie interpretieren. Endlich kann man auch das Spiel jener beiden großartigen Autoren bewundern, die schon mit "Smoking"/"No Smoking" (fd 31 016) ein Juwel bescherten: Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri. Und André Dussolier, der einfühlsam den vom Leben der 70er Jahre träumenden Simon spielt, entwickelt sich zu einem der profiliertesten französischen Filmschauspieler, der zu Ikonen wie Philippe Noiret, Michel Serrault und Michel Piccoli aufschließt. Dabei dominiert er nie die Szene, paßt sich nahtlos in das von Resnais "gleichwertig" geführte Ensemble ein. Mit derselben Unaufdringlichkeit gibt Renato Berta eine weitere Kostprobe seiner "klaren" Kameraarbeit, die ganz der Inszenierung und den Schauspielern verpflichtet ist, aber dennoch - wie bei Odiles rotem Kostüm - prägnante Farbtupfer setzt. In Frankreich war "Das Leben ist ein Chanson" 1997 der erfolgreichste einheimische Film. Hierzulande wird er es wohl leider schwer haben: die filmische Leichtigkeit, mit der unser westlicher Nachbar auch in die Tiefe zu loten verstehen, scheint hierzulande immer noch fremder als die alles zudeckende Lautstärke der Hollywood-Erfolge. Dabei ist die Liebe als "Kehrreim" eigentlich viel amüsanter und wirklichkeitsnäher als ein aufwendiges Weltuntergangsspektakel wie "Titanic", das die Herzen nur oberflächlich berührt und sich nicht wie ein Chanson in ihnen einnistet. (Rolf-Ruediger Hamacher, film-dienst)

Woody Allen machte es im letzten Jahr mit "Everyone says/sings: I love you" vor. Jetzt zauberte Alain Resnais einen wunderbaren französischen Musikfilm auf die Leinwand mit mehr als 30 populären Liedern und Chansons aus vielen Jahrzehnten, von Charles Aznavour, Josefine Baker, Adamo, Edith Piaf, Ardetti, Gilbert Becaud, Serge Gainsbourg, Jane Birkin und vielen anderen. Doch der Resnais-Clan, seine vertrauten Schauspieler, mimt zu den kurz angespielten Liedern nur ein Playback, nach dem Motto, ein Lied sagt mehr als tausend Worte: Nicola schmeichelt Odile (Sabine Azéma) beim Abendessen, sie antwortet mit einem kurz angesungenen "Parole, Parole" - nur (leere) Worte. Als dann ihre Schwester Camille unter dem Leid des Alltags ganz trübsinnig wird, empfiehlt Odile "Resiste" (von France Gall), "Biete Widerstand!"
Die kleine, gewitzt gestrickte Handlung zeigt humorvolle pointiert liebenswerte Menschen mit all ihren Sehnsüchten und Schwächen. Die Männer scheinen sämtlich gerne fremdzugehen. Der smarte Immobilienmakler Marc ist der große Frauenheld (J'ai-aime les filles), sein Angestellter Simon schwärmt still der Fremdenführer Camille hinterher. Selbstverständlich singt der in die Camille verliebte Makler übergangslos mitten im Satz von der russischen Fremdenführerin "Natalie" (mit der Stimme Gilbert Becauds).Ihre Schwächeanfälle spiegeln sich in dem scheinbaren Hypochonder Nicolas wieder. Neben den Fremdenführungen gibt es auch unzählige Wohnungsführungen mit vielen vertrauten Gesprächen, bis der Makler Simon und der Kunde Nicolas zusammen anstimmen "Ein Freund, ein guter Freund!"
Es ist eine geniale Idee, die populären Songs, die so viel auslösen, aus dem Hintergrund des Soundtracks zu holen und über sie die Gedanken und Gefühle der Figuren direkt an denen des Publikums anzukoppeln. Die bewegende und anrührende Hymne für das Lied "On connait ..." ist in Frankreich und Belgien ein Publikumshit und wurde für zehn Cesars nominiert. Doch leider ist dieses Meisterwerk des Humors nicht über die Kulturgrenzen übertragbar. Denn das Vergnügen hängt zum größten Teil davon ab, wieviel einem all die Lieder bedeuten, wieviel Erinnerungen sie wachrufen. Nur die ersten Worte des Films sind deutsch - der Führer befiehlt telefonisch dem Stadtkommandanten, Paris zu zerstören - doch dieser singt sogleich mit einer Frauenstimme jede Dramatik hinweg.
Schon oft testete Resnais die Möglichkeiten des Films aus, behauptete "Das Leben ist (k)ein Roman", spielte zuletzt mit den vielfältigen Varianten des Doppelfilms "Smoking" / "No Smoking". Resnais widmete nun den Film Dennis Potter, dem bereits verstorbenen Autor so wunderbarer singender Filme wie "Der singende Detektiv", "Pennies from Heaven" oder "Lippenstift am Kragen". (Günter H. Jekubzik)

Eine charmante, betont altmodische Huldigung ans französische Chanson, ist Alain Resnais' Film durchaus auch ein Diskussionsbeitrag zur urbanistischen Situation von Paris.
Alles scheint auf den ersten Blick altmodisch an diesem Film: der Vorspann, der die Hauptfiguren im Stil der fünfziger, sechziger Jahre präsentiert, wenn er ihre Köpfe disproportioniert klein gezeichneten Körpern aufsetzt; die Personen, die - mit der bezeichnenden Ausnahme des topmodisch gestylten Schufts - alle etwas Ältliches, Altjüngferliches und leicht Kummervolles an sich haben; und nicht zuletzt natürlich deren Gefühle. Sie lassen sich nur noch im Rückgriff auf die Kunst adäquat ausdrücken, und das heisst das Chanson: vermöge jener Gefühlsinnigkeit, an der es im wirklichen Leben ja so schmerzlich gebricht.
Und das Publikum fühlt und - zumindest in Frankreich - summt mit. Doch Resnais wäre nicht, der er ist, wenn er sich mit einer harmlosen Mischung aus «Rétro» und «Mélo» zufriedengäbe. Ein Publikum unterhalten heisst ja nicht, es gleich von seiner Intelligenz dispensieren zu müssen. Man muss freilich wie Alain Resnais die Figuren seines Mitgefühls versichern können, um sie so in einer Versuchsanlage zappeln zu lassen, die wiederum an den prüfenden Blick des Verhaltensforschers von «Mon oncle d'Amérique» (1980) erinnert. So wird nie auch nur ein Anflug von Betulichkeit aufkommen. Absolute Künstlichkeit heisst erneut das Stilprinzip, in ihrer Wirkung durch gelegentliche «realistische» Einsprengsel, etwa bei Aussenaufnahmen, nur noch verstärkt.
Nicht von ungefähr ist «On connaît la chanson» dem Andenken Dennis Potters gewidmet, des 1994 verstorbenen Autors der wegweisenden BBC-Produktionen, in denen die Figuren ihre «innersten» Gefühle vorzugsweise durch Gesang ausdrückten. Ihre Affinität zu britischer Dramatik haben die Drehbuchautoren, Jean-Pierre Bacri und Agnès Jaoui, bereits bei Resnais' brillantem Doppelfilm «Smoking» / «No Smoking» (1993), einer Adaptation von Alan Ayckbourns «Intimate Exchanges», unter Beweis gestellt. Hier treten sie nun zusätzlich in Hauptrollen auf: Bacri als Nicolas, der «alte» Freund von Odile (Sabine Azéma), der älteren Schwester Camilles (Jaoui), die als etwas altjüngferliche Doktorandin damit ihr Geld verdient, dass sie auf Stadtrundgängen aus der Geschichte von Paris und seinen Quartieren erzählt. Im Verlauf einer solchen Führung erleben wir auch gleich zu Beginn, wie General von Choltitz, der Stadtkommandant, den gebellten Befehl des «Führers» erhält, Paris zu zerstören, und wie er darauf mit der Stimme Joséphine Bakers seine Liebe zur Stadt singt: «J'ai deux amours...»
Wie programmatisch dieser Anfang ist, gewahren wir erst rückblickend, nachdem wir einen aufschlussreichen Parcours durch die Immobilienszene von Paris absolviert haben: Heute ist das Stadtbild vor der Verschandelung durch die Architektur zu schützen. Wichtiger noch als die Fassaden wird jedoch der Blick dahinter. Denn die eine Hälfte der Filmfiguren befindet sich auf Wohnungssuche, während die andere entsprechend in der Wohnungsvermittlung tätig ist. Eine Schlüsselrolle kommt dabei Simon (André Dussollier) zu: Nicht nur, dass er heimlich Camille anbetet und deshalb regelmässiger Teilnehmer an ihren Führungen ist (wo er sich bei ihr durch seinen Übereifer unbeliebt macht); er ist, obzwar «Hörspielautor», in seinem ungeliebten Brotberuf halt doch nur Wohnungsmakler und als solcher Angestellter des schnittigen jungen Duveyrier (Lambert Wilson), eines rücksichtslosen Geschäftsmanns, in den sich Camille verliebt.
Einen Vertrauten findet Simon in Nicolas, dem er Wohnung um Wohnung zeigt und dessen Ansprüche in dem Mass bescheidener werden, als seine Fiktion des erfolgreichen Geschäftsmanns mit bevorstehendem Familiennachzug abblättert. «Quoi?» singt seine Frau (Jane Birkin in Person) bei einem kurzen Besuch in der Bahnhofshalle. Auch mit Nicolas' Gesundheit steht es nicht zum besten: Von Arzt zu Ärztin zieht er, um Gaston Ouvrards umwerfenden Gebrestenkatalog «Je ne suis pas bien portant» zu intonieren. Als Glücksversprechen bleibt da einzig der Blick auf Sacré- Cour: Vom Dach des Hauses mit der scheusslichen kleinen Wohnung ist er zu erhaschen, allerdings nur, wenn man sich gefährlich weit hinauslehnt und dabei eine Zerrung riskieren will. In der wunderbaren Wohnung hingegen, die Odile um jeden Preis haben will und in der sich ihre Schwester und der fiese Duveyrier näherkommen, wo das Licht, kaum wird dessen Schönheit angesprochen, auch schon warm-sanft zum Fenster hereinfliesst (Kamera Renato Berta), steht die Kirche triumphal am Horizont. Bis sich das nächste Gebäude dazwischenschieben wird, wie Odile nach getätigtem Geschäftsabschluss erfährt...
Die festliche Wohnungseinweihung gerät denn auch zum Desaster. Claude (Pierre Arditi), Odiles Mann, ist mit Serge Gainsbourg gekommen: «Je suis venu te dire que je m'en vais.» Zuvor schon ist Camille unversehens in eine Szenerie aus ihrer erfolgreich verteidigten Dissertation geraten, als sie die vielzitierten Freisassen vom Lac de Paladru (im Département Isère, wie wir erfahren) plötzlich leibhaftig vor sich sieht; eine Blattwanze erscheint unvermittelt im Bild, durch das jetzt immer häufiger eine Meduse zu pulsieren beginnt und wo ein Octopus Odiles entsetztem Aufschrei Gestalt gibt, als sie die Täuschung erfährt. Doch endlich werden sich Camille und Simon finden und viele zarte kleine Quallen durchs Bild schweben.
Von den 36 Chansons, die im Film zu hören sind, finden sich 20 auf einer bei Emi Music France erschienenen CD versammelt.
(Christoph Egger, Neue Zürcher Zeitung, 31/3/1998)

Camille arbeitet an einer Doktorarbeit, die niemanden interessiert und verdingt sich als Fremdenführerin. Eines Tages begegnet sie Nicolas, einem Ex ihrer Schwester Odile, die inzwischen mit Claude verheiratet ist und eine neue Wohnung sucht. So kommt Nicolas auf den Gedanken, Odile wieder einmal aufzusuchen. Als Camille bei der Wohungsuche für ihre Schwester einspringt, verliebt sie sich in den Makler Marc, der nett wirkt, aber ein abscheulicher Chef ist, z.B. für den Angestellten Simon, der viel lieber nur noch Hörspiele schreiben würde und immer wieder an Camilles Stadtrundfahrten teilnimmt, weil er sich in ihren Bann gezogen fühlt. Und so dreht sich das Liebeskarussell mit immer schnelleren Umdrehungen...
Das Leben ist ein Chanson will ein besonderer Film sein, denn er integriert Original-Passagen aus über 30 Chansons in den Dialog der Charaktere, die dazu ohne jegliche tänzerische Anwandlungen trocken die Lippen mitbewegen. Meist sind es nur Zeilenfetzen, manchmal gar ein kompletter Refrain. Mir verweigert sich die Einsicht, warum nun eine jede diesen Film unbedingt gesehen haben muss, im Heimatland Frankreich machte jedenfalls ein Millionenpublikum dieses Musical, welches eigentlich gar keins sein will, zum erfolgreichsten Film des Regisseurs Alain Resnais bisher, brachte ihm sieben Cesare ein, u.a. als besten französischen Film des Jahres '97, fünf weitere Nominierungen und beinahe den Goldenen Bären auf der Berlinale '98.
Es hat wirklich nichts damit zu tun, dass der Chanson nicht gerade zu meiner bevorzugten Musikauswahl zählt. Es ist eine zwar wirr genuge aber doch irgendwie belanglose Handlung, die mich ermüden und die einfach nicht funktionierende Einstreuung der Musikfetzen, die mich in den Wahnsinn treiben lässt. In der Tat teilt sich dieses Werk mit keinem anderen Film der letzten fünf Jahre die Fähigkeit, mich für ein paar Minuten einzuschläfern, obwohl ich zuvor so richtig ausgeschlafen war. Damit wäre meine Toleranz gegenüber schlechten Musicals für dieses Jahr bereits ausgeschöpft. Entweder wissen Regiedebütanten nicht so recht, was sie da anstellen (Jeff B. Harmon mit Isle of Lesbos oder Olivier Ducatel und Jacques Martineau mit Jeanne et le garçon formidable), oder betagte Regisseure, die bereits um die 40 Filme hinter sich haben, experimentieren mit einem Genre herum, welches sie besser studiert haben sollten (Alain Resnais oder Woody Allen mit Alle sagen: I Love You). Zeichentrickfilme ersäufen sich zumeist im Kinderschmalz und als ausgleich gibt es alle paar Jahre einmal gelungene Werke, wie soeben die Fortsetzung des Kultes, Blues Brothers 2000 oder Zero Patience von John Greyson.
Simon interessiert sich im Zuge seiner Stadtrundfahrt für eine spezielle Giftmischerin, die sich als menschliches Monster gut für die Gänsehaut suchenden TouristInnen macht. Camille weist den Herren darauf hin, dass sie ihre männlichen Familienmitglieder deshalb vergiftete, weil sie seit ihrer Kindheit von Vater und Brüdern vergewaltigt worden ist. Da staunt Simon aber nicht schlecht... (copyright: Queer View, 4/4/1998)

Erkennen Sie die Melodie! Heitere Lieder in einem filmischen Versuch über die Traurigkeit: Alain Resnais’ jüngster Film „Das Leben ist ein Chanson“ startet am Donnerstag mit einer STANDARD-Leserpremiere im Wiener Filmcasino.
„I’m through with love“, sang Woody Allen zuletzt im Kino. Tonlos und mit ungeschulter Stimme: Der Wille zum Musical – bei Allen hieß es fast schon gelangweilt Everyone Says I Love You – scheint, immer wieder zeigen es Zitate in verschiedenen Filmen, neu entflammt. Aber irgendwie ist die Kluft zwischen den opulenten musikalischen Arrangements, die selbst die breiteste Breitwand noch ein wenig weiter aufreißen, und den Menschen der 90er, die diese Leinwand bevölkern, unüberbrückbar. Eine musikalische Komödie heute – sie bezieht ihren Witz nicht zuletzt aus offen ausgestellten Defekten.
Bei Alain Resnais, dem 75jährigen Altmeister des Autoren- und Studio-Kinos verhält es sich nicht anders. On connait la chanson, sein jüngster, in Frankreich immens erfolgreicher und mit Césars überhäufter Film, läßt Pariser Bürger immer wieder unvermittelt Gassenhauer intonieren – Schlager von Josephine Baker, Charles Aznavour, Sylvie Vartan, Johnny Halliday oder Serge Gainsbourg.
Es ist, als vollziehe sich mit diesem Sprung in altbekannte Melodien und Texte auch ein Übergang in einen Raum voller Erinnerungen. Resnais vermeidet aber die nostalgische Sentimentalität. In einem harten Verfremdungseffekt kippt die Tonspur um in reines Playback. Die Schauspieler beginnen, mit fremden Zungen singen. Beglückender Wahn kommentiert andere Doppelzüngigkeiten.
Das Leben ist ein Chanson: Der deutsche Titel verfehlt den Grundton von Resnais’ Inszenierung. Stimmiger wäre das Motto Erkennen Sie die Melodie! Wenn nämlich einmal das Konzept unvermittelter Kollisionen männlicher Protagonisten mit weiblichen Stimmen oder alter Schellackaufnahmen vor modernem Ambiente sich abzunützen droht, dann liegt der Rest an Witz und dramaturgischer Spannung in höchst subtilen Abweichungen und Zitaten.
Was, wenn Edith Piafs Klassiker Je ne regrette rien plötzlich nur rezitiert wird? „Ich bereue nichts“, sagt tatsächlich eine Dame ganz melancholisch bei einem Dîner. Mit einem Mal ist sie dann ganz einzigartig präsent, so wie später Jane Birkin, die sich mit Quoi gewissermaßen selbst covert: tieftraurig. Bei einem denkwürdigen Abschied, wie ihn nur große Bahnhofshallen zu ermöglichen scheinen.
Nicht nur in diesen Momenten wird klar: On connait la chanson ist in all dem Spielwitz seiner Protagonisten, im geistreichen Parlando der Dialoge und all seiner heiteren Musikalität, die die Kamerabewegungen quer durch mild erleuchtete Studioräume und Parklandschaften noch verstärken, eigentlich ein Versuch über die Traurigkeit.
Zwei Verliebte (André Dussollier und Agnès Jaoui), die da zueinander nicht kommen können, teilen zumindest den Hang zur Depression. Selbst Sabine Azéma und Pierre Arditi, die schon zuletzt in Resnais’ Doppelfilm Smoking/No Smoking ein redegewandtes, doch seltsam an Worten verzweifelndes Paar gaben, stehen sich hier letztlich wieder hilflos gegenüber. Wie bei Woody Allen spricht und singt jeder über die Liebe, ohne recht zu wissen, ob das nicht vertuschte Einsamkeit ist. Federleicht, aber unnahbar schweben Quallen gegen Ende, wo kein Schluß der Verstrickungen abzusehen ist, in Überblendungen durch eine Party. Und es ist kein Wunder, daß Alain Resnais seinen Film als Hommage an jenen großen britischen Drehbuchautor sieht, der dieses neue Genre der defekten Musicals eigentlich erfunden hat: 1994 starb Dennis Potter 59jährig an Krebs. Seinen größten Erfolg feierte er Mitte der 80er mit der TV-Serie The Singing Detective, deren Held, durch eine rätselhafte Hauterkrankung ans Bett gefesselt, sich an melodramatische, groteske Fälle erinnert. Und immer noch unterschätzt ist Potters Musical Pennies from Heaven, dessen US-Remake Steve Martin beklemmende Momente ermöglichte: Ein Alleinunterhalter in Zeiten der Rezession sang da vor einem Spiegel, als wäre er ein schutzloses Kind. Perfekte Lippensynchronisation zu ergreifenden Tondokumenten – ein letzter, lächerlicher, sehr filmischer Ausweg. Erkennen Sie sich durch die Melodie! (Claus Philipp, DER STANDARD, 30/4/1998)

"Alain Resnais, dem zuletzt das Spiel mit vermeintlichen Willkürlichkeiten – siehe Smoking und No Smoking – immer mehr Vergnügen bereitete, läßt in On connait la chanson endgültig alle Zügel schießen. Ein mehr als loses Handlungsgeflecht, in dem glücklich und unglücklich verliebte, verlobte, verheiratete Pariser Bürger miteinander zu tun haben, strukturiert er nach dem Muster kleiner, zu Herzen gehender Schlagertexte und Melodien.
Das Resultat ist eine zweistündige Hommage an den britischen Drehbuchautor Dennis Potter. Dessen TV-Held The Singing Detective hatte bereits Mitte der 80er Jahre bei seinen Ermittlungen immer recht unvermittelt alte Hits intoniert – oft im Playbackverfahren, auch mit weiblichen Originalstimmen, belustigend und melancholisch zugleich.
Resnais’ Protagonisten verfallen ähnlich unvermittelt in kurze Musikzitate, als würde hier eine Möglichkeit zum Musical im Raum schweben, während so mancher über Beklemmungen und Depressionen zu klagen beginnt. Kunstvoll entwickelt sich so ein Reigen von Liebschaften, Beziehungen und Berührungen, in dem letztlich nur Edith Piafs Je ne regrette rien nicht gesungen, sondern bei einem Dinner rezitiert wird – in einer Abhandlung auch über Pop und wie er unsere Gefühlswelt beeinflußt, bis die Hitparadenträume mit denen ihrer Konsumenten zusammenfallen in eine neue, völlig ungekünstelte, fast volkstümliche Authentizität. In Frankreich ist der Film einer der Publikumshits der Saison." (Claus Philipp, Der Standard)

"Selten hat man sich über Depressionen, Ehekrisen, Lebenslügen und unglücklich Verliebte derart amüsieren können wie in On connait la chanson. (...)
In On connait la chanson - das Drehbuch stammt von Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri, den Darstellern von Camille und Nicolas - dreht sich alles um Schein und Sein, um abstruse Mißverständnisse, Lügen und Verstellungen. Die finden sich sogar buchstäblich in den Dekors von Jacques Saulnier wieder: So erweist sich der versprochene wundervolle Ausblick auf Sacré-Coeur bei einer Wohnungsbesichtigung als so verbaut, daß Nicolas sich unter wilden Verrenkungen über die Balkonbrüstung beugen muß, um die Kirche überhaupt zu erblicken.
Im Zentrum des Films stehen die beiden Schwestern: Odile (Sabine Azéma), die erfolgreiche Geschäftsfrau im flotten roten Kostüm, sucht eine neue repräsentative Wohnung; Camille, das Mädchen im Schlabberlook, schreibt eine Doktorarbeit mit dem Titel „Die Freisassen am Lac Paladru des Jahres 1000". Alles scheint auch prima zu laufen - doch ihr Gatte Claude (Pierre Arditi) trägt sich mit dem Gedanken, sie zu verlassen. Camille verheddert sich in einem Gestrüpp hochnotpeinlich- komischer Irrtümer, die ihre ganze Unsicherheit offenbaren, erleidet nach bestandener Prüfung noch im Hörsaal den ersten Depressionsanfall, und ihre Verliebtheit in den jungen Immobilienmakler Marc (Lambert Wilson) gründet auf einem Mißverständnis.
Wie sich am Ende bei Odiles Einweihungsparty dann doch noch (fast) alles zum Guten wendet, das besitzt märchenhafte Züge." (Lars Penning, taz)

"Alain Resnais’ On connait la chanson ist eine Freude, gewissermaßen eine fröhliche, federleichte Ablenkung von den großen Fragen des Kinos, wenn es die überhaupt gibt. (...) Der eigentliche Erfolg des Films liegt in seinem Drehbuch, das eine Menge von Figuren miteinander verstrickt, ohne eine einzige zu vernachlässigen oder jemals den Überblick zu verlieren. Es stammt von Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri, die beide auch als glänzende Schauspieler auftauchen, zusammen mit Resnais-Veteranen wie Sabine Azéma, Pierre Arditi und André Dussolier. Die Dialoge sind voll winziger Dramen und präzisester Beobachtungen, gerade weil die Figuren ihr Innenleben eigentlich verheimlichen wollen und sich keinerlei philosophische Geschwätzigkeit erlauben. Resnais ist nicht weniger klarsichtig als andere Meister des französischen Kinos, die einen eiskalten Blick auf die Bourgeoisie werfen - aber er ist ein durch und durch warmherziger Beobachter." (Tobias Kniebe, Süddeutsche Zeitung)

"Keck, vergnüglich und geradezu perfekt von der ersten bis zur letzten Note, präsentiert Alain Resnais’ das leben ist ein chanson bekannte Melodien in cleveren neuen Arrangements. Ein schlaues urbanes Melodrama voller amüsanter Drehungen und Wendungen." (Lisa Nesslson, Variety)

"Eine der fixen Ideen der Nouvelle Vague und ihrer Abkömmlinge war immer schon das Musical. Wie Godard (Une femme est une femme) und Rivette (Haut bas fragile) hat nun auch Alain Resnais ein Singspiel inszeniert. On connait la chanson (zu deutsch, ein wenig ungenau: Das Leben ist ein Chanson) ist einem Mann gewidmet, der das Zusammenspiel von Wirklichkeit und Schlagerkitsch Zeit seines Lebens perfekt betrieben hat: Der Brite Dennis Potter setzt den ersten Ton in On connait la chanson, der sich spielerisch um Paris, die Liebe und eine Krankheit namens Zitat historisch macht. Resnais’ Interesse gilt den trivialen Sprechweisen, die das Kino sich bewahrt hat, den künstlichen Modulationen dessen, was einmal wirklich war. In sich selbst versunken träumt André Dussollier da von der Liebe, indem er die Lippen zu Bécauds Nathalie bewegt, während Pierre Arditi zwischen zwei Sätzen noch Serge Gainsbourgs Je suis venu te dire que je m’en vais probt, mit dem er Sabine Azéma seinen Abschied klarzumachen plant. In Jane Birkin, die schließlich das Playback ihres eigenen Liedes Quoi übernimmt, werden dann - in einem wunderbar ironischen Moment dieses Films - einmal gar Stimme und Körper, Zitat und Original ident." (Stefan Grissemann, Die Presse)

Können 2,2 Millionen Franzosen irren? So viele drängten sich jedenfalls in diese spitzfindige musikalische Komödie über Liebeswirren und Wohnungssuche. Lalala... Nichtfranzosen sollten dennoch von vorschneller Nachahmung erst einmal Abstand nehmen. Sich ernsthaft drei Fragen stellen, bevor sie sich in dieses Abenteuer stürzen: Halte ich (im Falle mangelnder Französischkenntnisse) zwei Stunden Untertitel aus? Sind für mich Angehörige einer Nation mit der stärksten Atomlobby der Welt überhaupt zu natürlichen, für mich nachfühlbaren Emotionen fähig?
Würde ich statt „La vie en rose“ nicht doch lieber „Satisfaction“, „Men in black“ oder „Du narrischer Kastanienbaum“ hören? Lalala? Denn der eigentliche Clou von Alain Resnais jüngstem Streich ist das unvermittelte Ausbrechen sprechender Personen in Gesang. Präziser: geliehenem französischen Schlagergesang, sprich: Chansons. Lalala. Da verliebt sich ein Mann gerade in eine Fremdenführerin und singt in jäher Gefühlsaufwallung ein paar Takte aus dem weltbekannten Urlaubsliebe-Chanson „Natalie“; mit Gilbert Becauds Originalstimme wohlgemerkt.
Mitten in einem Ehestreit läßt der wütende Gatte für sich Alain Delon sein „Parole, Parole“ keifen. Alle paar Minuten kippt ein Dialog in einen Chansonfetzen um . . . Lalala. Das kann ebenso amüsieren wie enervieren. Zum musikalischen Ulk kommt das Versteckspiel guter wie böser Absichten, Empfindungen etc. dreier Frauen und Männer unterschiedlicher (Alters-)Klasse.
Man erfährt, daß die süße Camille an einer gelehrten Disseration arbeitet und nebenjobmäßig Touristen durch Paris führt. Daß Odiles alte Liebe nicht rostet. Daß Immobilienmakler (wie Marc) ziemlich miese Typen sind. Und daß diese Demaskierungsposse ziemlich banal und kindisch wirken würde, wenn da nicht immer und überall ein Chanson lauerte wie die das Amen im Gebet... Lalala. (Rudi John, KURIER)

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MR. MAGOO (MR. MAGOO)

USA 1998. 87 Min
Regie: Stanley Tong, Buch: Pat Proft, Tom Sherohman, Kamera: Jingle Ma, Schnitt: Stuart Pappé, David Rawlins, Michael R. Miller, Darsteller: Leslie Nielsen (Mr. Magoo), Kelly Lynch (Luanne), Matt Keeslar (Waldo), Nick Chinlund (Bob Morgan), Stephen Tobolowsky (Agent Chuck Stupak)
Kinostart: 1/5/1998

Eine weitere klassische und liebenswerte Cartoon-Figur der 60er Jahre schafft den Sprung auf die Leinwand. Der kurzsichtige und superreiche Mr. Magoo tritt dabei in die Fußstapfen von "Dennis - die Nervensäge", "Familie Feuerstein", etc. Als Quincy Magoo in Besitz eines seltenen Edelsteines kommt, auf dem ein Fluch zu liegen scheint, stürzt alles ins Chaos. Doch Mr. Magoo meistert auf abenteuerliche Weise die Situation. Dabei kommt das Juwel auf Umwegen immer wieder zu ihm zurück.
Leslie Nielsen in einer Rolle, die er schon in zig Filmen verkörpert hat. In dieser Agentenfilmparodie (man denke nur an "Agent00") kann er jedoch kaum Neues hinzufügen, wodurch der Film im Gesamten eher wie schon mal gesehen wirkt. (film.de)

Nach einer Zeichentrickserie der 50er und 60er Jahre entstandener Realfilm um einen maulwurfsblinden Rentner und Multimillionär, der unfreiwillig in die außergewöhnlichsten Situationen stolpert, heilloses Chaos anrichtet und seiner Umwelt unbewußt das Leben zur Hölle macht. Eine nur wenig interessante Komödie, deren passabler Hauptdarsteller gegen viel Leerlauf anzukämpfen hat und dessen Buch den bösen Witz der Vorlage eher harmlos, mitunter auch plump und lächerlich umsetzt.
Gemäß seiner Vorlage beginnt der Film mit einem animierten Intro, frei nach der gleichnamigen Cartoon-Serie aus den 50er Jahren. Verwandelt sich dann nach drei Minuten die Zeichentrickfigur in die fleischgewordene "Realität" eines Leslie Nielsen, ist es um den anarchischen Humor der Vorlage größten Teils geschehen. Dann reiht sich auch "Mr. Magoo" in die Reihe mißlungener Comic-Realverfilmungen ein. Leslie Nielsen spielt also den maulwurfsblinden Rentner, der wider Willen in absurdesten Slapstick-Orgien mit Gangstern und Ganoven aufräumt. Und Nielsen löst seine Aufgabe souverän; kein anderer hätte Jim Backus' Erbe in ähnlicher Manier antreten können. Backus, dessen Synchronstimme in den 50er Jahren 53 "Mr. Magoo"-Short-Cartoons eine Seele verlieh und der in den 60er Jahren etliche weitere Staffeln der berühmten Serie synchronisierte, wurde nie die Ehre zuteil, selbst die Rolle des Mr. Magoo zu spielen. Eine Ähnlichkeit war zwar vorhanden, nur hatte, bis Produzent Ben Myron auf die Idee kam, Mr. Magoo Fleisch und Blut werden zu lassen, niemand den Mut, an den Comic-Klassiker Hand anzulegen. Die Realverfilmung hat gleich mit mehreren Problemen zu kämpfen. Zunächst, das grundsätzliche, mit dem fast jede Cartoon-Verfilmung zu kämpfen hat: Wie bläst man ein 30-Minuten-Format auf Spielfilmlänge auf, ohne den Verve, den die Serie auszeichnet, zu verraten? Entweder man kombiniert mehrere Folgen zu einem holprigen Ganzen oder man füllt ein Abenteuer mit möglichst viel Dialog und Mini-Sketchen. Letzteres taten die Drehbuchautoren in absehbar unbefriedigender Art und Weise.
Mr. Magoo, der als Multimillionär und Kunst-Mäzen eine Ausstellung, in der der legendäre Rubin "Stern von Kuristan" zu sehen ist, eröffnen darf, wird unwillens Zeuge eines Raubversuches. Doch gelingt das Vorhaben der Meisterdiebin Luanne Laseur nicht ganz, und Magoo, der, wo er steht und geht, ein Chaos hinterläßt, nimmt das Juwel unwissentlich mit nach Hause. Das zieht nicht nur den Zorn der Diebin auf sich, die fortan alles versucht, um die Beute an sich zu nehmen, auch das Museum und die Regierung Kuristans sind äußerst mißgestimmt ob des Verlustes des Staatsschatzes. Mr. Magoo wäre aber nicht Mr. Magoo, wenn er nicht, mit tatkräftiger Hilfe seines Hundes Angus und unter Erzeugung größten Durcheinanders, doch wieder alles ins Lot bringen würde. Dieses Handlungsgerüst wird durch Reisen an exotische Orte - die es zu verwüsten gilt - aufgebläht, überflüssige Killer und Juwelenliebhaber werden eingeführt, um weitere Gegner für Magoo zu liefern. Letztlich überwiegen die Längen die pointiert sitzenden Slapstickeinlagen. Ein weiteres Problem, das "Mr. Magoo" nicht lösen kann, ist das der Slapstickeinlagen. Die Zeichentrickvorlage bezieht ihren Witz, ähnlich wie "Tom und Jerry", aus dem explizit gewalttätigen, schier unglaublichen Chaos. In naturalistischer Art und Weise ist das nicht zu leisten, auch wenn mit Stanley Tong ein versierter Stuntman und Regisseur der letzten beiden Jackie-Chan-Filme zu Verfügung stand. So wirken viele "Katastrophen" eher harmlos und schlimmstenfalls plump und lächerlich. Auch kann der Gewalt, die das Comic-Genre verlangt, in der Realverfilmung kaum Genüge getan werden - zumal, wenn eine Altersfreigabe unter 12 Jahren angestrebt wird. Das letzte Problem liegt im Image des Hauptdarstellers selbst. Es ist untrennbar mit den Abrahams/Zucker-Persiflagen verwoben. Nur leider wird jeder Zuschauer, der ähnliches erwartet, enttäuscht werden, da der Humor in "Mr. Magoo" nur selten so anarchisch, respektlos und absurd ist wie in "Die nackte Kanone" (fd 27 447). So sieht man letztlich nur einen Film voll unrealisierbarer Versprechungen und verschenkter Möglichkeiten. (Jörg Gerle, film-dienst)

Was dabei herauskommen kann, wenn Disney versucht, Cartoonfiguren Leben einzuhauchen, hat man bereits im Film “101 Dalmatiner“ gesehen. Nämlich ein voller Erfolg, weil putzige Hündchen (die gezeichnet nie sooo lieb sein können) gegen eine geborene Böse wie Glenn Close kämpfen und siegen, wobei das schon die ganze Story war. Oder nur ein gutgemeinter Versuch, wie dieser „Mr. Magoo“, der trotz Starbesetzung - Leslie Nielsen, Kelly Lynch- und Actionregisseur (Stanley Tong) dennoch keine wirkliche Riesengaudi wurde.
Es hapert nämlich am Drehbuch. Die Story (Jagd nach einem Edelstein, der sich zuerst im Besitz des ahnungslosen Millionärs Magoo und dann in den Händen von Gaunern befindet) ist mindestens so kurzsichtig wie ihr Held. Auch fehlt der richtig fiese Fiesling als Gegenpol zu Nielsens wirklich liebenswertem Magoo, der, würde er endlich seine Schwachsichtigkeit zugeben, sicher eine rosarote Brille hätte. Leider hat man vergessen, ihm gute Gags zu schreiben, die über die sehfehlerbedingten Fettnäpfchen hinausreichen (na gut, sieben bis vier witzige sind hier aber dabei).
Die Actionszenen werden meist von Frau Lynch als kickboxende Meisterdiebin Luanne Le Seur getragen, die auch sportlich recht talentiert scheint. Ex-Clockworker Malcolm McDowell steht ab und zu auch im Bild herum - mehr bleibt über ihn nicht zu sagen. Heimlicher Co-Star Nielsens ist übrigens eine englische Bulldogge namens „Angus“ - man hätte ihr ruhig eine größere Rolle geben können - die sicher viele Sympathiepunkte einbringt. Auf die Zielgruppe - also Kinder - bezogen, reicht die Mischung aus Action und Komik sicherlich aus; für Nielsen-Fans ist es ein erneuter Beweis dafür, wie dankbar man für seine „Nackte-Kanone“-Trilogie sein muß. (heob, KURIER)

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AUF DER JAGD (US-MARSHALS)

USA 1997. 131 Min
Regie: Stuart Baird, Buch: John Pogue, Musik: Jerry Goldsmith, Kamera: Andrzej Bartkowiak, Schnitt: Terry Rawlings, Darsteller: Tommy Lee Jones (Samuel Gerard), Wesley Snipes (Sheridan), Robert Downey jr (Royce), Joe Pantoliano (Renfro), Kate Nelligan (Walsh), Irène Jacob (Marie)
Kinostart: 1/5/1998

Ein Undercover-Agent, der des zweifachen Mordes beschuldigt wird, kann bei einem Gefangenentransport fliehen, als das mit Häftlingen besetzte Flugzeug abstürzt. Ein Deputy Marshal und sein Team machen sich auf die Suche und kommen dabei einer Geheimdienst-Verschwörung auf die Spur, deren Fäden am Sitz der Vereinten Nationen in New York zusammenlaufen. Ein handwerklich solide inszenierter Actionthriller, der sich als Fortsetzung des Films "Auf der Flucht" versteht. Anstelle der dort interessant aufgebauten Gegenüberstellung von Jäger und Gejagtem tritt hier ein über weite Strecken auf bloße Schauwerte setzendes Routineprodukt, das vor allem am mangelnden Profil der Hauptfiguren scheitert; schauspielerisch bietet der Film daher kaum eine Herausforderung.
Während der Originaltitel eher nichtssagend klingt, hängt sich der deutsche Verleih deutlich an jenen Film, dessen Sequel "Auf der Jagd" sein will: "Auf der Flucht" (fd 30 442) war ein brilliant inszenierter Actionfilm, entstanden nach Motiven einer Fernsehserie, eine Variation über das Hitchcocksche Thema "Unschuldig gejagt". Seine Attraktivität erhielt der Film weniger durch seine äußere Dynamik und die spektakulären Schauplätze als vielmehr aus der komplexen, ständigem Wandel unterzogenen Beziehung zwischen Jäger und Gejagtem. Harrison Ford mußte sich als des Mordes Verdächtigter nicht nur einem zunehmend außer Kontrolle geratendem Polizeiapparat erwehren, sondern auch einer öffentlichen Hetzkampagne und sogar Vorbehalten in der eigenen Familie. Gleichzeitig entwickelte sich Tommy Lee Jones auf Grund der Indizien, die für Ford sprachen, vom unbarmherzigen Racheengel zur einzigen Überlebenschance des Gejagten, bis beide auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen waren. Das Grundproblem eines jeden Sequels ist es, einerseits die Motive, die den Vorgänger zum Erfolg geführt haben, zum Zweck der Wiedererkennung einzuarbeiten, diese aber andererseits so zu variieren, daß der neue Film eine Existenzberechtigung erhält. Im Fall von "Auf der Jagd" ist man genau den falschen Weg gegangen. Anstatt erneut zwei charismatische Hauptfiguren in einen direkten, existentiellen Wettstreit zueinander zu stellen, setzte man vor allem auf Schauwerte. Zum größten Teil entfesselt der Film nichts weiter als eine gnadenlose Jagd, wobei von einer möglichen Unschuld des Gejagten zunächst gar nicht die Rede ist. Im Gegenteil: Wesley Snipes - ein Undercover-Agent, der der Polizei eher zufällig ins Netz geht und nur auf Grund seiner Pistole, die eine Tatwaffe ist, des zweifachen Mordes verdächtigt wird - scheint ein mit allen Wassern gewaschener schwerer Junge zu sein. Daß er keinem sozialen Umfeld zugerechnet wird, um seine Situation zu einem Kampf Einer-gegen-alle zu stilisieren, verstärkt diesen Eindruck noch. Nach einem ersten spektakulären Intro auf der Straße mit reichlich anfallendem Schrott folgt ein zweites, das das erste an Materialaufwendung um Längen schlägt: Im Stil von "Con Air" (fd 32 586) fällt ein mit Häftlingen besetztes Flugzeug vom Himmel und in einen See. Bei all dem Durcheinander kann nur einer fliehen, nämlich Wesley Snipes.
"Ich bin unschuldig", stöhnt er irgendwann endlich ins Telefon, und am anderen Ende der Leitung steht, man traut seinen Augen kaum, Irène Jacob, Kieslowskis zweimalige Hauptdarstellerin, als Snipes' Geliebte - und das heißt, aus Sicht des ersten Teils, als Gangsterbraut. Nicht genug, daß Jacob selbst offenbar nicht viel mit ihrer Rolle anfangen kann: Von dem anfänglichen negativen Eindruck erholen sich beide Figuren nicht mehr, auch wenn sich die Indizien für eine Verschwörung mehren. Auf der Jägerseite steht erneut Tommy Lee Jones, der nach dem "Oscar" für seine Rolle in "Auf der Flucht" als Deputy Marshal nun von Anfang an der Gute sein darf. So gut, daß Drehbuchautor .John Pogue Snipes kaum eine Chance gibt, sich zu profilieren. Eine interessante Idee ist sicherlich, Jones enger in sein Team einzubinden und damit den Nebenfiguren mehr Raum zuzugestehen. Der Ermüdung, die die Einseitigkeit der Perspektive dennoch hervorruft, versuchen Pogue und Regisseur Stuart Baird mittels einer Unmenge von Actionszenen zu begegnen, sowie einer Spionagegeschichte, deren Fäden am Sitz der Vereinten Nationen in New York zusammenlaufen. Ausgangspunkt der Ermittlungen, die Snipes zunehmend in ein anderes Licht stellen, ist ein Video, aufgenommen von Überwachungskameras in der Tiefgarage der UN, auf dem eine dubiose, tödliche Kofferübergabe zu sehen ist. Von Anfang an stellt sich da die Frage, weshalb erfahrene Agenten halbseidene Geschäfte mit Todesfolge ausgerechnet in der Tiefgarage des UN-Hochhauses abwickeln, einem der wahrscheinlich bestüberwachten Gebäude der Welt. So etwas wäre Hitchcock nicht passiert.
Abgesehen davon ist "Auf der Jagd" sicher kein schlechter Film. Die gerade genannte wie auch manche andere Sequenz sind handwerklich und stilistisch einwandfrei inszeniert. Stuart Baird hat sich in 20 Jahren ein beachtliches Renommée als Cutter zugelegt, bevor er mit "Einsame Entscheidung" (fd 31 901) sein Regiedebüt gab. Doch was für jenen Actionthriller galt, gilt auch für diesen: Über den Stellenwert eines routinierten Genreprodukts kommt der Film nicht hinaus, weil er als Ganzes und besonders im Hinblick auf seine Hauptfiguren nicht genügend Profil entwickelt. (Oliver Rahayel, film-dienst)

Nimmt man allein die Frequenz, muß unser Arnie Schwarzenegger gegen den Superstar aus Deutsch Wagram als geradezu unterbeschäftigt angesehen werden. Kaum ein Hollywood-Schußwechsel, in dem die schwarze Diva made in Austria nicht mit tödlicher Sicherheit öfters ins Bild käme. Auch in diesem Sequel des Actionhits „Auf der Flucht“ fällt ihr wieder einmal eine entscheidende Rolle zu.
„Sie brauchen eine Glock und nicht so ein Ding aus dem Kaugummiautomaten,“ knurrt Tommy Lee Jones als in jeder Hinsicht vernarbter U.S.-Marshal Gerard einen smarten Agenten mit chromfunkelnder Schickimickikanone an, den ihm der CIA als Partner aufs Auge gedrückt hat.
Ein Tip: Wer an dieser Stelle gut aufpaßt, blickt beim finalen Showdown eher durch als die anderen. Zurück zur Glock: Bald nach dem erwähnten Zwischenfall spielt die berühmte Bleispritze eine eindrucksvolle Doppelrolle (der U.S. Marshal besitzt klarerweise auch eine). Statt Harrison Ford als Dr. Kimble diesmal auf der Flucht - und Gegenspieler des hier eigentlichen Helden Marshal Gerard - ist Wesley Snipes als Mark Roberts. Black man in black.
Unschuldig inhaftiert und mehrerer Morde angeklagt, kommt seine Chance bei der harten Notlandung eines Gefangenentransportflugzeugs, das in den Ohio-Fluß stürzt. Roberts taucht erst im Wasser, dann im Sumpf und schließlich in New York unter. Wie ist die Treibjagd auf ihn? Gnadenlos. Was wird ihm und dem Zuschauer gemeinsam geraubt? Der Atem. Worauf läuft das mörderische Komplott korrupter Geheimagenten hinaus?
Auf ein Happy-End - eine Art french connection (Roberts weiße Freundin ist Französin). Die letzte Frage: Was macht diesen Reisser so einzigartig? Daß er es gar nicht ist . . . und sein will. Er möchte genauso seinem Vorgänger nur nacheifern wie Ludwig der XV. dem XIV. Und schafft es auch nicht... Das aber wenigstens so spannend, daß es uns ziemlich egal sein kann. (Rudi John, KURIER)








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