Im Hintergrund der Arbeit stehen die folgenden Fragestellungen:
- ob sich empirisch verschiedene Modalitäten der Argumentation unterscheiden lassen. Solche argumentationsstilistische Analysen sind nur spärlich vorhanden
- ob Sprachkulturunterschiede in Medien der Länder zu erschließen sind
- ob eine Methode zu finden ist, die imstande ist, die Intuition, Voreingenommenheit in großem Maße auszuschließen
- ob sich das Besteben nach psychoemotionaler, nicht-sachlicher Argumentation (Senkung der Rationalitätsschwelle) messen läßt
- ob die methodologischen Probleme (siehe auch unten: Probleme) bei einer kontrastiv/vergleichend angelegten satzsemantisch-textlinguistischen Analyse lösbar sind.
Die geeigneteste Methode zu einer solchen kontrastiven Analyse scheint eine statistische Erhebung zu sein. Dabei sind wir auf die folgenden Probleme gestoßen:
- Wie sind sprachliche Daten für eine Erhebung zu gewinnen? Sprachliche Argumentationsstrategien, die zu einer nicht-sachlichen Argumentation dienen, sind bekannt, ihre Beschreibung ist aber für eine statistische Analyse nicht brauchbar, denn sie wurden traditionell auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen (lexisch-semantisch, syntaktisch, pragmatisch, textgrammatisch) , nicht homogen beschrieben. Bisherige Arbeiten waren daher unvollständig, es fehlte der systematische Ansatz unterschiedliche sprachliche Phänomene homogen zu analysieren.
Das Ziel ist also die Erarbeitung eines sprachkritischen Modells, das ein geschlossenes System anstrebt, und so
- die Wahrscheinlichkeit der Identifizierung sprachlicher Realisierungsformen von Argumenten erhöht
- die Anwendung der Strategienexplikationen an Texten nicht zufällig bleiben läßt
- durch seine Homogenität sprachliche Daten für die Erhebung gewinnt und auf diese Weise Texte in unterschiedlichen Sprachen und über unterschiedliche Themen vergleichbar macht.
- der Anteil der einzelnen sprachlichen Strategien im Text und in der Zeitung errechnet werden kann.
Ausgangspunkte:
- Die politische Sprachverwendung ist in zwei Gruppen zu teilen:
-persuasive Texte
-informative Texte.
Diese Zweiteilung korreliert mit der Einteilung der Funktionen der
Politikvermittlung:
-informative
-appellative Funktion.
- Wahlkämpfe sind in drei Phasen zu gleidern. In der letzten, in der Schlußphase ist die Argumentations- bzw. die Sprachkultur am stärksten herausgefordert.
- Es gibt nicht die Pressesprache, sondern nur die Sprache eines Publikationsorgans.
- Für die Leitartikel charakteristische sprachliche Strategien charakterisieren die Zeitung selbst.
- Ziel bei Argumentationen ist der Übergang aus Emotionalem zu Kognitiv-Rationalem, zur logischen Klarheit.
- Leitartikel gehören zwar zu den meinungsbetonten-persuasiven Texten, in denen doch eine Grenze der rationalen Überzeugungsleistungen nicht überschritten werden darf.
- Wann die Handlungsbeeinflussung oder -veränderung täuschend und für den Manipulierten unbewußt vollzogen wird, ist schwer zu entscheiden, deswegen wird in der Arbeit der Begriff der Manipulation nicht verwendet.
- Sprachliche Argumentationsstrategien sind sprachliche Formen von Argumenten, typische sprachliche Realisierungsformen von Argumentationen, die sprachliche Indikatoren eines verborgenen Textsinns sein können.
Das Korpus besteht aus Leitartikeln von drei ungarischen und drei deutschen überregionalen, auflagenstarken Tageszeitungen, die innenpolitische Themen behandeln und in der Schlußphase der Wahlkampagne 1994 erschienen sind. Die Zeitungen wurden hinsichtlich ihrer politischen Einstellung gepaart (konservativ, liberal, sozialistisch).
Das Modell
- geht von der Propositionalisierung der Texte aus, weil:
- Texte müssen vereinheitlicht werden
- unterschwellige Argumente können auf diese Weise erfaßt werden
- Argumentationen bestehen aus Propositionen, die Wahrheitswerte tragen. Die logische Klarheit der Argumenation wird an der Proportion der verifizierbaren/falsifizierbaren Argumente zum Textvolumen gemessen.
- Die Propositionen werden also auf ihre Falsifizierbarkeit/Verifizierbarkeit hin geprüft. Für die Bedeutung und Berechtigung dieser Überprüfung gibt es argumentationstheoretische, satzsemantische, logisch-kognitive und sozial-psychologische Erklärungen.
- Argumentationstheoretisch: Die Relativität des kollektiven Wissens bei der Wahrheitszuweisung der Propositionen(= Argumente) ist problematisch, es wird deswegen der Begriff der intersubjektiven Überprüfbarkeit neu bestimmt und ein Konzept für die argumentationsexterne Beurteilung formuliert.
- Sozialpsychologisch: Experimentelle Untersuchungen liefern die psychologische Evidenz für unsere Annahme von zwei Arten von Informationen (affektiv/wertend und objektiv/sachlich), die mit unserer Unterscheidung der Propositionen korreliert.
- Logisch-kognitiv: Je mehr Propositionen in einem Text streng sind, umso mehr wird die Konklusion auch über Strenge verfügen ("strenght" und "confirmation value" nach der Relevanztheorie von Sperber/Wilson 1986). Die "Strenge" ist die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer Annahme (klare perzeptuale Erfahrung ~ sehr streng/wahr).
- Satzsemantisch: Argumentationen sind sprachliche Handlungen, in denen die logisch-semantischen Zusammenhänge durch die gewählte sprachliche Formulierung modifiziert und zusätzlich mit Bedeutung angereichert werden kann, d.h. die Propositionen können abgeschwächt oder verstärkt werden, abhängig von der sprachlichen Realisierungsform. Solche Abschwächungen/Verstärkungen werden mit Hilfe der Überprüfung der Propositionen explizit gemacht.
- Die Schreibweise der propositionalen Darstellung läßt nur bestimmte Wortklassen als Prädikate zu (nach Sowarka/Abel/Michel 1983). Das Notationssystem wird präzisiert und für das Ungarische ausgearbeitet. Die Umschreibung erfolgt mit 5% Irrtumswahrscheinlichkeit.
- Propositonen werden zuerst in zwei Gruppen - in deskriptive/ verifizierbare/falsifizierbare und in evaluative/nicht-verifizierbare/nicht-falsifizierbare Urteile - eingeteilt, abhängig davon wie strikten oder vagen Erkenntnisregeln sie entsprechen. Die Lösung zur Unterscheidung wurde außerhalb der Semantik gesucht. In diesem Sinne gehören Wahrmacher der Propositionen zur bewußtseins- und sprachunabhängigen Wirklichkeit, und sie sind als Gegenstände der raum-zeitlichen Natur aufgefaßt.
- Die Verifizierbarkeit der Propositionen wird von anderen Propositionen beeinflußt (Given-New-Strategy), bestimmte deskriptive Urteile werden aus diesem Grunde auch als evaluative Urteile gelten müssen.
- Die ermittelten Gruppen der deskriptiven und der Werturteile werden in einem Raster zusammengefaßt, gezählt und bei der Statistik verwendet (mit dem Chi-Verfahren wird die Häufigkeitsverteilung ihrer Abweichungen vom Mittelwert in den einzelnen Presseorganen ermittelt).
- Die einzelnen Strategien sind ihre Emotionalität betreffend nicht gleichwerteig. Abhängig davon, in welchen Fällen mehr pragmatische Präsuppositionen, Assoziationen, Gefühle rekonstruiert werden müssen, d.h. wenn die kritische Stellungnahme in verstärktem Maße gefährdet wird, werden die einzelnen Werurteile in vier Gruppen geteilt und ihnen die Werte von 1 bis 4 zugeordnet.
Die Anwendung des Modells wird an einer exemplarischen Analyse gezeigt, die Ergebnisse graphisch dargestellt.
Fazit:
Die deutsche und die ungarische Sprachkultur in den führenden Presseorganen unterscheiden sich signifikant:
- Deutsche Zeitungen sind im allgemeinen bei ihrer Sprachverwendung in Argumentationen sachlicher als ungarische.
- Ungarische Zeitungen neigen im allgemeinen öfter zu Etikettierung, Attribuierung, bzw. zu ironischen Ausdrücken , Metaphern, die stark in Richtung des uneigentlichen Argumentierens zeigen.
Vor- und Nachteile und Anwendung des Modells:
- An den Tabellen sind die im Interesse der Wirksamkeit eingesetzten sprachlichen Strategien im Verhältnis zum Textumfang und zu den anderen Zeitungen abzulesen, demzufolge kann der Vergleich der Abweichungsquotionten mit dem Mittelwert in den einzelnen Analyseschritten Auskunft geben über das Bestreben der Zeitung nach Uneigentlichkeit und Emotionalität über ein allgemein vertretbares Mittelmaß hinaus. Durch die relative Größe des Mittelwertes wird die ideale Behandlung der Argumentationen vermieden.
- Das Regelsystem ist möglichst einfach und übersichtlich gestaltet. Das ermöglicht die schnelle Aneignung des Prozesses.
- Im Vergleich zu dem Verlust an Ökonomie ist der Gewinn an Objektivität größer. Die Ökonomie des Modells ist durch Teamarbeit oder Computerlinguistik zu steigern.
- Die Ergebnisse als Bestandteile politischer Sprachkritik können einen wichtigen Beitrag zu anderen Arbeiten auf den Gebieten der Argumentationsstilistik, Journalismus und Medienforschung leisten.