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In Österreich am 22. Mai 1998 neu angelaufene Kinofilme


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HARRY AUSSER SICH (DECONSTRUCTING HARRY)

USA 1997. 95 Min
Regie: Woody Allen, Buch: Woody Allen, Kamera: Carlo DiPalma, Schnitt: Susan E. Morse, Darsteller: Woody Allen (Harry Block), Caroline Aaron (Doris), Kirstie Alley (Joan), Hy Anzell (Max), Annette Arnold (Rosalee), Billy Crystal (Larry), Judy Davis (Lucy), Demi Moore (Helen), Robin Williams (Mel), Elisabeth Shue (Fay), Amy Irving (Jane)
Kinostart: 22/5/1998

Schreibhemmung. Die Gedanken sind blockiert, der Fluß der Wörter versiegt. Die Erzählungen lassen sich nicht mehr auf den Punkt bringen, der neue Roman ist nach den ersten Kapiteln ins Stocken geraten. Diese furchtbare Erfahrung muß der erfolgreiche New Yorker Autor Harry Block (Woody Allen) mitmachen. Das allein ist schon schlimm genug, doch das Schreiben war für ihn auch immer ein Ventil für seine Probleme mit seinen drei Ex-Frauen, seiner Familie, der jüdischen Tradition und Tod und Teufel. Nun kommen all diese Personen auf ihn zu und beginnen zurückzuschlagen. Auch die fiktiven Personen treten in sein Leben ein und beginnen einen Dialog.
Ein echter Woody Allen-Film mit allem, was man erwartet - manches mal auch ein wenig mehr. Nur Woody Allen ist in der Lage, den armen Schriftsteller nach allen Regeln der Kunst mit Satire und Sarkasmus zu zerlegen. Fazit: Unbedingt anschauen! (film.de)

Ein New Yorker Schriftsteller, der unter einer Schreibblockade leidet, erlebt den Einbruch des Chaos, weil es ihm nicht mehr gelingt, durch den Akt des Schreibens sein Leben zu ordnen. Seine Erinnerungen verselbständigen sich, von ihm erfundene Figuren halten ihm den Spiegel vor Augen, und am nächsten Tag will ihn ausgerechnet jene Universität ehren, von der er als Student geflogen ist. Woody Allens bislang schwärzeste Komödie ist ein vor Einfällen, Anspielungen und mitunter derbem Humor überschäumendes Werk, das mit vielen Charakteren, Namen und bekannten Darstellern aufwartet. Seine komplexe, stilistisch aber sichtbar gemacht Struktur gibt sich als dekonstruktivistisches Spiel zu erkennen, hinter der gleichwohl die Selbstthematisierung und -gefährdung einer künstlerischen Persönlichkeit aufscheint.
Woody Allen bleibt ein undurchschaubares Rätsel. 26 Filme hat er in den letzten 29 Jahren gedreht, ohne müde zu werden oder sich zu wiederholen, selbst wenn seine großen Themen, Sex und Selbstzweifel, Tod und der jüdische Gott, noch in jedem "Woody Allen" aufschienen. Die autobiografischen Bezüge dieses formal wie inhaltlich vielschichtigen Schaffens nährten dabei stets den Verdacht, dem Autor persönlich über die Schulter zu schauen. Doch die Vorbehalte gegen Allens jüngsten, nach "Ehemänner und Ehefrauen" (fd 30 073) wohl radikalsten Film resultieren mehr aus "p.c."-Gründen als aus der Eigenart des vor Einfällen, Anspielungen und einer mitunter recht derben Komik überschäumenden Werkes. Allen spielt Harry Block, einen neurotischen Schriftsteller, den der berühmt-berüchtigte "writer's block" im Würgegriff hat. Was dies für den fast manisch um sich kreisenden Künstler bedeutet, erlebt man hautnah und direkt - in und um Harry tobt das sprichwörtliche Chaos. Seine Erinnerungen verselbständigen sich, literarische Figuren, die er erfunden hat, halten ihm den Spiegel vor Augen, Szenen aus seinen Büchern kommentieren oder illustrieren seine desolate Seelenlage, die zu stabilisieren sich bereits der sechste Analytiker vergeblich bemüht. Zu allem Überfluß soll Harry anderntags nach Connecticut reisen, wo ihn jene Universität ehren will, von der er einst als Student in hohem Bogen gefeuert wurde.
Das Durcheinander von Alltagswelt, Fantasiegebilden und Tagträumereien serviert Allen als filmisches 3000-Teile-Puzzle, bei dem man eine Weile braucht, um sich zurecht zu finden. "Jump Cuts", Wiederholungen und "falsche" Anschlüsse, die in der Eingangssequenz noch einer fehlerhaften Kopie zugeschrieben werden könnten, dienen als Strukturierungshilfen, wenn "fiktive" Episoden in Harrys "reale" Erlebnisse montiert sind. Beim ersten Sehen dürfte es trotzdem schwerfallen, die unüberschaubare Zahl von Figuren, Namen und bekannten Gesichtern richtig zuzuordnen - was nicht weiter stört, weil es den Ameisenhaufen im Kopf des Schreibgehemmten anschaulich illustriert. Denn Harry ist nicht nur von Pillen, Schnaps und Prostituierten abhängig, sondern lebt davon, alles, was ihm begegnet, in Literatur zu verwandeln. Weil er dabei auch ungeniert sein Privatleben und insbesonders verfängliche Situationen mit seinen drei Ex-Frauen plündert, ist niemand gut auf ihn zu sprechen. Alle Versuche, einen seiner Bekannten als Begleiter für die Uni-Feier zu gewinnen, stoßen daher auf brüske Ablehnung. Andererseits bewältigt Harry kritische Momente meist dadurch, daß er eine Episode aus seinen Büchern zum Besten gibt - was zwar kein Problem wirklich löst, die Symbiose zwischen Schriftsteller und Werk aber unaufhaltsam vorwärts treibt. Auf der Leinwand führt dieses Verhalten zu einer raschen Abfolge scheinbar zusammenhangsloser Szenen, in denen immer neue Akteure erscheinen, die - um die Verwirrung komplett zu machen - durchaus ein und diesselbe Person verkörpern können, je nachdem, ob sie real, eine literarische Transformation oder pure Erfindung ist. Erst nachdem Harry die schwarze Hure Cookie als Reisegefährtin engagiert und gemeinsam mit seinem Sohn Hilly und dem herzkranken Richard Richtung Adair University aufbricht, hat sich der Handlungsfaden so weit herauskristallisiert, daß man dem Gang der Entwicklung relativ stringent verfolgen kann.
Die Struktur dieser unfreiwilligen Konfrontation mit sich und seinem imaginären Universum, auf die der Originaltitel anspielt, folgt Ingmar Bergmans "Wilde Erdbeeren" (fd 10 365), wo sich ein alter Professor auf dem Weg zu einer akademischen Ehrung Rechenschaft über sein äußerlich erfolgreiches, insgeheim aber leeres Leben gibt. Bergmans existentialistischer Ton ist bei Woody Allen sarkastisch bis zynisch gebrochen und durch exzessive Anleihen aus dem "Four-Letter-Word"-Bereich in einen ziemlich profanen Kontext transferiert. Der Tod pocht als theatralischer Sensenmann an die Apartmenttür, in der feuerroten Fellini-Hölle residiert ein süffisanter Verführer, und Harrys toter Vater, den die Aussöhnung mit dem Sohn aus der ewigen Verdammnis befreit, wünscht sich in ein China-Restaurant, weil er an den Himmel nicht glaubt. Der deftige Humor, mit dem Allen ein gewohnt atemloses Verbalfeuerwerk abbrennt und dabei an der Gürtellinie Maß nimmt, ist gewiß nicht jedermanns Sache. Kleine Ausrutscher wie den, ob auch der amerikanische Präsident bei jeder Frau immer nur an das eine denken muß, sind eher die Ausnahme, weil Allen meistens aus dem unerschöpflichen Fundus seiner Manien schöpft: Judaica, Frauen, Sexualität und Psychoanalyse. Das führt dann zu herrlich ironischen Grotesken wie der während der Einschulung seines Sohnes, als Harry den Unterschied zwischen Gott und den Frauen erklären will, von denen der eine nur eventuell, die anderen aber ganz gewiß existieren, und der Kleine ihm voller Stolz eröffnet, daß er seinen Penis "Dillinger" nennen will. Man kann diese bitterschwarze Komödie unschwer als dekonstruktivistischen Film interpretieren, der sein filigranes Erzählgerüst nicht verschleiert, oder aber als Zettelkasten mit der Aufschrift "Woody Allen" verstehen, in dem viele Schlüsselmotive des notorischen Monologisierers zusammengetragen sind. Auch wer darauf aus ist, Allen Stewart Konigsberg oder seinem künstlerischen Genius auf die Spuren zu kommen, wird in der "Lösung" der Schreibblockade einen (vermeintlichen) Freibrief erkennen: die (Selbst-) Erkenntnis Harrys, im "wirklichen" Leben zu scheitern, im Reich der Kunst aber alle Möglichkeiten entfalten zu können, verwandelt sich flugs in den Anfang einer literarischen Figur, deren filmischer Geburt man eben beiwohnte. Viel spannender aber als die Rekonstruktion des Regisseurs bleibt die Ausdeutung seiner Geschichte, die in der Absolution Harrys durch seine Figuren gipfelt: Sie besänftigen seine Schuldgefühle und spenden ihrem Schöpfer warmen Applaus, weil er sich nicht scheut, Trauer und Freude, Depression und Übermut als Zustände zu schildern, die nahe beieinander liegen. Hier, auf dem Olymp der Fantasie, bemächtigt sich ein Friede der Brust des Künstlers, den er andernorts vergeblich sucht. Die Devise, sich selbst zu erkennen und ernst zu nehmen, indem man seine Grenzen akzeptiert, ansonsten aber den Herausforderungen des Lebens nicht auszuweichen, gilt zwar in beiden Sphären, läßt sich im Reich des Imaginären aber weitaus leichter befolgen. In dieses programmatische, nicht ganz unproblematische Credo mündet die Krise des Schriftstellers, der bildlich "out of focus" geriet und angesichts massiver Anschuldigungen und eines schlechten Gewissens seine Kontur und Orientierung verlor. Harry Block, der schmächtige, wuselige Künstler mit der schwarzen Hornbrille, ist ein tragische Figur: ohne aus der Leinwand herab ins Leben gefallen zu sein, spürt er eine tiefe Sehnsucht in sich, die nur im kreativen Dialog mit dem Reich der Schatten vorübergehend gestillt werden kann. Weshalb die nächsten Stücke aus "seiner" Feder nicht lange auf sich warten lassen. (Josef Lederle, film-dienst)



"Harry außer sich" - Woody, Tod und Teufel. Woody Allen wieder einmal in Glanzform: Sein neuer Film "Harry außer sich" ist ungeschönte Selbstbespiegelung und vielfigurige menschliche Komödie zugleich.
Wenn ein alter Sünder wie Harry Block in die Hölle fährt, steigt er heutzutage natürlich in einen Lift wie im Kaufhaus, und eine freundliche Durchsage-Stimme gibt von Etage zu Etage Informationen. Zum Beispiel die Abteilung "Medien" ist, wie man hört, derzeit wegen Überfüllung geschlossen.
Harry Block will - das Beispiel tragischer Helden wie Orpheus oder Gilgamesch vor Augen - dem Fürsten der Finsternis sein Liebstes entreißen, das der geraubt hat. Doch Satan tritt ihm, charmant, charmant, in Gestalt eines kupplerischen Freundes gegenüber, der ihm ausmalt, mit welch lusterfahrenen Sünderinnen sich Harry hier unten bekannt machen könnte, und über dem Fachsimpeln gerät dem die entführte Freundin aus dem Sinn.
Es ist - Buch, Regie, Hauptrolle: Woody Allen - eine ziemlich katholische Hölle (eine jüdische gibt es ja nicht), ein wenig blocksberghaft, schon Harrys Namen zuliebe, und ein wenig nach Dantes Modell, jedenfalls etwa so, wie sie sich einer von Woody Allens Lieblingsregisseuren ausgemalt haben könnte: fellinesk - viel Röte also, viel Feuerschein und verlockend barockes Fleisch in Bergen.
Natürlich ist Harry Blocks Höllenfahrt ein Traum, und natürlich erlöst er, wie das mit Träumen so ist, nicht von dem Schmerz, der ihn in Bewegung brachte: Harry, erfolgreicher Schriftsteller sowie bekennender zwanghafter Schürzenjäger und Hurenbock, hat die schöne junge Fay in seinem Gefühlshaushalt vom Fan und Groupie zur Schülerin und Gefährtin aufsteigen lassen, hat ihr sogar das Kommando über die TV-Fernbedienung eingeräumt - und dennoch ist sie ihm abhanden gekommen, abgeworben durch einen simplen Heiratsantrag, wie ihn jeder Idiot machen kann; von jenem allzu charmanten Freund, der ihm dann im Traum, logisch, als Satan mit dem routinierten Entertainerlächeln entgegentrat, das Vergessen versprach.
Ein Fellini-Held wäre auch in diesem Inferno nicht von der ewigen Jagd nach dem Weib abzubringen gewesen, ein Ingmar-Bergman-Held wiederum hätte ohnehin nie an Erlösung geglaubt. Vielleicht gilt bei Woody Allen: Nicht die anderen sind, entgegen verbreiteter Meinung, die Hölle, sondern immer wir selbst.
Die reale Hölle, in der Harry Block schmort, ist ein Provinzknast in Connecticut, wo er als vermeintlicher Kidnapper oder gar Kinderschänder eingelocht wurde. Und ausgerechnet Fay und ihr Galan (dargestellt von Elisabeth Shue und Billy Crystal) sind, noch im Kostüm, von ihrer Hochzeitsparty ins Gefängnis geeilt, um den Unglücksritter Harry aus diesem Abgrund von Demütigung zu erlösen. Hatte er sich nicht eigentlich aus dem vertrauten Biotop Manhattan auf die Fahrt nach Connecticut gemacht, um sich dort von seiner alten Universität feiern zu lassen?
Man muß sich Harry Block als einen Schriftsteller vorstellen, der - wohl so ähnlich wie sein Generationsgenosse Philip Roth - mit Witz, Virtuosität und einer Portion spezifisch jüdischer Misanthropie (wahlweise: jüdischem Selbsthaß) das eigene Leben zu Literatur ausmünzt, besonders die Frauengeschichten, immer frischweg und immer haarscharf am pur Autobiographischen vorbei. Deshalb beginnt die Geschichte von Harry, wie sie der Film "Harry außer sich" ("Deconstructing Harry") erzählt, mit dem hinreißend furiosen Auftritt einer Ex-Frau (Judy Davis), die ihm sein jüngstes Buch um die Ohren knallen will: Er habe nicht nur Intimstes ausgeplaudert, so wütet sie, sondern auch noch aufs schmutzigste übertrieben, und dabei fuchtelt sie wild entschlossen mit einer Pistole - endlich ein Ende mit all dieser Literatur!
Ach, so lang hatte Harry den egomanen Lauf seiner Dinge in sicherem Griff. Die Liebesaffären, die Ehen, die Psychoanalytiker folgten aufeinander, und die literarische Produktion lief reibungslos. Zwar brachte ihn die Simultan-Liaison mit zwei Schwestern ins Schwitzen, als ihm eines Tages auf dem Sprung von der einen zur anderen eine unwiderstehliche Dritte über den Weg lief, eben die schöne Fay. Auch die Affäre und Ehe mit einer Psychoanalytikerin (Kirstie Alley) explodierte in ihrer ganzen immanenten Dramatik, als seine Frau ihn mit einer ihrer Patientinnen erwischte. Aber all diese Lebensqual war doch erstklassiger Literaturstoff!
Und nun nichts mehr! Ebbe! Auch ein notorischer Betrüger verfällt als Betrogener dem Selbsthaß. Fays Treulosigkeit hat den Roman kaputtgemacht, der aus ihrer Beziehung hätte werden sollen, sogar der Vorschuß dafür ist schon aufgebraucht - und wie ein Blitz hat den Verlassenen jene lähmende Depression getroffen, die bei amerikanischen Schriftstellern "writer's block" heißt. Keine Zeile gelingt mehr. So erweist sich der Nomen spät doch als Omen, und Harry gibt den zerknirschten Schmerzensmann.
Wäre er nicht zum Tragödienhelden tauglich? Doch wenn Harry mit Hiobs-Rhetorik klagt: Wer könnte schlimmer sein als ich? kriegt er prompt wie einen Tiefschlag die Antwort: Hitler! Und wenn er mit Berufung auf einen gewissen Sophokles jammert: Nie geboren zu sein wäre das Beste! kommt die quicke Replik: Fällt dir das nicht ein bißchen spät ein?
Zu den Überzeugungen Woody Allens, die man ihm glauben muß, auch wenn sie verquer scheinen, gehört die Ansicht, daß die Tragödie als Kunstgattung allemal wertvoller als die Komödie sei und daß er, Fachmann für Satyrspiele, folglich nie als wahrhaft großer Künstler gelten könne. Das Dilemma ist nicht neu, schon Molière und Nestroy haben sich als Tragödiendichter abgemüht, um sich von ihrem Komiker-Komplex zu kurieren - als könnte das hinhauen, ohne an Gott zu glauben. Hat man Woody Allen jemals lachen sehen? Er hat seinen Eigenweg gefunden, der Tragödie durch die Parodie zu huldigen (am üppigsten natürlich in "Mighty Aphrodite") und mit Zitaten zu scherzen, die in dem armen Würstchen Harry die Erinnerung an Faust/Don Juan/Ödipus/Orpheus & Co. lebendig erhalten. So zeigt sich: Dieser Harry ist in dem Maße tragisch, wie er komisch ist, oder auch umgekehrt, und so ist er beides ganz außerordentlich.
Der erzählerische Trick dabei: Die Konstruktion des Helden wird als seine Demontage vorgeführt, aus dem tiefsten Tief der Lebens- und Schaffenskrise heraus fächert sich in erstaunlichen Facetten eine ganze Biographie auf. "Harry außer sich" ist gewiß das episodenreichste, vielschichtigste, in den Verschachtelungen mehrerer Fiktionsebenen raffinierteste Drehbuch, das Woody Allen je geschrieben hat; er hat es im Wechsel der Tonfälle und Stillagen pointiert in Szene gesetzt, präzis, kaltschnäuzig, unsentimental; und das abenteuerliche Ganze kommt - während sich derzeit im Kino jedes dickflüssige Melodram gerne auf zweieinhalb Stunden breitmacht - fabelhaft schlank und elegant in nur 95 Minuten auf den Punkt.
Woody Allen ist ein Stehaufmännchen ohnegleichen, und Größe hat auch mit Ausdauer zu tun. Nie plusterte er sich auf, um einen mehr als zwei Stunden langen Film hervorzubringen, lieber blieb er der Kleinmeister des Satyrspiels, und noch vor zehn Jahren ließen ihn die Großmeister seiner Generation, Coppola und Scorsese, nur mit etwas Herablassung bei ihrer Kurzfilm-Trilogie "New York Stories" mitmachen.
Allens Beitrag mit dem unübersetzbar schönen Kalauer-Titel "Oedipus Wrecks" ist inzwischen der einzige dieses Gemeinschaftswerks, der in der Erinnerung fortlebt. Coppola wie Scorsese wie manch andere Schwergewichtler von gestern haben längst schlappgemacht, Woody Allen hingegen, inzwischen 62, bringt - offenbar frei von "writer's block"-Krisen und trotz peinlichster Privatlebenskatastrophen - mit soviel Selbstbescheidung wie Selbstdisziplin Jahr für Jahr einen Film hervor: 28 1/3 sind es inzwischen, wahrlich nicht jeder ein Geniestreich, doch sicher ein Drittel davon mit dem Atem dessen, was man exemplarisch nennt: Das ist ein Lebenswerk.
Das 95-Minuten-Ereignis "Harry außer sich" rafft nicht nur in Bocksprüngen das Leben des Schriftstellers Harry Block zusammen, sondern auch sein Werk: Den drei realen Ehefrauen treten also ihre drei literarisierten Roman-Ebenbilder gegenüber, dazu Harrys Schwester, die jüngste Geliebte Fay sowie das eine oder andere gelbe oder schwarze Callgirl, insgesamt wenigstens zehn prägnant differenzierte Frauenfiguren, und gewiß ebenso viele Freunde, Kollegen, Rivalen, ferner die Protagonisten verschiedener Kurzgeschichten aus Harrys Produktion.
Da diese Figuren, reale wie fiktive, dann auch gegeneinander mobil machen, ist der menschliche Mikrokosmos, der sich auftut, phänomenal - und ebenso die spezifisch filmische Typisierung von Episode zu Episode: Mal die sketchhafte Drastik eines jiddischen Witzes, mal die redselige Sentimentalität einer TV-Beziehungsserie, mal die abrupten Schnitte und Schwenks einer Reportage, mal die geschmeidige Eleganz des Melodrams. Die ewige Jagd nach Sex mag Harrys Lebenstriebkraft sein, doch seinen Herzschlag bestimmt die Angst vor dem Tod. Schon in der (chronologisch) ersten Episode pocht er dröhnend an die Tür: Freund Hein mit Kapuzenumhang und Sense bittet zum letzten Tanz.
Gewiß erinnert der Grundentwurf, der die Vita eines Künstlers aus der Tiefe einer Schaffenskrise heraus in Erinnerungen, Träumen, Alpträumen entfaltet, an Fellinis berühmtes Selbstbespiegelungswerk "Achteinhalb". Gewiß verweist das zentrale Motiv der Autofahrt über Land, die Harry unternimmt, weil seine alte Uni ihn mit einem Festakt ehren will, auf Ingmar Bergmans traumspielhaften Lebensbilanzfilm "Wilde Erdbeeren"; und gewiß nimmt die Schlußfeier, die Harry im Kreis seiner literarischen Geschöpfe findet, noch einmal Fellinis Spielidee auf. Und doch ist darin nichts bloß Geborgtes oder Epigonales: Woody der Tragiker behauptet sich zwischen seinesgleichen.
Harry Block jedoch, indem er die Hölle durchschritten hat, ist offenbar von seinem "writer's block" erlöst: Er setzt sich an die Schreibmaschine, um irgendwie - hoffentlich komisch - die Hoffnung zu Papier zu bringen, daß sich, wenn man Glück hat, dem ganzen gräßlichen Schlamassel, der sich Leben nennt, trotz allem eine Art Form und Sinn geben läßt: in der Kunst. Das muß man nicht glauben. Doch man kann sich sagen: Solange Woody Allen noch Filme macht, mal doofe, mal tolle, ist das Autorenkino nicht tot. (Urs Jenny, DER SPIEGEL 21/1998)

Eine seeeeehr wütende Frau stürmt die Wohnung des Schriftstellers Harry Block (Woody Allen). Zwei Jahre nach dem Ende der Beziehung veröffentlichte der Autor Harry Geschichten, die unübersehbar autobiographische Züge haben. Seine drei Ex-Frauen, die ehemaligen Freunde und selbst die nächsten Verwandten sind schockiert bis stinksauer. Denn Harry war alles andere als rücksichtsvoll: Ein Quickie mit der Schwester der eigenen Frau "unter den Augen" der blinden Großmutter wird unter anderem ausgebreitet. Seinem orthodox jüdischen Schwager Burt (Eric Bogosian) gab er den Titel "Jewish with a Vengence" in Anlehnung an den recht gewalttätigen Film "Die Hard with a Vengeance" (Stirb Langsam - Jetzt erst recht). Nach der tollen Rolle für Mia Sorvino in "Geliebte Aphrodite" beweist Allen erneut seine Leidenschaft für Huren. Kein Wunder, daß ihn Lucy (Judy Davis) umbringen will: Harry ist atemberaubend zynisch, scherzt über den Holocaust und provoziert als Atheist die Religiösen aller Vereine. Dazu ist er schreib-blockiert und sex-fixiert: Beim Psychiater fragt er sich, ob seine Besessenheit mit Frauen normal sein: Wolle der US-Präsident auch mit jeder Frau schlafen? "Schlechtes Beispiel" kommentiert Allen sich selber!
In den Geschichten, Nacherzählungen und Phantasien Harrys tummeln sich ebenso viele Alter Egos wie Varianten seiner Lebenspartner. Joan, die dritte Ex von Harry, taucht im Roman als Helen auf, eine jüdisch strenggläubigen Psychiaterin. Joan wird von Kirstie Alley, Helen von Demi Moore gespielt. Irgendwann treten die Figuren dann auch noch aus der Fiktion heraus, um Harry im realen Leben zu kritisieren, zu beraten oder geistigen Beistand zu leisten.
Dazu erzählt Harry / Allen einige umwerfende Kurzgeschichten, wie die vom Schauspieler Mel (Robin Williams), der plötzlich unscharf bleibt - im realen Leben wohlgemerkt! Es gibt einen Ausflug in die Hölle, wo der Teufel Harry mit dem Gesicht seines Freundes Larry (Billy Crystal) einen Drink mixt. Selbst eine Kindesentführung gibt es, und auch Leiche. Im Verlauf der Geschichte(n) geht einiges durcheinander. Aber was wäre anders zu erwarten bei "Deconstructing Harry"? Der dekonstruktivistische Allen bringt im Gegensatz zu den letzten Filmen, an denen sich ein großes Publikum erfreuen konnte, wieder schwerere Kost. Vermutete man von "Bulletts over Broadway" (1994) bis zu "Alle sagen: I love you" (1996) noch eine zunehmende Altersnettigkeit, so beweist Allen nun auf radikale Weise seinen ungehemmten und unvergleichlichen Biß. Viele der genialen Scherze sind längst nicht mehr jugendfrei, andere fordern die Intellektualität reifer Akademiker.
Dabei überrascht die Form des Films erneut: Allen schneidet die ersten Szenen auf Jazz-Musik - reinste Avantgarde! Siebzehn Figuren reichten nicht aus, um all die Stars unterzubringen, die bei Allen regelmäßig Schlange stehen. Demi Moore darf ihre beste Rolle seit langem spielen und Elisabeth Shue wirkt wie man sie kennt (wobei sich langsam die Frage stellt, ob sie auch etwas anderes kann).
PS: Außer dem üblichen jährlichen Allen-Film gibt es 1998 auch noch einen Film über den Jazzmusiker Woody Allen: "Wild Man Blues" könnte im Juni in die Kinos kommen. (Günter H. Jekubzik)

Der Inhalt:
Der gefeierte New Yorker Schriftsteller Harry Block leidet an akuter Schreibhemmung. Nachdem er Geschichten, die das Leben schrieb, nämlich seins, in seinem letzten Werk verwurstet hat, und ihm sämtliche nun ehemalige Gattinnen, FreundInnen und Familienmitglieder an die Gurgel springen, fällt ihm wahrlich überhaupt nichts mehr ein. Der Vorschuss ist dagegen bereits ausgegeben – für Pillen, Pullen und Prostituierte. Unter den Leidtragenden seines Lebensstils gesellen sich u.a. seine Ex-Geliebte Lucy, mit der er seine Frau, Lucys Schwester, betrogen hatte: beide verließ er wegen Fay, die nun wiederum Harrys besten Freund Larry vor den Traualtar führt. Mittendrin reihen sich sehr reale Erlebnisse aus seinen Büchern ein und die den echten Bekannten aus Harrys Leben nachempfundenen Romanfiguren wollen plötzlich in der Wirklichkeit ein wenig mitreden...
Die Kritik:
Wenn bereits ein Katalog (aus Rotterdam) zu einem der Filme seines eigenen Festivals zum Besten gibt: ">Der neue Woody Allen<: viele werden sich nicht weniger um etwas scheren können. Viele FilmkritikerInnen haben bereits lange aufgegeben, weil sie glauben, Allens ... Stil ist vorhersehbar, und sie sein enormes Arbeitstempo als Pfuscherei bewerten.", dann dürfte über den kreativen Qualitätsabfall eines einstigen Regie-Genies alles gesagt sein. Nichtsdestotrotz befassen wir uns mit dem neuen Tiefpunkt Allens Karriere an dieser Stelle etwas ausgiebiger.
In der Tat reiht sich Woody Allen in die Riege derjenigen Regisseure ein, die nach ein paar Jahrzehnten des erfolgreichen Filmschaffens nichts mehr zu sagen haben. Wenn der Inhalt hinkt, wird nicht nur ein anderer Regisseur (Ingmar Bergmann) und aus einstigen eigenen Erfolgen zitiert (Purple Rose of Cairo), sowie die Gedankenhemmung als bestverteidigender Angriff dem Protagonisten als Schreibhemmung ins Drehbuch geschrieben, sondern sich auf die Form des Films gestürzt. In seinem vorletzten Film, Geliebte Aphrodite, fügte er Szenen eines klassisch-griechischen Theaters in die Welt des Realen ein, sein letztes Werk, Alle sagen: I Love You, mutierte zum Musical, und in Harry außer sich erleben wir nun eine experimentale Schnitttechnik. Grundsätzlich sei jede Abweichung vom linearen, eingefahrenen, hollywoodschem Geschichtenerzählen durchaus willkommen, und in Queer View ernten regelmäßig Experimentalfilme lobende Kritiken. Nur funktionieren sollte es. Keines dieser drei Ablenkungsmanöver überzeugt auch nur halbwegs. Glücklicherweise verfügt Allen über eine routinierte Filmerfahrung, so dass diese Sperenzien lediglich nerven und nicht regelrecht verärgern. Dennoch: Allen sollte dringend ein paar Jahreszeiten auslassen für seine nächsten "Woody Allen Fall Projekt"s, um seine Ideen in etwas Anständiges reifen zu lassen. Soviel sei allgemein zu seinem belanglosesten Film bisher gesagt.
Der Sexismus:
Keine Überraschung mehr ist der in Allens Filmen immer wiederkehrende Sexismus. Neuerdings müssen wir uns auch um seinen Rassismus sorgen machen, der, ebenso in Witzeleien verpackt, sich unerkannt großer Beliebtheit der weißen ZuschauerInnenschaft erfreut.
Eins von Allens üblichen Motiven wird in Harry außer sich bis zum Exzess betrieben: Hysterische Frauen, die auf einen armen, mickrigen Mann einhacken. Dies alles, so die Erklärung hier, weil sie bereits ihre Tage haben und in der restlichen Zeit "an einer pre-menstrualen nuklearen Kernschmelzung leiden".
Allen, der seinen Inzest durch Ehelichung legalisieren lässt, findet mit steigendem Alter prinzipientreu Gefallen daran, seine Macht als angeblicher Meisterregisseur dafür auszunutzen, sich ständig selbst Rollen zu schreiben, die es ihm ermöglichen, Hollywoods Berühmte und Schöne zu küssen. Sein Sex-Quotient in Harry außer sich ist mal wieder ungewöhnlich hoch, zum Küss-Opfer wird diesmal allerdings nur ein Oscar- und Golden Globe-nominierter Star, Elisabeth Shue. Nach Leaving Las Vegas, mit dem sie vier weitere Preise als beste Darstellerin abräumte, sollte sie es eigentlich nicht mehr nötig haben, eine Rolle anzunehmen, in der sie zu den flotten Sprüchen ihrer männlichen Kollegen Allen und Billy Crystal lediglich anerkennend kichern darf. Allen findet sich wahrlich derart attraktiv, dass eine Hure ihm glatt einen umsonst blasen will. Diesen Tagträumereien erliegen leider viele Freier.
Bei der Anbiederung an das sogenannte offene Zeitalter der 90er ist sich Allen auch nicht zu schade, während einer Stippvisite in der Hölle ein wahres Meer an blanken Busen leidender Frauen billigst in Szene zu setzen und seinen angeblich so distinguierten Sprachschatz wiederholend auf die Wörter "Fuck" und "Votze" zu reduzieren. Des weiteren wird die These aufgestellt, Frauen würden "durch tonangebende und aggressive Männer aufgegeilt".
Um seinen KritikerInnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, fügt er hier und da in diesem recht autobiografisch wirkenden Film scheinbare Selbstkritik ein. So macht Kirstie Alley als Joan Harry Blocks Frauenfeindlichkeit zum Thema. Wer etwas anderes als manipulative Heuchelei darin sieht, die und den beneiden wir um die Naivität. So wird Harrys street abuse etwa in einen frivolen Joke verpackt, wenn er daherbeichtet, dass er "jede Frau ficken will", die er im Bus sieht.
Queer Watchlion
Allens Rassismus steht dessen Sexismus in nichts nach. Wie schon in Alle sagen: I Love You dient ein schwarzer Charakter allein der Aufgabe, den finalen Höhepunkt einer Witz-Reihe zu bilden, mit wem ein weißer Charakter so alles Sex hat. So etwas Abwegiges wie ein schwarzer Lover für jemand weißes lädt eben zum absurden Kichern ein, oder wie? Schändlicherweise funktioniert dieser Witz beim (weißen) Publikum auch ein zweites Mal in Folge. Dieser Charakter heißt Jennifer und war ein Objekt der Begierde aus der frühen Jugendzeit. Und, so fügt Harry beiläufig hinzu, um an Jennifer heranzukommen, interessierte er sich aus heiterem Himmel für afrikanische Kunst. Böse Falle. Nicht etwa "african american" wohlgemerkt, sondern schlichtweg "african". Das mag zwar theoretisch unbedenklich sein aber so, wie es im Film rüberkommt besteht kaum ein Zweifel, dass hiermit (hoffentlich) unbewusst die zwangsweise Verbindung von Afro-AmerikanerInnen mit Afrika zum Ausdruck kommt, also die Auffassung des Gros der nordamerikanischen kaukasischen Bevölkerung, dass die schwarzen StaatsbürgerInnen, obwohl sie mit den ersten Schiffen der Weißen ebenfalls das moderne Amerika gründeten, nicht WIRKLICH dort zu Hause sind.
Die anderen beiden nicht-weißen Charaktere sind ebenso symptomatisch: die asio-amerikanische Hure Lily Chang (Sunny Chae) und die afro-amerikanische Hure Cookie (Hazelle Goodman). Etwas anderes kommt einem Allen eben nicht in den Sinn. Letztere gibt zur Antwort, ob sie wisse, was ein schwarzes Loch sei, dass sie damit schließlich ihr Geld verdiene. Mehr wollen wir über "den neuen Woody Allen" nicht mehr sagen. (Queer View)

Woody Allens neues Meisterwerk: "Harry außer sich". Die Heimsuchungen des Harry Block
Dieser Mann spricht um sein Leben. Vor ihm eine Frau mit einer Pistole und hinter ihm der Abgrund einer Dachterrasse. Er stammelt und stöhnt, er jammert und flucht, und dabei kommt er ins Erzählen. Es war einmal ein junger Mann, ihm selbst verdächtig ähnlich, ein armseliger jüdischer Schuhverkäufer, der unbedingt Schriftsteller werden wollte. Tags maß er den Frauen die Füße und dachte an nichts als an Sex, nachts schrieb er seine Phantasien auf, und seiner Ehefrau war langweilig. Ein älterer Kollege, harmlos und schmierig, erzählte ihm von einer Hure, die ganz und gar Erfüllung wäre: eine Asiatin, im Dienen erfahren, das Wunder einer Frau. Und unser Schuhverkäufer bestellte sie zur Wohnung seines Freundes Mendel Birnbaum, der schwer verletzt im Krankenhaus lag. Noch lebt der Mann. Die Frau hört zu.
Die Hure kommt und ist die Erfüllung. Noch einmal fünfzig Dollar finden für einen weiteren Besuch im Himmel! Der Schuhverkäufer sucht nach Geld in seines Freundes Wohnung, die Hure liegt nackt auf dem Bett, da klopft es an der Tür. "Mendel Birnbaum, laß mich ein!" Es ist der Tod. Er trägt eine schwarze Kutte und hat eine Sense dabei. Eine sehr dumme Verwechslung. "Ich bin nicht Mendel Birnbaum", sagt unser Schuhverkäufer entsetzt. Der Tod zeigt auf das Monogramm des Morgenmantels, und aus dem Schlafzimmer taucht die Hure auf. "Mendel? Wo bleibst du denn so lange?" Es ist für Ausreden zu spät. Und ist es nicht eine Todsünde, die der traurige Held begangen hat, so oder so?
Die Frau muß lachen, und die Pistole sinkt. Unser Mann in Manhattan hat es nochmal geschafft. Wir sehen Woody Allen sehr erleichtert.
Denn Woody Allen spielt sich selbst als Schriftsteller, genauer: Er spielt das Bild, das man von ihm hat, mit dieser kleinen Verschiebung. Der Mann am Abgrund seiner Dachterrasse, der hochbegabte, total neurotische, ständig nervös quasselnde Künstler, dessen Aggregatzustand das Chaos zu sein scheint, der nur in seiner Arbeit klar und verläßlich ist und beinahe Mensch, der macht als Harry Block keine Filme. Sondern schreibt Bücher. Und die sind immer autobiographisch. Nicht ganz, aber zu sehr. Das hat ihm den Besuch dieser Frau eingetragen, die mit einer Pistole auf ihn zielte und ihn vernichten wollte, weil er mit seinem gerade erschienenen Roman ihr Leben vernichtet hat. Denn jeder kann erkennen, daß Lucy Leslie ist, daß sie ihre eigene Schwester mit ihm, dem Autor, betrogen hat, daß sie auf der Beerdigung ihres Vater mit ihm Oralsex hatte - und überhaupt alles kann man erkennen.
Es sieht nicht gut aus für Harry Block. Er ist noch einmal davongekommen, aber was hilft's? Sein Regisseur, der Woody Allen heißt und mit der Krise eng befreundet ist, zeigt ihn als schon halb gesunkenes Wrack. Er hat drei Ehefrauen und sechs Psychoanalytiker verschlissen und ist noch immer ein infantiles Triebtier, das keiner Liebe treu sein kann. Er schluckt Tabletten und trinkt, aber es fällt ihm nichts mehr ein, er sitzt am Schreibtisch dem Nichts gegenüber. Und morgen soll er zu seiner früheren Universität fahren: Vor dreißig Jahren haben sie ihn rausgeschmissen (natürlich völlig zu Recht), jetzt wollen sie ihn ehren für sein belletristisches Werk. Und niemand will ihn begleiten.
Statt dessen rennen ihm die Protagonisten seiner Bücher die Türe ein. Sie sind empört über ihre Behandlung, sie pfeifen auf die poetische Wahrheit, sie fühlen sich entwürdigt, bloßgestellt und demontiert. Eine erbitterte Schwester, drei zornige Exgattinnen, eine mordlüsterne verlassene Geliebte: sie alle nehmen Harry auseinander. Sein Regisseur nannte den Film nach einer philosophischen Mode, mit der er so viel Ernst macht, wie es ein Komiker nur kann: "Deconstructing Harry" lautet der Titel des Originals, die ironische Antwort Woody Allens auf die Verwirrungen der Uni-Seminare, die Auflösung des Personenbegriffs und das Raunen vom Tod des Autors. Es ist sein Meisterwerk.
Und nicht nur seines. "Harry außer sich" ist auch ein Fest der Schauspieler, ein vorläufiger Abschlußball, auf dem die Stars von Billy Crystal bis Robin Williams mit offensichtlichem Genuß zeigen, was sie nur können. Denn Allen wiederholt hier eine Idee, die seit "Radio Days" immer wieder in seinen Filmen auftaucht, ein Hauptstück seiner filmischen Poetik ausmacht: Er läßt Figuren der Phantasie in die Wirklichkeit des Spielfilms treten. Diese Geschöpfe der dritten Realität bringen die ontologische Ordnung gründlich und schön durcheinander, denn sie konkurrieren mit den vermeintlich realen Gestalten des Films, den Menschen, die Harry Blocks Leben zuzeiten erfüllten und nun verwüsten. So spielt die zornige Geliebte Lucy (Judy Davis) gegen Blocks Romanfigur Leslie (Julia Louis-Dreyfus) an, die in langen Rückblenden auftaucht und ebenso innig küßt, furiose Szenen macht und um die Liebe von Harrys Alter ego im Roman ringt. So kämpft die dritte Ehefrau des Autors, Joan (Kirstie Alley), gegen ihr Bild in Harrys Phantasie, das er für sein letztes Buch Helen (Demi Moore) taufte: eine professionelle Psychoanalytikerin, die sich zu einer jüdischen Matrone mit Frömmigkeitsfimmel entwickelt. Und so treten Paul Epstein und Richard Benjamin gegen den Schauspieler Woody Allen an, als sein jeweils erdachtes Ich als junger und älterer Mann. Bald geht es dem Publikum wie Harry Block: Es kann sich schwer entscheiden, wer ihm mehr Eindruck macht, wer liebenswerter ist, lebendiger - und wahrer.
Ach, warum sollte man auch? In "Harry außer sich" zeigt Woody Allen den Mehrwert der Dekonstruktion, wenn sie gelingt: er erzählt eine neue Geschichte, die alle alten Regeln befolgt, aber bei keiner bleibt. Realismus und Phantasie, Romanfiguren und Feenwesen, Erinnerungen, Tote und Traumgestalten: am Ende ist man so oft durch die gläserne Drehtür von Allens Ästhetik gelaufen, gestolpert, und geschoben worden, daß der Schwindel als das Solideste bleibt. Wie auf dem Rummel. Aber schöner, weil danach nicht der Magen, sondern der Kopf beschäftigt ist. Der zweite Teil des Films, die aberwitzige Fahrt Harrys zu seiner Universität, zitiert in totaler Kunstfertigkeit das amerikanische Roadmovie und stürzt ab in eine Groteske. Nach seinem kurzen Ausflug in eine Wirklichkeit, die einfach so gelingt nicht zufällig mit drei Personen, die Harry nie beschrieben hat, die es nur einmal gibt - passiert dem Schriftsteller eben das, was auch einer Person seiner Geschichte, einem berühmten Filmschauspieler (Robin Williams), einmal zugestoßen ist. Er löst sich auf, sein Umriß wird verschwommen, er ist "out of focus", wie der Kameramann sagt. Man wird seekrank, wenn man ihn anschaut. In Harrys Kurzgeschichte müssen die anderen Brillen tragen, um den Verschwommenen scharf zu sehen. Um Harrys Konturen kämpft aber nun die schwarze Prostituierte Cookie (selbst in diesem Ensemble überragend: Hazel Goodman): Sie mahnt ihn streng zur Disziplin, fragt ihn nach seinen Lieblingssportlern aus, verbreitet mütterliche Zuversicht - und schafft es. Harry gewinnt seinen Umriß zurück, er wird wieder ins Leben entlassen. Zunächst in eine Gefängniszelle, dann in die selbstgemachte Hölle seiner Alpträume (möbliert von Hieronymus Bosch, Regie: Federico Fellini), am Ende aber an seinen Schreibtisch und in das Glück der Kreativität. Das Spiel kann von neuem beginnen.
Und sollte es. Denn nie war Woody Allen besser - gelöster, heiterer und radikaler. Sein Witz läßt keine Gelegenheit aus und ist so ungehemmt pueril wie in "Was Sie schon immer über Sex wissen wollten ...", so albern wie in "Die letzte Nacht des Boris Gruschenko", so bitter wie in "Zelig". Seine Geschichte ist klug und eine listenreiche Nahaufnahme seines Helden und seines Milieus. In seiner Poetik schnarrt kein Scharnier mehr. Es ist der rücksichtsloseste Woody Allen, den man je sah: der Film vom Frosch, der sich selber küßt. (Elke Schmitter, DIE ZEIT 20.05.1998 Nr.22)

"Ich galube an lustige Gene" - Regisseur Woody Allen über seinen neuen Film "Deconstructing Harry", Romantik, Ängste, Liebe, die Geheimnisse der Frauen und das Gesetz der Entropie.
profil: Mister Allen, spielen Sie in "Deconstructing Harry" einen neurotischen, sexbesessenen Egozentriker, weil Sie mit sich und den Frauen partout keinen Frieden schließen können?
Allen: Welcher ernstzunehmende Komiker würde schon eine selbstzufriedene Figur spielen? Stellen Sie sich Buster Keaton oder Charlie Chaplin als stolze und glückliche Liebhaber vor - unmöglich! Meine Komik entsteht aus der Schwierigkeit des Lebens.
profil: Für Romantik bleibt da nur wenig Platz?
Allen: Meine Sicht des Lebens ist zugleich romantisch und katastrophal - eine realistische Mischung. Alles, was wir kontrollieren können, erscheint uns wunderbar beglückend, und wir finden kompliziert, schmerzhaft und erschreckend, was uns entgleitet.
profil: Ist Glück eine reine Utopie?
Allen: Dostojewski sagte: "Leben heißt glücklich sein", und ich glaube auch, ohne übertriebenen Optimismus, daß alles besser ist als der Tod. Wir halten uns oft für schicksalsgeprüfte Kreaturen und Märtyrer voller Weltschmerz, aber eines Tages wachen wir mit einem kleinen Schatten auf der Lunge auf, und erst wenn wir den Tod vor Augen haben, merken wir, wie glücklich wir waren.
profil: Ist "Deconstructing Harry" der Beginn Ihrer eigenen Demontage?
Allen: Ich bin 62 und versuche nur, etwas reifere Filme zu machen. Harry ist "dekonstruiert", weil er sich selber fremd ist. So wird er sich seiner bedrohlichen, verletzenden und selbstzerstörerischen Taten gar nicht bewußt. Harry ist ein gesellschaftsfähiger Außenseiter, der alles seiner Schriftstellerei opfert und sein Privatleben völlig ruiniert hat.
profil: Viele halten Ihre Rollen für verschiedene Ausprägungen Ihres Alter ego. Wie autobiographisch sind Ihre Filme?
Allen: Nicht besonders. Alle äußeren Ereignisse sind frei erfunden. Dagegen teile ich oft die Ideen der Figuren, die ich spiele - was das Leben, die Religion und vor allem die Frauen betrifft...
profil: Sie versuchen hartnäckig, hinter die Geheimnisse der Frauen zu kommen.
Allen: Hoffnungslos! In "Deconstructing Harry" erkläre ich meinem Sohn deshalb, daß die Frauen Gott sind. Albert Camus hielt sie "für das, was wir vom Paradies ahnen können, solange wir noch auf der Erde sind". Harry hat das unverschämte Glück, von den wunderbarsten Frauen umgeben zu sein, aber er ist unfähig zu lieben.
profil: Gehören Sie selbst eher zur verliebten Sorte?
Allen: Ich bin weniger verbockt und verbogen als Harry: Ich habe keine Schreibhemmungen, schlucke nicht massenhaft Beruhigungspillen und besaufe mich nicht. Mein Leben ist viel ruhiger: Auf dem Gipfel meiner Exzentrik gehe ich im Central Park spazieren, spiele Klarinette und höre meiner Mutter beim Jammern zu. Ich fröne keinen obskuren Leidenschaften. Ich arbeite, esse, gehe ins Theater und sehe mir Baseballspiele an. Das ist alles.
profil: Sie haben vielen Männern Mut gemacht. Seit Allen gelten auch intellektuelle, vergrübelte Brillenträger als sexy.
Allen: Ich habe viel weniger Erfolg bei den Frauen, als man glaubt. In meinen 62 Jahren hatte ich fünf wichtige Beziehungen, also ungefähr eine Beziehung alle acht Jahre. Ein mäßiger Durchschnitt, oder?
profil: Seit "Mighty Aphrodite" scheinen Sie die Prostituierte mit dem großen Herzen als Traumfrau zu propagieren.
Allen: Für den Schriftsteller Philip Roth ist die ideale Beziehung, "wenn dir dein Partner die Hand hält, während du auf die Ergebnisse deiner Biopsie wartest". Mir ist es wichtig, mit jemandem zusammenzusein, der mir die Angst vorm Leben nimmt und mich durch Krisen begleiten kann. Leidenschaft ist eine schöne Erfahrung, aber die Männer scheinen sie leichter außerhalb einer Beziehung erleben zu können als die Frauen. Männer träumen insgeheim von einer Geliebten oder einer Nutte, die bei ihnen zu Hause vorbeikommt, aber im Grunde suchen sie nach einer Frau, die alle Qualitäten vereinen könnte. Man braucht aber eine Menge Glück, um auf eine Frau zu stoßen, die gleichzeitig interessant, intelligent und erotisch ist!
profil: Glauben Sie immer noch wie in "Husbands and Wives", daß "sich jede Beziehung am Ende in Scheiße verwandelt"?
Allen: Offenbar wirkt sich das Gesetz der Entropie auf viele Dinge aus: Kulturen brechen zusammen, die Körper der Menschen verrotten, und das ganze Universum wird wahrscheinlich verlöschen. Das ist keine schöne Idee, aber sie resümiert den Kern unserer Erfahrungen...
profil: Wurzeln darin auch Ihre Ängste und Neurosen?
Allen: Ich war immer schon ängstlich. Die meisten verlieren ihre Ängste am Ende der Kindheit, aber Menschen wie ich behalten sie ihr ganzes Leben lang. Ich habe existentielle Ängste, vor dem Altwerden und vor dem Tod, aber auch ganz banal davor, auf der Straße überfallen zu werden. Diese Ängste begleiten mich auf Schritt und Tritt. Ihre Wurzeln habe ich bisher noch nicht entdeckt. Ich glaube, wir brauchen ein Stück Selbstbetrug und Phantasie, um das Leben zu ertragen.
profil: Sublimieren Sie diese Ängste in Ihren Filmen?
Allen: Nur im Kino kann ich meinen Ängsten entwischen. Wenn ich einen Film drehe, lebe ich ein Jahr lang in einer künstlichen Welt: schreiben, Schauspieler und Drehorte suchen, drehen, schneiden - das beruhigt mich. Aber wenn der Film beendet ist, stürze ich oft grausam wieder in die Realität ab. Arbeit ist die beste Therapie gegen meinen Pessimismus.
profil: Und welche Funktion hat die Komik dabei?
Allen: Ich versuche, unserer komplizierten Existenz lustige Momente abzugewinnen. Ich will die Zuschauer amüsieren, aber weil ich selbst ein eher trauriger Mensch bin, werden meine Komödien immer zweideutig: Unter ihrer Oberfläche verbergen sie Melancholie und Tristesse. Das sind wahrscheinlich meine autobiographischsten Momente.
profil: Leiden Sie unter dem klassischen Dilemma des Komikers, nie ernst genommen zu werden?
Allen: Viele Komödienregisseure versuchen, ihre Gefühle und Konflikte zu zeigen, aber die Zuschauer kichern schon an der Kasse und haben sich halb totgelacht, noch bevor der Film begonnen hat. Diese Rituale sind gleichzeitig die Verbündeten und die Feinde des Komikers. Dagegen nehmen mich die Leute manchmal viel zu ernst, wenn ich einfach nur albern sein will und rumspinne.
profil: Sie lieben es, in Ihren Filmen tragikomische Mißverständnisse zu provozieren, indem Sie Ihre Figuren ständig aneinander vorbeireden lassen.
Allen: Mich reizen Mißverständnisse - zwischen Männern und Frauen oder zwischen Intellektuellen. Wir haben alle völlig unterschiedliche Ausdrucksmittel, und trotzdem funktioniert unsere Gesellschaft - das reinste Wunder! Wenn ich das Fehlen von echter Kommunikation beobachte, frage ich mich, wie wir überhaupt zusammenleben können: Wie verwandeln wir dieses Chaos in Zivilisation?
profil: In Ihren letzten Filmen sind Sie vermehrt den "rohen" Gefühlen auf der Spur. Sehen Sie die Liebe, ähnlich wie früher John Cassavetes, als einen endlosen Strom ("Love Streams"), oder sind Sie da pragmatischer?
Allen: Ich bin realistisch. Aus einer Begegnung kann eine ganz natürliche Harmonie entstehen, aber jede Bindung ist immer in Gefahr zu zerbrechen. Auf der Suche nach der Liebe können wir nichts in Besitz nehmen und nichts festhalten. Wir können einen Haufen intelligenter Bücher über das Thema lesen oder Analytiker aus der ganzen Welt konsultieren, aber am Ende ist die Liebe nur eine Frage des Glücks - wie im Lotto zu gewinnen: Es passiert sehr selten.
profil: Liegen die Wurzeln Ihrer zwanghaften Selbstironie in Ihrem Elternhaus?
Allen: Ich muß den Humor von meinen Eltern geerbt haben, denn schon als Kind riß ich ständig Witze. Ich glaube an lustige Gene. Auch andere Phänomene wie Freude, Angst oder die Neigung zu Geschwüren, deren Ursprünge lange vergeblich erforscht wurden, werden zum großen Teil von genetischen Einflüssen verursacht. Genauso kann sich auch Humor von Generation zu Generation vererben. (profil 21/98, Interview: Marcus Rothe)
Writer's block - Schreibhemmung. Ein häßliches Wort, ein schrecklicher Zustand, ein Alptraum. Die Gedanken sind blockiert, der Fluß der Wörter versiegt. Der Vorschuß vom Verlag ist kassiert und längst aufgebraucht, der (künstlerische und materielle) Bankrott ist zum Greifen nahe.
Nun hat es auch Harry Block (Woody Allen) erwischt. Den erfolgreichen und berühmten Schriftsteller, den scharfzüngigen Spötter und gewandten Formulierer. Harry hat sich in seinem letzten Buch offensichtlich zu weit vorgewagt. Das Chaos seines Lebens hat er zu Literatur verarbeitet, seine Obsessionen und Neurosen, intime Details aus dem Zusammenleben mit seinen drei Ex-Frauen, die Schwierigkeiten mit seinem Sohn und die Probleme seines besten Freundes. Daß die real Betroffenen gegen Harrys Bekenntnisse wütend protestieren, wäre ja noch zu verstehen, aber daß sogar seine erfundenen Figuren ein Eigenleben entwickeln und auf ihren Schöpfer losgehen, ist doch etwas ungewöhnlich. Und so kommt es zu Begegnungen der merkwürdigsten Art.
"In DECONSTRUCTING HARRY erweist sich Woody Allen als würdiger Vertreter einer alten Wissenschaft in der neuen Welt. Souverän wie die intellektuellen Franzosen nutzt er die Mittel seiner Kunst zur Dekonstruktion - um die moderne Gesellschaft aus allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln zu analysieren: soziologisch und psychologisch, philosophisch und ökonomisch.
Herausgekommen ist Woody Allens bisher wütendster und radikalster Film: komisch und traurig, schockierend und romantisch - und die Rate an four-letter-words ist erstaunlich. Und doch scheint eine untergründige Heiterkeit diesen intellektuellen film noir mit Woodys vorherigem Film, dem sonnigen EVERYONE SAYS I LOVE YOU, zu verbinden..." (Produktionsmitteilung)

"DECONSTRUCTING HARRY ist zwar so mitleidlos, fatalistisch und komisch wie eine Selbstanalyse nur sein kann - entläßt den Zuschauer aber trotzdem mit einer Ahnung von Hoffnung und sogar Glück. Vielleicht ist es nur eine Illusion - aber es wirkt doch so, als sei der Mann noch immer dabei, vor den Augen der Welt ganz er selbst zu werden." (Süddeutsche Zeitung)

"Woody Allens glanzvoller Film strotzt vor humoristischen Einfällen und scheut auch vor derben Gags nicht zurück." (FAZ)

"Temporeich, voller böser Bonmots und mit einer für Allen ungewohnt rüden Sprache versetzt sowie mit einigen sexuellen Eskapaden angereichert, ist dieser Film perfekte Selbstkritik und Selbstanalyse." (Blickpunkt Film)

"Woody Allens bester, lustigster, wütendster Film seit Jahren... Als Romanschriftsteller, dessen Prosa seine tödliche Waffe ist, liefert Woody Allen eine raffinierte Rekapitulation seines eigenen Werkes." (New York Times)

"Woody Allens Antwort auf Fellinis ACHTEINHALB und Truffauts DER MANN, DER DIE FRAUEN LIEBTE." (Die Zeit)

Intelligent lachen. Eine Wonne, ungleich seltener als lustig essen, ekstatisch lieben, optimal arbeiten. Bei Woody Allen darf davon wieder einmal eine Riesenportion abgeholt werden. Die höchste Form der Intelligenz ist die destruktive. Nur der kann beim Schach mit eigener Taktik den Gegner mattsetzen, wer zuerst dessen Strategie analysiert und ihre Schwachstellen gefunden hat. Indem er sich selbst in (komische) Einzelteile zerlegt, bewältigt Woody Allen einmal mehr sein eigenes, tragisch-desaströses Privatleben, das sich in Farce, Groteske, reine Komödie verwandelt.
In „Deconstructing Harry“ (Originaltitel) seziert sich Woody herzhaft so tief bis ins Es hinunter, daß es ein selbstironischer Blick in die - selbstgeschaffene - Hölle wird. Seine Qual - unser reinstes Vergnügen. „Die allerschönsten Worte in unserer Sprache sind“, sagt der Hypochonder Harry, „nicht: Ich liebe dich. Sondern: Es ist gutartig.“ Nicht nur seinen Frauen (wir wissen’s unter anderem aus seinen Filmen) war Woody immer wieder untreu. Auch sich selbst. Zum Beispiel wiederholt als pseudodüsterer Bergman-Apostel. Oder zuletzt als lautvergnügter Musical-Parodist. Aber so treu wie diesmal war sich Woody schon lange nicht mehr. So vertrackt komisch, so hemmungslos lustspielerisch bzw. lustverspielt.
Neu und für manche wohl auch gewöhnungsbedürftig: Woody schweinigelt ungehemmter denn je; irgendwas müssen seine Tausenden Stunden beim Psychiater ja bewirkt haben... Nur eines betreibt der von Schreibhemmung (writer's block) geplagte Autor Harry Block emsiger als die vielfältige Inszenierung seines hemmungslosen Sexuallebens: zwischen seinen zwei fundamentalen Ängsten, der Lebensangst und der Todesangst, sich auch noch andere Sorgen zu machen.
Aus den Folgen konstruiert Allen lachtränenreizende Szenen. Den genialen Einfall, einen Freund und Schauspieler Harrys den Film hindurch konsequent unscharf zu zeigen. Wobei auch die Familie des Unscharfen ihn unscharf sieht, obwohl er sie zwingt, dicke Brillen zu tragen . . . Plötzlich haben wir Angst um Harry, weil er auch einen Moment lang unscharf wird. Das klingt nicht nur kompliziert. Einfach macht es uns Woody Allen auch in allem anderen nicht, verschachtelt, puzzelt, verhebt, was das Filmzeug hält.
Harry, Woodys von ihm selbst gespieltes Alter ego, besitzt selber eins: Harry hat nämlich über seine Ehe- und Liebesmiseren ein Buch geschrieben. Daraus sieht man einige Szenen - und anschließend zum Vergleich, wie sie wirklich abliefen. Auch peinliche Begegnungen mit den selbstgeschaffenen Figuren finden statt. Autobiographisch, selbstquälerisch, spielerisch intellektuell und doppelbödig offenherzig. Dabei outet sich Woody-Harry als ebenso sich selbst hassender atheistischer Jude als auch als Instant-Sexist. Schreckt vor dem tiefsten Kalauer nicht zurück.
Da philosophiert er mit einer schwarzen Prostituierten über das All, die Existenz schwarzer Löcher . . . Nach drei Ehen und unzähligen Affären liebt Harry im Grunde nur Huren. Und schaut bei all den Selbstbekennereien so unglücklich drein, daß wir wissen: wenn Woody uns über sich lachen läßt, lacht auch er mit - aber ihm tut’s weh. Schlamasseltoff, Woody. (Rudi John, KURIER)

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THE GINGERBREAD MAN (THE GINGERBREAD MAN)

USA 1998. 112 Min
Regie: Robert Altman, Buch: Al Hayes, basierend auf einer Originalstory von John Grisham, Musik: Mark Isham, Kamera: Changwei Gu, Schnitt: Geraldine Peroni, Darsteller: Kenneth Branagh (Rick Magruder), Embeth Davidtz (Mallory Doss), Robert Downey Jr. (Clyde Pell), Daryl Hannah (Lois Harlan), Robert Duvall (Dixon Doss), Tom Berenger (Pete Randle), Famke Janssen (Leeanne), Mae Whitman (Libby), Jesse James (Jeff)
Kinostart: 22/5/1998

Rick Magruder (Kenneth Branagh) ist ein erfolgsverwöhnter Anwalt, der in Savannah, Georgia, seinem Job nachgeht. Er ist ein guter Mensch, der keinem etwas abschlagen kann. In einer Stadt, in der Verbrechen gerne in den Mantel des Schweigens gehüllt werden, sieht er seine Aufgabe schlicht darin, dafür zu sorgen, daß sein Auskommen mit schönem Auto, lässigen Anzügen und schmucker Kanzlei gesichert ist. Seine neueste Klienten Mallory Doss (Embeth Davidtz) wird von ihm von ihrem scheinbar wahnsinnigem Vater und aggressiven Ex-Mann befreit. Zudem kommt es zu vertraulichen Liebesnächten mit ihr, die jedoch plötzlich vom Ausbruch des eingewiesenen Vaters aus der Anstalt überschattet werden. Panik bricht bei beiden aus, erst recht, als Magruders Kinder anonym erst bedroht und dann entführt werden. Magruder selbst kann nicht auf die Hilfe der Polizei hoffen, sondern muß sich auf den Privatdetektiv Clyde Pell (Robert Downey jr.) verlassen. Schon bald ist ein erstes Todesopfer zu beklagen, doch es wird nicht das letzte bleiben.
Robert Altman nahm sich die Freiheit, den Roman von John Grisham für das Kino abzuändern, indem er einen aufkommenden Hurrikan als Begleitmusik einbaute - eine geniale Idee. Insbesondere in der ersten Hälfte überzeugen die psychologischen Darstellungen der Akteure, die im zweiten Teil jedoch in klassische Thrillerwege münden. (film.de)

Ein Anwalt wird durch eine junge Frau in ein Netz von Intrigen und Gewalt gelockt, indem er fast seine Kinder, seine berufliche Stellung und gesellschaftliche Reputation einbüßt. Ein nach einer Originalvorlage von John Grisham inszenierter Thriller, der zunächst in einer geheimnisvollen Schwebe bleibt, sich am Ende aber in einer banalen, vordergründigen Kolportage verliert. Überzeugend ist lediglich das atmosphärische Exterieur: Landschaften und Naturgewalten werden von der Regie zu Spiegeln der menschlichen Seele verdichtet.
Was denn nun? Robert Altman, der große alte Mann des - zumindest im Geiste - unabhängigen amerikanischen Kinos läßt sich auf eine durchschaubare, gegen Ende haarsträubend simple Kriminalgeschichte ein? Wollte er sich von seinem kühn verschachtelten "Short Cuts" (fd 30 588) und dem ausufernden Modemix "Pret-à-Porter" (fd 31 286) erholen? Wollte er beweisen, daß er noch immer in der Lage ist, ein kommerzielles Opus mit Einführung, Mitte und Schluß zu inszenieren? Wie auch immer: "The Gingerbread Man" ist, nimmt man nur die Story, ein arg durchschnittlicher Film. Bestseller-Autor John Grisham, der die Originalvorlage schrieb, gab sich weder bei der Fabelführung noch bei der psychologischen Durchdringung der Figuren große Mühe. Spätestens seit der Zeit des film noir gehört das, was er zu bieten hat, zu den typischen hollywoodschen Krimi-Ingredienzien: Ein gutbetuchter Bürger, Anwalt seines Zeichens, verliebt sich in eine schöne Frau; die ihn vom rechten Weg abbringt; er verstrickt sich immer tiefer in deren Geheimnisse, bis er begreift, zu welch schändlichem Spiel er von ihr mißbraucht wird. Auf dem Weg zur Erleuchtung verliert er, was ein angesehener Mann verlieren kann: berufliches Renommee, gesellschaftliche Reputation, seine Kinder; seine Ehe war allerdings schon vorher geschieden. Und mehrfach segelt er knapp am Tode vorbei.
Das wäre kaum der Rede wert, gäbe es nicht den Versuch der Regie, über eine bewußt quälend lange Filmzeit eine Atmosphäre der Unsicherheit und Angst aufrecht zu erhalten. Altman erweist sich darin als Meister; er gönnt dem Zuschauer kein Aufatmen; sein Film birst vor szenischen Motiven der Bedrohung und Gewalt. So konstituiert er ein in sich geschlossenes Universum, in dem sich die Natur an den Verfehlungen des Menschen zu rächen scheint: "The Gingerbread Man" schwankt auf dem sumpfigen Boden Savannahs, aus dem das merkwürdige Fieber einer allumfassenden Morbidität hervorbricht. Dazu regnet es ständig, es ist dunkel, ein heraufziehender Hurrican suggeriert nicht weniger als den Untergang dieser Welt. Das Exterieur als Spiegel der Seelenlandschaft, der Trip in die Düsternis als filmisches Experiment. In diesem Höllental bewegt sich Kenneth Branagh als Anwalt Rick Magruder zunächst selbstsicher, dann immer mehr im Strudel der Ereignisse verschwindend. Schon die erste Einstellung deutet die Einsamkeit der Figur an: Die Kamera zeigt in einer totalen Luftaufnahme die versumpfte Landschaft und nähert sich dem Auto, in dem der Anwalt telefoniert - trotz permanenter Geschäftigkeit ein verlorener Mann in einer verlorenen Südstaatengegend. Später werden die "symbolischen" Bilder direkter, platter, vordergründiger. Je mehr der Zustand des Geheimnisvollen, Unerklärlichen verlassen wird und die Intrige ihren rationalen Kern offenbart, um so banaler werden auch die filmischen Mittel. Im grellen Finale kapituliert Altman dann vor der Kolportage, der Film schließt politisch und moralisch korrekt; wie im Märchen haucht das abgrundtief Böse seinen Geist aus, und der zum Mitschuldigen gewordene Bourgeois, der nun selbst, wenn auch nur in Notwehr handelnd, einige Menschen auf dem Gewissen hat, wird auf ewig an seiner Läuterung arbeiten müssen: die Familie achten, seine Kinder hüten, vermutlich nicht mehr fremdgehen und auch sonst ein ordentlicher Bursche sein. Vielleicht ist das alles ironisch gemeint und der ganze Film eine Parodie, wofür nicht zuletzt eine Nebenfigur spräche: die des Vaters der "femme fatale", ein offenbar wahnsinniger Mann. Altman verpaßt Robert Duvall arg zerfetzte Kleidung und wirres Haar und läßt ihn und seine ebenso irren, einer ominösen Sekte angehörenden Kumpel im Wald hausen. Töteten sie nicht die Katze der Tochter, und neigen sie nicht überhaupt zu Gewalt? Die Auftritte solch diabolischer Tunichtgute können wohl in der Tat nur parodistisch sein. Oder? (Ralf Schenk, film-dienst)

The Gingerbread Man. Über eine Begegnung in Paris mit Robert Altman - und über Altmans jüngsten Film "The Gingerbread Man"
Savannah!
Hier ist Paris! Die Stadt, in der das Kino erfunden wurde, bevor es nach Westen, nach Hollywood ging. Die Stadt, an die sich Hollywood immer wieder gern erinnert, wenn es an seine europäischen Wurzeln denkt, alle paar Jahre in einem kunterbunten Paris-Film. Die Stadt auch, in die amerikanische Stars und Regisseure am liebsten kommen, wenn sie in Europa für ihre Filme werben müssen. Gerade war Francis Ford Coppola hier, hat auf Hollywood geschimpft, den baldigen Untergang der großen Filmstudios vorausgesagt und ist anschließend nach Los Angeles zurückgeflogen. In zwei Jahren wird er zurückkehren, einen neuen Hollywoodfilm im Gepäck, und wieder wie ein kalifornischer König vor den Journalisten thronen, grauenvolle Verwünschungen gegen das Studiosystem ausstoßend.
Und jetzt ist Robert Altman an der Reihe. Graubärtig wie seit Jahrzehnten schon, weltmännisch, beleibt, mit der Gelassenheit eines erfahrenen Zirkusdirektors, sitzt er in einem Fauteuil im fünften Stock des Hotels "Monceau", nur einen Steinwurf entfernt von dem gleichnamigen Park. Unten auf der Avenue Hoche drängt sich der Nachmittagsverkehr zum Arc de Triomphe. Es ist warm. Frühlingsdüfte. Die Vögel zwitschern. Und Altman schweigt.
Worüber sollte er auch reden? Das wenige, was es über "The Gingerbread Man", seinen neuen Film, zu sagen gibt, läßt sich in fünf Minuten herunterbeten. Daß es die Idee des Hauptdarstellers Kenneth Branagh war, ihm, Altman, die Regie des Films anzutragen. Daß er, Altman, keine Berührungsängste vor einer Grisham-Story habe, daß er "mit weit offenen Augen" in dieses Projekt gegangen sei. Daß er Branagh am Telephon seine Version der Geschichte vorgetragen habe, und jener sei sofort davon begeistert gewesen. Daß es seine, Altmans, Idee gewesen sei, die Handlung von Mississippi nach Savannah, Georgia, zu verlegen. Und daß ihn an der ganzen Sache sowieso vor allem der Hurrikan "Geraldo" interessiere, der auf dem Höhepunkt des Dramas tobt und den Altman mit viel Wind- und Wasserkraft in den Straßen Savannahs nachgestellt hat.
Dasselbe, nur vielleicht mit ein wenig anderen Worten, hat Altman heute schon einem Dutzend französischer Journalisten erzählt, und nun erzählt er es auch dem Besucher aus Deutschland. Was sonst gäbe es über "The Gingerbread Man" schon zu sagen? Zum Beispiel dies: daß es Robert Altman wieder einmal gelungen ist, sich sowohl mit dem Produzenten als auch mit dem Verleiher seines Films zu überwerfen. Daß er unter dem Pseudonym Al Hayes aus John Grishams biederer Originalstory einen düsteren Scherbenhaufen gemacht hat, in dem nur ein paar grobe Brocken noch an Grisham erinnern. Und daß die Mächtigen der Branche, derart um ihre Erwartungen geprellt, zum Dank beschlossen, Altmans Film an der Kinokasse scheitern zu lassen.
Anfang Februar wurde "The Gingerbread Man" in acht (8!) von zwanzigtausend amerikanischen Kinos gestartet. Jetzt, Mitte Mai, läuft er auf dreißig Leinwänden und hat knapp 1,2 Millionen Dollar eingespielt. Damit ist Altmans Werk die bisher erfolgloseste aller Grisham-Verfilmungen. Coppolas "Regenmacher" beispielsweise brachte vierzigmal mehr ein als der "Gingerbread Man". Denn auch Coppola, sieh da, hat Grisham verfilmt. Einst war er neben Altman der große Rebell des amerikanischen Kinos, der Patriarch der New-Hollywood-Generation. Jetzt rebelliert er nur noch mit dem Mundwerk und hält seine Kamera gehorsam auf die Stars.
"Coppola und ich, wir müssen eben arbeiten", sagt Robert Altman milde. "Wir brauchen Geld für unsere Filme, und dieses Geld bekommt man nur in Hollywood." Vor achtzehn Jahren, als er "Popeye" drehte, hat Altman ebenso geredet. "Popeye" sollte sein Durchbruch sein. Es wurde sein Debakel. Altman verließ Hollywood - und ging nach Paris. Zehn Jahre hat er hier gelebt. Hier, im Exil, entstand "Vincent und Theo" (1989), sein europäischster Film. Dann, nachdem er sich mit "The Player" und "Short Cuts" die amerikanische Westküste wieder unterworfen hatte, kehrte er noch einmal zurück und drehte "Prêt-à-porter" (1995). Viele Szenen dieses Films spielen ganz in der Nähe des "Monceau", auf den Champs-Elysées, unter den Tuilerien. Darüber könnte man reden. Aber Altman schweigt. Die Vögel singen. Paris im Frühling. Und wir müssen nach Savannah.
Savannah im Regen! Es ist, als hätte der Himmel diese Stadt verflucht, sie zu ewiger Nässe, Fäulnis und feuchter Fruchtbarkeit verdammt, zu einem Zwitterdasein zwischen Land und Meer. Es regnet Bindfäden, als Rick Magruder (Kenneth Branagh) die Kanzlei verläßt, in der er gerade seinen jüngsten Anwaltstriumph gefeiert hat. Draußen steht klatschnaß eine junge Frau (Embeth Davidtz). Ein Wagen rast vorbei. "Jemand hat mein Auto geklaut!" ruft die Frau. Magruder bringt sie nach Hause. Mallory wohnt in einem Hexenhaus am Stadtrand, mit knarrenden Türen und wucherndem Büschelgras auf der Veranda. Drinnen schnurrt, wie so oft bei Altman, eine Katze um die klammen Möbel. Von weit her kommt schummriges Licht. Im Nu hat Mallory ihre Kleider ausgezogen, sie weint, Magruder tröstet sie, dann fallen sie übereinander her. Als Folge dieser Nacht wird Rick Magruder einen Mann umbringen - und später beinahe selbst getötet werden. Er wird seinem eigenen Untergang ins wäßrige Antlitz blicken und sich, mit allen Kräften rudernd, gerade noch so über den Wellen halten. Am Ende hat er nicht gewonnen, sondern überlebt.
"Ich mag keine Helden." Es gab eine Zeit, in der auch Hollywood sie nicht mochte. Die Polizisten oder Detektive, die damals in den Eingeweiden der Städte nach der Wahrheit wühlten, waren einsame, gebrochene Männer, und die Filme, in denen sie auftraten, nannte man später nach der in ihnen vorherrschenden Farbe die "schwarzen", films noirs. Dann, in den sechziger Jahren, hellte sich der Typus wieder auf, die good guys wurden heldenähnlicher. Altman gab die Antwort mit "The Long Goodbye" ("Der Tod kennt keine Wiederkehr", 1973): der Detektiv ein Dilettant und Clown, die Welt ein Irrenhaus, die Wahrheit ein Zufallstreffer. Doch auch von diesem Schlag erholte sich das Genre. Erst kamen, vereinzelt, die Nachzügler des neonoir: Gesten aus den Vierzigern in der Welt der neunziger Jahre. Dann folgten die Grisham-Filme. John Grishams Geschichten kennen nur ein Rezept: Ein junger Anwalt entdeckt, daß etwas faul ist in der Welt, und bringt es in Ordnung. Auf dem Weg zum Drehbuch gehen die letzten Zwischentöne der Stories verloren. In Grisham-Verfilmungen sitzt man so bequem wie in einem Autoscooter: Knopf drücken, drei Runden drehen, ein paar Rempeleien, dazu Musik. Nicht so bei Altman. Nach einiger Zeit ist es egal, wer hier wen jagt oder verführt
"Ich will Ihnen nichts sagen mit meinem Film. Es hat einfach Spaß gemacht, einen Hurrikan zu inszenieren, und es war wunderbar, in Savannah zu drehen." Aber er möchte etwas zeigen: daß es möglich ist, noch aus dieser dünnen, etwas dümmlichen Geschichte so etwas wie eine souveräne Skizze zu machen, eine Studie in Farbgebung, eine Übung in Stil. Die Innen- und Außenräume Savannahs, ohnehin durch Sturm und Regen verschattet, hat Altman zusätzlich abgetönt, eingedunkelt, gebleicht, damit nur jene einzige Farbe noch leuchtet, die er in seinem Film gelten läßt: die Farbe Rot. Zuerst sehen wir, als roten Punkt auf der Landstraße, Magruders Mercedes-Cabrio. Danach eine rote Schwimmweste, rote Gefängniskleidung, rote Morgenmäntel, rote Rücklichter. Selbst die Tischkerzen in diesem Film sind rot. Und als am Ende der Bösewicht sterben muß, da versinkt er, von einer Leuchtpatrone getroffen, rötlich flackernd im Hafenbecken.
Um dieses Rot zu bekommen, hat Altman den Chinesen Changwei Gu engagiert, den Kameramann von Chen Kaige ("Lebewohl, meine Konkubine") und Zhang Yimou ("Rotes Kornfeld"). Unter Gus Blick erscheint die Stadt Savannah geradezu unirdisch, irreal, wie ein verzauberter grauer Garten, in dem nur ein paar Rottöne überlebt haben. Das gibt der Story den Rest. Nach einiger Zeit ist es egal, wer hier wen jagt, betrügt oder verführt. In dem Chaos, das der Film anrichtet, zählt nur noch der einzelne Moment. Das Genre explodiert, aber es gibt kein Feuerwerk, sondern eine Wasserschlacht. Daher kommt es, daß einen "The Gingerbread Man", aller sichtbaren Virtuosität zum Trotz, ziemlich kalt läßt. Altman hat sich einen schönen Spaß mit John Grisham gemacht, aber den Zuschauer erreicht davon bloß ein Späßchen.
Es ist spät. Der Regisseur schweigt. Da öffnet einer seiner Mitarbeiter die Tür mit der Nachricht, "The Gingerbread Man" habe in Minneapolis in der ersten Woche zweiundzwanzigtausend Dollar eingespielt. Altmans Gesicht hellt sich auf. Noch ist sein Film nicht verloren, wenigstens nicht in Minneapolis.
Das Lied vom gingerbread man, vom Lebkuchenmann, dem der Film seinen Titel verdankt, erzählt von einer Teigfigur, die keine Lust darauf hat, aufgegessen zu werden. "Run, run, as fast as you can, you can't get to me cause I'm the gingerbread man", singt sie, während sie vor aller Welt davonläuft. Auch Robert Altman möchte nicht in einem jener Mägen landen, die in Hollywood Filme verdauen. Bisher ist er seinen Verfolgern noch immer entkommen. (Andreas Kilb, DIE ZEIT 14/5/1998)

"Gingerbread Man" - 2:0 für Grisham. In den Sümpfen von Savannah verlieren sich ein düpierter Anwalt, ein platter Thriller und der Altmeister des vermeintlich unabhängigen amerikanischen Kinos.
Langsame Flugaufnahme über einer Flußmündung. Der Strom hat sich in viele Seitenarme verzweigt, die scheinbar planlos durch die Landschaft mäandern. Sie teilen sich und laufen wieder zusammen, und doch addiert sich die Vielzahl zufälliger Bewegung zu einer zielstrebigen, verläßlichen Strömung. Durch das weitläufige Mündungsdelta führt ein Highway, ein schnurgerades Artefakt im chaotischen Geflecht der Wasserstraßen.
Robert Altman führt mit einem bedeutungsschwangeren Bild ein in die Geschichte vom "Gingerbread Man". Er gibt vor, was uns erwartet: Hier stehen elementare Gewalten gegen künstliche Ordnung, die unberechenbare Natur des Menschen gegen seine vernunftbestimmte Lebensplanung. Ein episches Intro, folgen soll aber eine Grisham-Verfilmung.
Über den Highway fährt ein rotes Mercedes-Cabrio. Staranwalt Rick Magruder (Kenneth Branagh) ist auf dem Weg zu seiner Kanzlei. Am Abend wird es ein Fest geben, er hat einen großen Prozeß gewonnen: Kein Triumph der Gerechtigkeit, sondern des verzwickten Regelwerks, das keiner so auszulegen weiß wie der smarte Rechtsgelehrte aus Savannah. Magruder ist auf der Höhe seines Erfolges. Was folgt - die Bilder nehmen es vorweg - ist sein unaufhaltsamer Abstieg.
Mitten in der Nacht, bei strömendem Regen trifft er wie zufällig auf die verzweifelte Mallory (Embeth Davidtz). Er fährt sie zu ihrem Haus am Rand der Stadt und verbringt die Nacht mit ihr. Sie fühlt sich von ihrem verhaltensgestörten Vater bedroht und fürchtet um ihr Leben. Der Anwalt will die Sache in die Hand nehmen, aber verliert darüber jede Selbstbeherrschung. Er wird einen Menschen töten, seinen Beruf verlieren und nicht verstehen, wie es zu all dem gekommen ist.
Das versumpfte Savannah wirkt bei Altman noch um einige Schattierungen dunkler als in Clint Eastwoods "Mitternacht im Garten von Gut und Böse". Er gräbt noch tiefer im morastigen Untergrund der Südstaatenmetropole und erstellt ein wahres Horrorszenario. Robert Duvall in der Rolle von Mallorys Vater gibt einen zivilisationsmüden Waldmenschen, bei dem man nie weiß, wo politischer Terrorismus aufhört und der schlichte Wahnsinn anfängt. Ein beängstigendes Monster, das sich mit seinesgleichen zu marodierenden Horden zusammenrottet. Ein mythischer Thriller, über dem die düstere Wetterprognose für die Küste Georgias wie die apokalyptische Offenbarung über der Menschheitsgeschichte lastet.
Aber noch immer steht eigentlich eine Grisham-Verfilmung auf dem Programm. Altman baut über eineinhalb Stunden eine Spannung auf, die nicht aus der erzählten Geschichte resultiert. Er hat sich aus der Vorlage ausgeblendet, um selbstgefällige Stilstudien zu treiben. Ihm bleiben gerade 25 Minuten, um in die vergessene Story zurückzufinden, und so nimmt er die nächste Auffahrt auf den Highway der Grisham-Dramaturgie und gibt mächtig Gas. Fortan leugnet der Film die Ikonographie seiner Bilder. In hektischen Dialogblöcken reicht er die Informationen nach, die er dem Zuschauer bislang vorenthalten hat. Die Expedition in den zivilisatorischen Bodensatz erklärt sich als schlichter Erbstreit. Und Anwalts Liebling Mallory mutiert von einer schutzbedürftigen Frau zur abgegriffenen Femme fatale.
Alle düstere Unergründlichkeit der Story beruhte auf Desinformation. Was jetzt kommt, ist nur noch ärgerlich, bis im Showdown auf sturmgepeitschter See auch der Rest an Logik und gutem Geschmack über Bord geht.
Auch Francis F. Coppola mußte sich kürzlich mit seinem "Regenmacher" dem Phänomen Grisham geschlagen geben. Aber wo Coppola nach halbherzigem Schaukampf gelassen das Handtuch warf, um an der Kinokasse seine garantierte Börse einzustreichen, läßt sich der Altmeister des (wovon auch immer) unabhängigen amerikanischen Kinos auf die Bretter schicken.
Die Vorberichte hatten trügerische Hoffnungen geweckt. Die Wetten standen gut. Altman hatte Grishams Originaldrehbuch umgedichtet und zugerichtet. Er rühmte sich, in den Querelen um die letzte Schnittfassung auch der Produktionsfirma erfolgreich getrotzt zu haben. Man hat also einen Altman-Film erwarten dürfen. Und dann das. Grisham schafft sie alle. (Manfred Müller, SPIEGEL ONLINE 21/1998)

Die beste Grisham-Verfilmung und gleichzeitig ein ungemein spannender Robert Altman-Thriller: Mit "The Gingerbread Man" zeigte der Altmeister Altman, daß ihm nicht nur komplexe Kunstwerke wie zu letzt "The Player", "Short Cuts", "Mrs. Parker ..." oder "Pret-a-porter" gelingen. Auch ein gradliniges, hauptsächlich auf Tempo und Spannung ausgerichtetes Filmrätsel gewinnt unter Altmans Regie ganz besonderen Reiz. Kenneth Branagh spielt Rick Magruder, einen sehr erfolgreichen, aber immer noch bescheidenen und ganz sympathischen Anwalt, dessen Einsamkeit ihn in die Arme der jungen Kellnerin Mallory Doss (Embeth Davidtz) treibt. Nachdem Magruder die ängstliche Mallory juristisch gegen ihren scheinbar gefährlichen verstörten Vater Dixon (Robert Duvall) schützt, häufen sich die anonymen Drohungen gegen die Familie des Anwalts. Ein Sturm zieht auf, und immer tiefer verstrickt sich der gleichzeitig starke und verletzliche Anwalt in eine undurchsichtige Geschichte.
Der Savannah-Anwalt Magruder ist eine reizvoll zwiespältige Figur: So erfolgreich, daß seine Kinder ihn häufig in den TV-Nachrichten sehen. Und angeschlagen weil er seine Ehe und Familie nicht zusammenhalten konnte. Da kommt die durchnäßte, hilflose junge Mallory gerade recht. Leicht läßt sich der liebeshungrige Mann verführen. Bereitwillig und kostenfrei setzt der Staranwalt seinen ganzen Apparat ein, um den gefährlichen Dixon zu finden und zu verurteilen. Daß er einst den Mörder eines Polizisten erfolgreich verteidigte, lassen ihn die Ordnungshüter gerade dann spüren, als er sie braucht, um seine Kinder zu schützen.
Bei Robert Altman kann man allerdings auch noch erwarten, daß eine ganze Reihe hochkarätig besetzter Rollen fasziniert: Darryl Hannah sorgt für einen langanhaltenden Irritationseffekt, weil man sie so - mit Brille, hochgestecktem Haar, zurückhaltend - noch nicht gesehen hat. Robert Downey Jr. schwankt als (ab-) gerissener Privatdetektiv Clyde Pell zwischen der Flasche und hilfreichen Geistesblitzen hin und her. Ein Rolle mit besonderem Witz - wurde Downey Jr. doch ganz real wegen Drogenvergehen verurteilt. Vor allem die junge Mallory Doss bleibt mysteriös: Ist sie vielleicht nur der hilflos wirkende Köder, der Magruder benutzt und ihn in eine ganz andere Geschichte hineinziehen will? Ebenso wie der "Champion of Civil Rights" Magruder nicht den glänzenden Held darstellt, steht eine zu glatte Interessen-Justiz der Erfolgreichen im Zwielicht. Zu einfach wird Dixon in die Psychiatrie abgeschoben.
"The Gingerbread Man" war das einzige Originalscript Grishams, das nie veröffentlicht wurde. Es stammt noch aus der Zeit vor den Bestsellern und Kinohits des schreibenden Juristen. Mit energischen Effekten, Tempo und viel "Drive" macht der reife "Autorenfilmer" Altman vielen sogenannten Action-Regisseuren etwas vor. Die Montage sorgt für wachsende Unruhe und Bedrohung - wo schon der Handlungsverlauf hochspannend ist. Auch andere Grishamfilme mit teilweise überlangen Gerichtsszenen bekommen einen Seitenhieb ab: Während einer - angenehm raschen Verhandlung - zeigt Altman den unangepaßten Privatschnüffler Clyde schlafend! "Gingerbread Man" heißt nach einer gruseligen Geschichte, die Mallorys Vater erzählt haben soll, auf deutsch Lebkuchenmann. (Günter H. Jekubzik)

Alltag in Hollywood. Wenn ein weiterer Roman des US-amerikanischen Anwalts und Autors John Grisham verfilmt wird, dann ist das eigentlich nichts Besonderes. Meist tragen die Filme dann prägnante Titel wie Die Firma, Die Akte oder Der Klient, sie sind routiniert inszeniert von alten Könnern wie Sidney Pollack oder Alan J.Pakula oder im schlimmeren Fall von Joel Schumacher, und sie können sich mit prominenten Starnamen, von Tom Cruise über Susan Sarandon bis Denzel Washington, schmücken.
In jüngster Zeit beginnt sich dies jedoch zu ändern. Plötzlich hat der ewige Rebell Francis Ford Coppola Regie geführt (durchaus mit Erfolg: Der Regenmacher probiert mit der Vorlage einiges aus), und es hat fast den Anschein, als hätten Grisham-Verfilmungen eine neue Kino-Liga erreicht.
The Gingerbread Man heißt nun die neueste Adaption, es ist ein Film von Robert Altman, der jedoch weit mehr mit den eingangs genannten Werken zu tun hat als mit dem seines Regisseurs. Robert Altman ist unter anderem dafür berühmt geworden, daß er mit parallelen Erzählsträngen umgeht wie mit Tonspuren: Irgendwie sind sie alle gleichzeitig präsent, aber der Fokus (oder die Lautstärke, die Betonung) werden beständig verschoben. Wir erinnern uns an Nashville, oder in jüngerer Zeit an Short Cuts. Das heißt, Altmans Filme sind selten lineare Erzählungen, und es bedeutet weiters, daß sie meist von einem Ensemble von Figuren (und Darstellern) getragen, fragmentiert und wieder zusammengeführt werden.
In The Gingerbread Man ist diese produktive, packende Unübersichtlichkeit nun einem eher konventionellen kriminalistischen Rätsel gewichen, einem Thriller-Plot, bestehend aus Sex und Crime und Alkohol und ein wenig religiösem Fanatismus.
Letzteren personifiziert Robert Duvall, unterstützt von einer unfreiwillig komischen Horde ungewaschener, bärtiger Käuze. Duvall bedroht einen angesehenen Anwalt (Kenneth Branagh) und dessen Familie, weil seine eigene Tochter ihn ihrerseits wegen Hausfriedensbruchs und anderen Übergriffen verklagt hat und der Anwalt sie verteidigt.
Die Geschichte spielt in Savannah, im Süden der USA, die Bilder sind grau verregnet. Die Schauspieler – in weiteren Rollen sind Robert Downey jr., Tom Berenger und Embeth Davidtz zu sehen – haben sich breitesten Dialekt angeeignet, und das ist auch schon eine der bemerkenswertesten Verwandlungsleistungen, die sie erbringen. Die Geschichte wird verwickelt, rechtzeitig zur komplizierten Sachlage findet sich ein Hurrikan ein, um dies entsprechend zu illustrieren, und am Ende ist nicht mehr ganz klar, wer hier wen worum betrogen hat, aber da hat sich The Gingerbread Man schon längst als konventionelle, halb spannende Grisham-Konfektion entpuppt, an der der Name Robert Altman klebt wie eine falsch plazierte Trademark. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 22/5/1998)

Daß klassisch allein nichts nützt, wenn der künstlerische Eigensinn abhanden kommt, zeigt Robert Altmans neuer Film, der wie Coppolas Berlinale-Abschlußfilm The Rainmaker auf eine Geschichte des Bestselleristen John Grisham zurückgeht. The Gingerbread Man versucht Spannung zu machen anhand der zweitältesten Geschichte der Welt: Ein Karrieremann droht alles zu verlieren, weil er sich von einer mörderischen jungen Frau verführen läßt.
Dieser Film krankt an vielem: an seiner Geschichte, deren Hakenschläge man sich an einer Hand ausrechnen kann, an seinen Hauptdarstellern (uncharismatisch: Kenneth Branagh; TV-Krimi-Schauspiel von Embeth Davidtz und Daryl Hannah), und an der Anonymität der Inszenierung. Ein konservativer Thriller, in dessen schwarzem Loch Stil und Intelligenz eines Filmemachers verloren gehen: der - im schlimmsten Sinn - erste echte Hollywoodfilm Altmans. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 21/2/1998)

Die Fabel vom Knäckebrotmann . Robert Altmans neuer Film, ein Thriller nach John Grisham, betreibt den Ausverkauf großer alter Kinomänner: Altman kennt sich als Filmemacher selbst nicht mehr - und der Schauspieler Robert Duvall hat sich nie zuvor soweit in die Karikatur vorgewagt. Mit Zufallsbekanntschaften beginnen viele Thriller, nicht nur dieser. Schicksalhafte Begegnungen aus heiterem Himmel schaffen schließlich Identifikation, dieses Das-könnte-mir-auch-jederzeit-passieren- Gefühl. Außerdem sind folgenreiche Zufälle, im Roman und im Kino, ja so leicht zu konstruieren. Ein Mann (Kenneth Branagh), Erfolgsanwalt, trifft also eine schöne junge Frau (Embeth Davidtz), nachts auf der Straße, im strömenden Regen. Der Galan nimmt die Widerspenstige im Auto mit - und bleibt, wo er sie eigentlich nur abliefern wollte, bei ihr daheim, gleich über Nacht. Die Frau wird nämlich bedroht, von ihrem zu Handgreiflichkeiten neigenden durchgedrehten Vater (Robert Duvall), daher ist der - legale und körperliche - Beistand des neuen Freundes, der eben auch ein Gentleman ist, am Platz.
Von hier aus nimmt das Drama seinen Lauf: Ein Mann, der stets nur dem Gesetz vertraut hat, muß anerkennen, daß das Recht seine Grenzen hat, wo nur noch die rohe Gewalt regiert. "Just some nutty old man", einen einfach nur verrückten alten Mann nennt Branagh anfangs noch den Vater seiner Geliebten, aber da weiß er noch nicht, was auf ihn zukommen wird. Die Inhaftierung des Psychopathen auf rechtlichem Wege gelingt zwar, aber seine Freunde, eine wilde Horde Obdachloser, befreien ihn schon bald wieder. Und der Terror wird, wie in der Geisterbahn, Station für Station angefahren und abgehakt: Die Kinder des Anwalts werden entführt, eine Intrige und eine Jagd beginnen - und bald schon verzeichnet man erste Todesopfer.
Das Erstaunlichste an The Gingerbread Man ist der Name seines Regisseurs. Robert Altman, ein Mann, der den ultrakonservativen Subtexten dieses Films eigentlich seit Jahrzehnten denkbar fern ist, hat ihn inszeniert - wie ein Auftragsregisseur, anonym, bieder, in breiten Pinselstrichen und mit der definitiv falschen Besetzung: Der Brite Kenneth Branagh ist mit seinem forcierten Südstaaten-Akzent eine so erzwungene Figur wie sein windiger Assistent Robert Downey jr. und etwa der heruntergekommene wilde Mann, den man Robert Duvall hier aufgezwungen hat.
The Gingerbread Man ist nun schon der zweite große Hollywoodfilm innerhalb kürzester Zeit, der seinen Schauplatz in Savannah, Georgia findet: Nach Clint Eastwoods Midnight in the Garden of Good an d Evil scheint auch dieser Film in der Provinz nach anderen, weniger verbrauchten Krimibildern zu suchen. Wo aber Eastwood den Thrillerkonventionen geschickt aus dem Weg geht, tritt Altman, als wär's reine Absicht, von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen, von einem mörderischen Klischee zum nächsten.
Die alte Fabel vom Gingerbread Man, um die herum sich Grishams Geschichte rankt, handelt vom wendigen Lebkuchenmännchen, das nicht zu fangen ist, während es läuft und läuft und läuft. Aber überraschend kommt dann doch die Endstation: Ein Fuchs beißt ihm den Kopf ab. Solche traumatischen Stories liebt man in Hollywood, wo man aus Mythologien Action bastelt und aus Kindergeschichten Alpträume. Robert Altmans Lebkuchenmann, der zunächst so selbstsichere Branagh, der plötzlich vor den Trümmern seiner Existenz steht, sieht hier allerdings eher aus wie der Knäckebrotmann: in der (Traum-)Fabrik gestanzt, für ein kalorienarmes neues Hollywood.
The Gingerbread Man, das ist die alte Geschichte von der Liebe und der Pflicht und dem abgrundtief Bösen, das von den Rändern der Gesellschaft, von den sozialen Außenseitern und unberechenbaren Minderheiten her über die Naiven und die Unbescholtenen hereinbricht: Kino für den schreckhaften amerikanischen Kleinbürger - déjà vu, alles schon erlebt und alles schon gehabt. Daß das Massenkino Hollywoods über der eigenen, so gut verkaufbaren Banalität unbeweglich geworden ist, beweist dieser Film immerhin höchst erfolgreich.
Hinter Altmans konventioneller Inszenierung scheint aber auch eine Fluchtbewegung zu liegen, eine Kapitulation vor der Tristesse und der Verwechselbarkeit des Materials, das einem Bestseller von John Grisham entnommen ist: Wo nichts mehr zu retten und außer Vorurteilen nichts mehr zu erzählen ist, stellt der Rückzug in die Anonymität einen fast schon verständlichen Schritt dar. Möglicherweise hat sich Altman, wohl wissend, was er da tut, mit der totalen Identitätslosigkeit des Gingerbread Man ja auch nur einen (allzu) subversiven Scherz erlaubt. (Stefan Grissemann, DIE PRESSE, 27/5/1998)

Eine völlig nackte Frau; und sie weint jammervoll. In diese emotionelle Falle, das weiß der weise, alte Regie-Guru Robert Altman, gehen wirklich alle. Männer mit Herz voran, der Rest hinterdrein. Und weil das Publikum damit so schön in einem Boot sitzt, könnte es nach so einem Gefühlsstart ganz rasch die Stromschnellen und Wasserfälle einer Thrillerhandlung hinuntergehetzt werden, wie sie zynisch gebastelter, logisch verklemmter nicht denkbar ist.
Aber Altman läßt seine Zuschauer lieber in einem breiten Strom treiben, gemächlich, mit der Macht eines Naturereignisses. Das verschafft der Story eine Plausibilität, die eigentlich gar nicht vorhanden ist. Doch darauf kommt's gar nicht an bei dieser Verfilmung eines unveröffentlichten Justizthrillers von John Grisham. Denn er wäre nicht er selbst, wenn Altman - einmal ungewohnt als Psychoterrorist - Grishams geschniegelten Pegasus nicht so lange gegen den Strich gebürstet hätte, bis der struppig bockt, sich aufbäumt, nach allen Seiten auskeilt und Schaum vorm Maul hat.
Irritierend, beängstigend und letztlich doch irgendwie konventionell ist zu erleben, wie sich hier Spießers Alptraum - ein beliebtes Kinogenre - vollzieht. Indem dieser Spießer auch noch ein selbstgefällig-egozentrischer Er- folgsanwalt für eine mit- tellose Mandantin so lan- ge auf die Nase fällt, bis er kopfüber in der Erkenntnis landet, von einem kriminellen Genie genial genasführt zu sein. Und dabei immerhin den Sinn des Lebens erkannt zu haben. Der Hurrican "Geraldo" bringt ebenfalls Gegenwind in den ursprünglich als zügiger Mainstream konzipierten Streifen. Der wartet unter anderem mit dem malerischen Tod eines Bösewichts durch eine Leuchtrakete auf. Eine besonders aparte Art, Licht in eine dunkle Angelegenheit zu bringen... (Rudi John, KURIER)

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BEYOND HYPOTHERMIA (BEYOND HYPOTHERMIA)

Hongkong 1996. 85 Min
Regie: Patrick Leung Pak Kin, Buch: Roy Szeto, Kamera: Arthur Wong, Schnitt: Wong Wing Ming, Darsteller: Lau Ching Wan (Long), Wu Chien Lien (Ching), Han Sang Woo (Yichin)
Kinostart: 22/5/1998

Nachts. Leise betritt ein asiatisches Mädchen eine Kühlfabrik, meißelt aus einem Eisblock ein Präzisionsgewehr und nimmt auf der anderen Seite einen Kerl ins Visier, der einer Stripperin zusieht. Als die Hüllen fallen, fällt ein schallgedämpfter Schuß, und die heiße Patronenhülse schmilzt sich in das Eis, während die Tänzerin in eine Blutlache tritt und schreit. Es ist der einzige Laut in der Anfangsszene und wie ein Schrei in der Seele der schemenhaften, meist stummen Killerin (Wu Chien Lien). Sie hat keinen Namen, nur falsche Pässe, keine Identität, nur selbstgemachte Polaroids, die sie wieder verbrennt, keine Vergangenheit, nur ihre Adoptivmutter und Agentin, die ihr jede Regung ausgetrieben und alle Regeln des Gewerbes eingetrichtert hat. Patrick Leung ist ein Schüler von John Woo, dessen Killer ebenso in seinem Referenzsystem zu finden ist wie Bessons Nikita und Melvilles Der eiskalte Engel: Melodramen konsequenter als der Tod. Leungs ice baby verliebt sich in einen warmherzigen Suppenverkäufer und gibt so einem Leibwächter, der seinen von ihr liquidierten Boß rächen will, eine Blöße: ihr erhitztes Herz. BEYOND HYPOTHERMIA ist kühl und mit kühnem Kitsch komponiert und die Stille wird nur gebrochen vom weichen Wummern der Waffen wie im höllischen Showdown, der in Zeitlupe die griechische Tragödie und romantische Ballade zur Hongkong-Himmelfahrt vereint. Blast off. (Rolling Stone)

Eine wortkarge Auftragskillerin verliebt sich in einen sympathischen Hongkonger Nudelsuppenverkäufer, der sie nachts mit seinen Plaudereien unterhält. Ein Killer, der die Frau beseitigen soll, schweißt das Paar bis zum bitteren Ende noch enger zusammen. Ein reizvoll zwischen effektvollem Thriller und tragischer Liebesgeschichte pendelnder Film voller gewalttätiger (Genre-)Szenen, die in einem Wechselbad der Gefühle zum konsequent-traurigen Abschluß gebracht werden.
Daß Geschichten über Zuneigung, Freundschaft und Liebe in Hongkong immer ein wenig anders erzählt werden als in Europa und Amerika, ist spätestens seit den Filmen von John Woo und Wong Kar-Wai auch hierzulande bekannt. Gefühle "passieren" im Hongkong-Kino in der Regel nur verhüllt im Nebel von physischer und sozialer Gewalt. Deswegen sind solche Liebesgeschichten fast nie von dieser Wellt und selten einfach zu konsumieren.
Als Frau ohne Namen und ohne Vergangenheit läßt es sich problemlos leben in einer anonymen Megapolis wie der chinesischen Hafenstadt. Die distanziert und regungslos, aber voller Präzision exerzierten Morde bringen das notwendige Geld, eine Adoptivmutter vermittelt die Aufträge - so kann ein Leben ein Leben lang zu Ende gehen. Sicher ist es lediglich der Hunger, der sie nach jedem Job zu immer der selben Suppenküche bringt, in der man auch spät nachts noch einen Teller Nudeln ungestört essen kann. Die Geschichten, die der nette Nudelsuppenverkäufer erzählt, kann sie ertragen, da sie nicht antworten muß. Irgendwie kommt sie gern hierher, weil sie einfach wieder verschwinden kann.
Das ist die Exposition einer Liebesgeschichte wie sie schöner nicht sein kann. In "Beyond Hypothermia" kochen alle Gefühle auf kleinster Flamme, es ist, wie der Titel schon andeutet, Leben eigentlich schon jenseits des Kältetodes. Was nur folgen kann, ist die perfekte Tragödie. Der Koch und die Killerin lieben sich ohne große Worte, stehen wie selbstverständlich zusammen, als die Opfer ihrer Gewalttaten Gegengewalt provozieren. Ein Killer, der die Auftrags-Mörderin beseitigen soll, schweißt die beiden nur noch enger zusammen. Es kommt zum unausweichlichen Finale.
Extreme Gewalt und zarte Gefühle sind zwei Stilmittel des Hongkong-Kinos, die in ihrer Kombination dem Publikum, wenn es sich darauf einläßt, ein eindringliches Wechselbad der Emotionen bescheren. Im Gegensatz zu John Woo, bei dem das Sentiment bisweilen hin zur Kitschgrenze getrieben wird, werden bei Patrick Leung auf der Gefühlsebene verhaltene Töne angeschlagen, diese aber mit um so heftigerer Härte konterkariert. Gerade das macht jede auf der Leinwand auszumachende menschliche Regung so intensiv und einprägsam. Bei allem Einsatz übersteigerter Brutalität bleibt nur die Geschichte einer zaghaften Annäherung in Erinnerung, die im Tod ihre Erfüllung findet.
Formal nicht ganz so versiert wie Woo und nicht so konzeptbehaftet wie Wong Kar-Wai, gelingt es Patrick Leung trotzdem immer wieder, gerade scheinbare Nebensächlichkeiten mit einer Prägnanz in Szene zu setzen, die nachhaltig beeindruckt. Getragen wird die traurige Liebesgeschichte jedoch durch das Kammerspiel der beiden Hauptdarsteller. Lau Ching Wan, der die Rolle des tragischen Clowns mit beachtlicher Leichtigkeit meistert und Wu Chien Lien ("Eat Drink Man Woman"), der man die unmenschliche Kälte und die spröde Zerbrechlichkeit gleichermaßen wie selbstverständlich abnimmt. (Jörg Gerle, film-dienst)

Mit dem Wechsel von John Woo nach Hollywood und den veränderten politischen Umständen in Hongkong mußte sich der Liebhaber von Actionware aus Fernost schon auf eine Durststrecke vorbereiten. Doch plötzlich rücken hierzulande unbekannte Namen ins Rampenlicht, Patrick Yau (The Odd One Dies) etwa, oder Patrick Leung.
Denn was uns der Woo-Schüler Leung (er war bei The Killer und Bullet in the Head mit von der Partie) mit seinem BEYOND HYPOTHERMIA in Sachen Stil und Action vorsetzt, das braucht sich vor den Werken des Meisters nicht zu verstecken.
Hauptfigur ist eine namenlose Killerin, wie sie perfekter nicht sein kann. Eine Lebensgeschichte scheint sie nicht zu besitzen, und nachdem sie wieder einmal einen Auftrag ihrer Chefin Mei ausgeführt hat, verschwindet sie scheinbar im Nichts - um dann als zurückhaltende junge Schönheit wieder aufzutauchen. Und genau dieser Lebenswandel macht der Tötungsmaschine zu schaffen. sie sehnt sich nach ein paar netten Worten von Freunden, nach einer eigenen Identität, nach etwas Wärme in der kalten Großstadt. Die bekommt sie nur in Form einer heißen Suppe beim Imbißstand von Long, der sich natürlich für seine schweigsame Stammkundin zu interessieren beginnt. Wenn er sich da mal nicht die Finger verbrennt. Denn die rechte Hand eines von der Killerin ermordeten Gangsterbosses, ein cooler Typ aus Korea, sinnt unbarmherzig auf Rache. (Martin Schwab, Zitty Berlin)

Eine eisklate Profikillerin (Wu Chien-lien), bei der schon als Kind eine Körpertemperatur von fünf Grad unter dem normalen Wert festgestellt wurde, sieht ihr Gewerbe mit gemischten Gefühlen: einerseits tötet sie gerne für Geld, andererseits leidet sie unter ihrer Anonymität. Außer iher Tante (Shirley Wong), die als Vermittlerin zwischen ihr und den Auftraggebern auftritt, weiß niemand etwas über sie, und sie selbst weiß noch nicht einmal ihren echten Namen, da sie schon als kleines Mädchen aus Nordkorea nach Hong Kong geflohen ist. Sie kann nie eine längere Zeit am selben Ort wohnen bleiben und hat weder Freunde noch einem Mann.
Gerade Letzteren wünscht sie sich aber mehr als alles andere und mehr als dies ihr Beruf eigentlich zulässt, denn sie hat sich in einen Nudelsuppenverkäufer (Lau Ching-Wan) verliebt, zu dem sie nach jedem erledigten Auftrag geht, um sich wieder als Mensch zu fühlen. Auch dieser Mensch verdiente sich einst seinen Lebensunterhalt auf der dunklen Seite des Gesetzes bei den Triaden Hong Kongs, hat diesen Teil seines Lebens aber weit hinter sich zurück gelassen.
Eines Tages wird die Killerin bei der Ausübung ihrer Arbeit von einem Leibwächter eines Triadenchefs beobachtet, als dieser einem Moment lang wohl nicht aufmerksam genug war. Er hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, das Mädchen zu finden und den Tod seines Chefs zu rächen.
"32 Grad Celsius" ist ein für das Actiongenre ausgesprochen ruhiger Film mit wenigen Dialogen, der einen großen Teil seiner Faszination aus den Gegensätzen zieht: einerseits ist die Hauptdarstellerin im "Beruf" eine eiskalte Frau, etwa so wie Pam Anderson in "Barb Wire", andererseits ist sie privat eine äußerst zerbrechliche und liebesbedürftige Person. Einerseits gibt es hektische Schießereien, andererseits werden melancholische Szenen gezeigt. Die Tatsache, daß Gewehrkugeln, die in Schrittgeschwindigkeit fliegen, Gewalt deutlicher Darstellen als in wenn sie sich in Echtzeit bewegen, hat auch Oliver Stone in Natural Born Killers bereits erkannt. Im Gegensatz zu Filmen aus Hollywood ist dieser Film durchgehend konsequent, es werden keine Kompromisse gemacht, auch ein kleines Mädchen, das die Killerin gesehen hat, wird nicht verschont. (heinz-online)

Eiskalt dreinschauen und abdrücken. Ein Privileg, das in seiner ausgereiftesten Form meist asiatischen Schauspielern vorbehalten ist. Wie dieser Hongkong-Action-Killer-Thriller wieder mal beweist. Hinter dem fürchterlichen Titel verbirgt sich die seltsame Geschichte einer (anscheinend) eiskalten Auftragskillerin, die ihre Opfer ebenso gnadenlos wie stillschweigend umlegt.
Ihr kalter Blick verhüllt die unglaubliche Leere einer völlig verdrängten Kindheit, ihrer Namenlosigkeit und das unbändige Verlangen nach einer Identität. Eines Tages verliebt sie sich in einen Nudelsuppen-Koch und versucht, ihre kalte Seele durch dessen Zuneigung und heiße Suppen zu wärmen. Als sie aber mit einem Mord die Ehre eines Berufskollegen verletzt, beginnt dieser mit der Jagd auf sie und alles auf den großen Showdown hinauszulaufen, der dann blutig und stilecht - dem Hongkong-Kino entsprechend - einsetzt.
Regisseur Patrick Leung könnte, selbst wenn er wollte, seinen Lehrmeister John Woo nicht verleugnen und inszenierte zügig diese Blutoper, ohne dabei auf die Ambivalenz in der Figur seiner eiskalten Killerin mit den brennenden Sehnsüchten zu vergessen. Die junge Wu Chien Lien, die bereits in Ang Lees „Eat Drink Man Woman“ eine Hauptrolle spielte, als Killerin.
Sie könnte mit ihren Blicken einerseits locker den Jangtsekiang zufrieren lassen, andererseits schafft sie es, uns (unerlaubtes?) Mitgefühl für eine Mörderin zu entlocken. Und bis zum Schluß hoffen zu lassen, sie hätte vielleicht doch einen kugelsicheren Tauchanzug unter ihrem Mantel an (bei der Menge an Kugeln, die sie abbekommt, würde eine Weste eh nix mehr helfen). Um sich mit dem wirklich attraktiven Berufskollegen zu versöhnen und von nun an mit ihm gemeinsam... Aber das ist eine andere Geschichte... (Heike Obermeier, KURIER)

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TANGO GEFÄLLIG (OUT TO SEA)

USA 1997. 106 Min
Regie: Martha Coolidge, Buch: Robert Nelson Jacobs, Musik: David Newman, Kamera: Lajos Koltai, Schnitt: Anne V. Coates, Darsteller: Jack Lemmon (Herb), Walter Matthau (Charlie), Dyan Cannon (Liz), Gloria de Haven (Vivian), Brent Spiner (Godwyn), Elaine Stritch (Mavis)
Kinostart: 22/5/1998

Der unverbesserliche Spieler Charlie (Walter Matthau) überrascht seinen Schwager Herb (Jack Lemmon) mit zwei Tickets für eine Luxuslinerfahrt. Dabei verschweigt er ihm jedoch, daß sie beide als professionelle Tanzpartner engagiert sind. Charlie sieht seine Chance im Versuch, die Millionärin Liz an Land zu ziehen; Herb verliebt sich in die Witwe Vivian, die seine Gefühle auch erwidert. Doch den beiden stehen noch einige Verirrungen im Wege.
Hollywoods ältestes "Ehepaar" Jack Lemmon und Walter Matthau wieder in gewohnt knoddriger und witziger Art gemeinsam auf der Leinwand. Hier können sie ihr ganzes Können ausspielen und zeigen, was sie können bzw. wie sie etwas (Tanzen) nicht können. (film.de)

Zwei miteinander verschwägerte Männer über 70 verdingen sich an Bord eines Luxus-Liners als Eintänzer und haben turbulente (Verwechslungs-)Abenteuer zu bestehen, bis sie in den Hafen der Ehe einlaufen. Eine ganz auf das Schauspieler-Gespann Lemmon/Matthau zugeschnittene Komödie ohne zündende Ideen, die allein aus der Besetzung Kapital schlagen möchte. Abgesehen von wenigen gelungenen Kabinettstückchen scheitert sie am durchschnittlichen Buch und der uninspirierten Regie.
Herb und Charlie sind mehr als ein ungleiches Paar: Während Charlie seine Rente auf der Pferderennbann verspielt, sitzt Herb allein zu Hause, um den Hochzeitstag in Gedanken an seine verstorbene Frau zu begehen. Die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen bestehen darin, daß sie miteinander verschwägert sind, daß Charlie Trauzeuge war - und daß sie sich trotz aller Aminositäten besser verstehen, als ihnen eigentlich lieb ist. Darum ist auch eine Luxus-Kreuzfahrt in die Karibik nach anfänglichem Streit schnell ausgemachte Sache. Nur: der ganz große Luxus ist es nicht, den Charlie da an Land gezogen hat. Er und Herb sind als Eintänzer verpflichtet und haben dabei das Problem, dem "maître de plaisier" Gil Godwyn zu unterstehen, der nicht nur penibel auf die Trauerränder unter den Fingernägeln seiner Untergebenen achtet, sondern dessen Hauptehrgeiz es ist, jeden Fraternisierungsversuch seiner Mitarbeiter mit den weiblichen Schiffsgästen im Keime zu ersticken. Das sind nicht die besten Voraussetzungen für das anfangs zerstrittene Gespann, zumal Charlie keine Gelegenheit ausläßt, um sich ins Casino zu verdrücken und zu versuchen, die Reisekasse aufzubessern. Herb verleibt sich recht bald in seine Tanzpartnerin Vivian, die ihm über den Verlust seiner geliebten Frau hinweghelfen wird. Doch bis alles unter Dach und Fach ist, bis jeder Topf seinen Deckel gefunden hat und sich alles zum Guten fügt - am Ende bahnen sich zwei Ehen an - , bis dahin hat der Autor den Darstellern noch einige Untiefen in den Weg gelegt. Das Abtauchen zweier eigentlich heiratswilliger Damen etwa oder die Affäre des Zeremonienmeisters mit der Reederin, die nächtliche Flucht der beiden Freunde, chaotische Fahrten in mexikanischen Taxis und eine Reise in einem klapprigen Flugzeug.
Filmgeschichte haben sie geschrieben, die weit über 70jährigen Akteure Lemmon und Matthau: Als Billy Wilders Gespann in "Der Glückspilz" (fd 14 464) sind sie ebenso unvergessen wie als Sensationsreporter, die in "Extrablatt" (fd 19 237) jeder Story hinterherjagen. Es gibt wohl kein männliches Schauspieler-Duo, das so aufeinander eingeschworen ist, um das Fehlen eines dominanten weiblichen Parts vergessen zu machen. Lemmon/Matthau sind so etwas wie ein Traumpaar, das in seinen Filmrollen immer eine intensive Männerfreundschaft pflegte, ohne ernsthaft in den Verdacht zu kommen, homosexuell veranlagt zu sein - gute Kumpel, mehr nicht, längst bevor der Begriff der "Buddy"-Filme geprägt wurde. Nach ähnlichem Konzept ist auch "Tango gefällig" gestrickt, doch die Rechnung, das "seltsame Paar" einmal mehr zusammenzuspannen, geht nicht auf. Zwar haben die beiden ihre komödiantischen Glanznummern und wissen auch in getragenen Szenen zu überzeugen, doch unterm Strich bleibt zu wenig, was für Martha Coolidges Film einnehmen könnte. Die Komödien-Rezeptur ist zu altbacken, und die Darsteller sind in ein derart starres Rollen-Korsett gezwängt, daß ihnen kaum Möglichkeiten zur Entfaltung bleiben. So ist trotz der hochkarätigen Darsteller nur eine enttäuschende Durchschnittskomödie entstanden, die einen Mainstream-Geschmack befriedigen will, ohne zu wissen, wo dieser angesiedelt ist. So weiß letztlich nur die Besetzung zu überzeugen: Neben den männlichen gewohnt souverän agierenden Altstars taucht mit Rue McClanahan eine Darstellerin auf, die als Reederin mit Hang zu leidenschaftlichen Nächten ihrer Rolle aus der Fernsehserie "Golden Girls" mehr als gerecht wird. (Hans Messias, film-dienst)

Herb (Jack Lemmon) ist verwitwet und hat - was noch schlimmer ist - als Altlast seinen notorisch abgebrannten Schwager Charlie (Walter Matthau) am Hals. So erweist sich die Kreuzfahrt für die beiden Senioren als ein Engagement zum Vortanzen für einsame Ladies. Herb fügt sich in die Zwangssituation, findet bescheiden mit flotter Sohle und Charme eine interessierte Partnerin. Der spielsüchtige Charlie mischt hingegen krampfhaft in der ersten Klasse mit und legt sich mit vermögenden Rivalen an...
Die Kombination von Jack Lemmon und Walter Matthau soll als Anreiz für diese abgestandene Komödie ausreichen. In die Nähe von Humor kommt nur der militaristische Zeremonienmeister Gil Godwyn (Brent Spiner, der "Data" aus "Star Trek - Die nächste Generation"), der neben seinen umwerfend schrägen Gesangseinlagen auch als scharfer Vorgesetzter von Herb und Charlie aktiv ist. Der Rest ist mit groben, lauten Scherzen ein seniler Horrortrip! Oder mit den langweiligen Landausflügen und weiten Meerespanoramen vielleicht ein überlanges Werbevideo für Kreuzfahrten? Die Titanic ist wenigstens irgendwann gesunken... (Günter H. Jekubzik)

"Tango gefällig?" - Traumschiff für alte Männer Das vorsintflutliche Erfolgsrezept Matthau/Lemmon geht auf Kreuzfahrt. Da witzeln die Herren wie gehabt vor sich hin. Sie hatten schon bessere Zeiten.
Die in Haßliebe miteinander verbundenen Schwager Charlie Gordon (Walter Matthau, 77) und Herb Sullivan (Jack Lemmon, 73) heuern als "Gastherren" auf einem Luxusdampfer in der Karibischen See an. Das Duo soll einsamen Damen tanzend zur Seite springen.
Doch statt zu tanzen würde der zahme Herb lieber Dinner bei Kerzenschein mit dem Foto seiner verstorbenen Frau halten. Gastherr ist er nur höchst unfreiwillig - Charlie hat ihn mit falschen Versprechungen auf das Kreuzfahrtschiff gelockt. Der durchtriebene Charlie hat dafür um so klarere Ambitionen: Als abgebrannter Charmeur ist er auf der Suche nach einer Frau: alleine, hübsch und reich, versteht sich. Nur mit dem paramilitärischen Unterhaltungsdirektor des Schiffes, wunderbar gespielt von Brent Spiner, hat Charlie nicht gerechnet.
Einst machten die szenischen Hilfsmittel des "Buddy-Genre" das Komikerpaar Matthau/Lemmon weltberühmt: Zwei unterschiedliche Zeitgenossen sind durch unglückliche Umstände aneinandergekettet und müssen gemeinsam wieder aus dem Schlamassel heraus. Die neueste Version mit dem Erfolgsduo knüpft in etlichen Aspekten an dieses Rezept an. Das macht die Story leicht durchschaubar.
Nur eines kommt dann doch unerwartet: In einem Tempo, das selbst paarungswillige Jung-Spunde vor Neid erblassen ließe, findet Charlie eine Dame seiner Träume. Und was für eine: Liz (Dyan Cannon) ist nur dem Schein nach reich, dafür aber um einige Dekaden jünger als Charlie, humorvoll und unglaublich sexy - und hat trotzdem nichts Besseres zu tun, als sich auf der Stelle aufrichtig in Charlie zu verlieben.
Nach "Ein verrücktes Paar" (1993) und "Der dritte Frühling" (1996) bringt John Davis, der Produzent von "Tango gefällig?", die beiden alternden Herren nun zum dritten Mal zusammen. Das als bestes Komikerduo der Filmgeschichte gepriesene Paar Matthau/Lemmon hat in den Billy-Wilder-Filmen "Der Glückspilz" (1966) und "Extrablatt" (1974) weitaus bessere Zeiten gesehen.
Das liegt vor allem am lauen Drehbuch, das die schauspielerischen Leistungen der beiden Oscar-Preisträger kaum fordert. Allzu seicht sind die Wellen, auf denen das Traumschiff dahindümpelt. (Christina Berndt, SPIEGEL ONLINE 21/1998)

Wir haben Jack Lemmon und Walter Matthau schon in vielen Rollen gesehen - als Eintänzer aber noch nicht. Als Herb und Charlie heuern die beiden auf einem Kreuzfahrtdampfer an, um einsamen Damen beim Tango oder Foxtrott die Freizeit zu versüßen. Theoretisch schon über den Zenit ihrer Tanzeskraft hinaus, machen sie durch Charme wieder wett, was ihnen an Beweglichkeit fehlt.
Die Parade-Komiker gehen also auf hohe See, indem Charly seinen Freund Herb mit einer List an Bord lockt. Letzterer ist anfangs rechtschaffen sauer, denn er ist verwitwet, hängt den Gedanken an vergangene Zeit nach und hat überhaupt keine Lust zum Tanzen. Das ändert sich, als er eine gewisse Vivian kennenlernt. Altes Herz wird wieder jung. Das Verwirrspiel der Liebe beginnt. Und obwohl die Sache zwischendurch gründlich schiefzugehen scheint, steuert sie dennoch (und wenig überraschend) einem Happy-End entgegen.
Dann hat auch Charly seine neue Lebensgefährtin gefunden. Einerseits banale „Traumschiff“-Ästhetik, andererseits pointenblitzende Screwball Comedy: eine recht wilde Genre-Mischung. Die schnellen, witzigen Dialoge geben den Ausschlag. Wenn die Altherren mit präzise angeätztem Humor die Klingen kreuzen, dann wird zumindest die Erinnerung an die großen Filme des Duos lebendig. (Rudi John, KURIER)

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