Die Aura in Computerspielen


Im Rahmen der Diskussion um die Frage nach dem "Auratischen im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit" wurde immer wieder der subjektive Charakter thematisiert, von dem der Begriff der "Aura" kaum noch getrennt werden kann. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz darauf eingehen, in welcher Weise die Erinnerung des Betrachters bzw. der Betrachterin bei der Rezeption von Computerspielen eine Rolle spielt, wobei Tomb Raiders Heldin Lara Croft als Beispiel dient.

Visuelle Leerstellen werden durch die Betrachter gefüllt
In der Literaturwissenschaft gibt es eine Theorie der Leerstellen, die besagt, daß das nicht Beschreibbare oder das nicht Beschriebene in einem Text von den Lesenden selbst ergänzt wird. Die Bilder für diese Ergänzungen – beispielsweise das Aussehen der Protagonisten eines Romans werden aus den im Gedächtnis gespeicherten Bildern von Personen zusammengesetzt. Diese Überlegung wurde, beispielsweise von Wolfgang Kemp ("Der Betrachter ist im Bild"), auf die bildenden Künste übertragen. Im radikalen Konstruktivismus wird dieses Leerstellenprinzip als eine jeder Wahrnehmung - auch der Rezeption bewegter Bilder - zugrunde liegende Operation des Gedächtnisses betrachtet. So wird die Aufmerksamkeit auf die Frage nach den Inhalten gerichtet, die zur Ergänzung dieser Lücken dienen.

Die Welt von Lara Croft
Lara Croft existiert mittlerweile in mehr verschiedenen Medien als jeder Politiker und jeder Popstar. Es gibt ein Printmagazin, das nur von ihr handelt (und vom Spielevertrieb EIDOS herausgegeben wird), und eine Zeitung im Internet, The Croft Times. Sie wird in Computerspielen zitiert (in Sin wird ihre Hochzeit mit Duke Nukem in der Zeitung angekündigt, in Duke Nukem: Time to Kill lästert Duke über sie, in The Last Warrior hängt sie angekettet an der Wand.) Sie kämpft im Video der Ärzte (Männer sind Schweine) gegen die Band, tritt in zahlreichen Werbefilmen auf, nächstes Jahr soll Tomb Raider: The Movie starten. Hunderte von Websites widmen sich allen Aspekten ihres Lebens, es werden Memoiren verfaßt und Biographien veröffentlicht. Und natürlich gibt es Merchandising-Artikel ohne Ende. Darüber hinaus ist sie schon seit der ersten Version von Tomb Raider immer gut für einen kleinen oder großen Bericht im Fernsehen und in der Presse. (Eine umfangreiche Sammlung ihrer Medienauftritte findet sich unter Lara Sightings.)
Ein weiterer Aspekt, der bei der Rezeption von Computerspielen eine Rolle spielt, besteht in der aufwendigen Konstruktion eines Kontextes des jeweiligen Spiels. Zum Beispiel verfügt jede bessere Produktion mittlerweile über ein minutenlanges Intro, das mit aus dem Kino übernommenen Mitteln (Breitwandformat, schnelle Schnitte, Kamerafahrten etc.) eine Vorgeschichte zu der Handlung erzählt, die von den Spielenden konstruiert wird.
Als Effekt dieser Umfangreichen Darstellung Lara Crofts erwacht diese virtuelle kleine Spielfigur nicht nur für Spielefans tatsächlich zum Leben. Sie erhält eine Persönlichkeit, die hinter dem, was man über die meisten Popstars weiß, nicht zurücksteht. Nebenbei liefert Tomb Raider ein anschauliches Beispiel für die Warenförmigkeit von Starfiguren; so ist etwa ihre Signatur genauso wie der Name Leonardo Di Caprios als Warenzeichen geschützt.

Erinnerte Welt – erlebte Welt
Wenn man Tomb Raider zum ersten Mal spielt, fällt vor allem auf, daß die Figur, die man durch das Spiel führen soll, absolut nichts von dem ausstrahlt, was Lara Croft in ihrem "Leben" außerhalb des Spiels so attraktiv macht.
Statt der verführerischen "Powerfrau", die mal mehr, mal weniger bekleidet durch die Medien rennt, hat man nur ein kleines Figürchen ohne markante Züge vor sich, was auch bedeutet, daß man sie meistens nur von hinten oder unscharf sieht. Leerstellen sind in Laras Aussehen und in ihrem "Leben", das sie im Spiel lebt, also reichlich vorhanden. Ihre Erscheinung ist so schematisch und holzschnittartig, dass die Figur viel Platz für die Projektionen der Spielenden läßt.

Ein Grund, weshalb das Spiel – unabhängig von den technischen Qualitäten – so erfolgreich ist, liegt möglicherweise darin, daß sich bei der Beschäftigung mit Lara Croft die Erinnerung an ihr Medien-Image mit der aktuellen Wahrnehmung überlagert – sei es direkt beim Spielen, oder wenn Fans Webseiten mit neuen selbstgefertigten Porträts füllen. Man "sieht" also immer mehr als nur diese kleine Spielfigur.

Imitierte Sinnesreize – reale Erinnerung
Im Falle von Lara Croft ist nicht nur die Erinnerung an das Image der Figur wichtig für die Wahrnehmung des Spiels. Ein großer Teil der Faszination und der Schwierigkeiten, von einem Spiel wieder loszukommen, liegt darin begründet, daß sich die im Spiel gesehenen Bilder sich so stark ins Gedächtnis einprägen, daß sie nicht nur als gesehen, sondern als erlebt erinnert werden. Für eine solche lebhafte Erinnerung ist es gar nicht nötig, daß das Spiel mit seinen sensuellen Reizen möglichst nahe an die Realität heranreicht. In den Wahrnehmungszentren des Gehirns gibt es keine Entscheidungsinstanz, die festlegen könnte, wann ein wahrgenommener visueller oder anderer Reiz "real" ist und wann simuliert. Es genügt deshalb in virtuellen Umgebungen, daß grundlegende Wahrnehmungsbedingungen schematisch imitiert werden. So wird die Bewegung der Spielfigur aus der Perspektive einer subjektiven Kamera verfolgt, was bedeutet, daß die Spielenden diese Bewegung mitmachen. In gewissem Sinne führen sie diese Bewegungen, die Perspektivwechsel selbst aus und erleben sie auch dementsprechend, da sie ja über die Tastatur steuern, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. In Kombination mit einer pseudo-dreidimensionalen Umgebung, in der sich etwa Objekte in der Größe verändern, wenn man sich ihnen nähert, werden auf diese Weise dieselben Wahrnehmungsschemata aktiviert wie in der physischen Realität.

Dabei ist wiederum das Gedächtnis mit einer Ergänzung der Lücken zwischen den Wahrnehmungsreizen beteiligt. Ein eindringlicher Hinweis darauf, wie realistisch man auf Bildschirmbilder reagiert, läßt sich erfahren, wenn man in brenzligen Situationen vergißt, daß man nur über die Tastatur mit der Spielfigur verbunden ist und den eigenen Körper bewegt, um Kugeln auszuweichen, oder um eine Ecke sehen zu können.

Narzißtische Selbstermächtigung
Die schematische Nachahmung von Wahrnehmungsbedingungen und die Möglichkeit, die Wahrnehmung selbst zu steuern, führen zu einer narzißtischen Selbstermächtigung der Spielenden im simulierten Raum, die meines Erachtens ein Hauptgrund für die Faszination von Computerspielen ausmacht.

Durch diese Selbstermächtigung erhält man die Möglichkeit zu Erfahrungen, die man beim Eintauchen in andere Arten von fiktionalen Welten nicht machen kann - egal ob im Theater, Film, Literatur, Hörspiel etc. Computerspiele haben diesen Medien die Interaktivität der Erzählung voraus. Damit ähneln sie am ehesten der Hypertext-Literatur, in der eine Geschichte mit verschiedenen losen Fäden vorgegeben ist, die Erzählung jedoch vom Leser mitbestimmt werden kann.

Diese Selbstermächtigung bezieht sich also einerseits auf die Einflußnahme auf die Erzählstruktur der Fiktion. Darüber hinaus lassen sich diese Fiktionen auch noch in einem konkreteren Sinne als bei anderen Medien erleben. Sie werden als sehr realistisch wahrgenommen, haben aber keine körperlichen oder sonstigen Konsequenzen im realen Leben.

Die Aura als narzißtische Sehnsucht
Wenn man diese Überlegungen auf die Frage nach dem auratischen Charakter von Lara Croft oder anderen Computerspielen anwenden will, so würde ich - in Abwandlung des bekannten Benjamin-Zitats - sagen, daß die "Nähe, so nah Lara auch sein mag," durch die trotz aller Realtitätsimitation erfahrene Diskrepanz zwischen der erlebten Simulation und den beim Spielen erinnerten und mitgesehenen Images auf der einen und der Erfahrung der Grenzen, der Unzulänglichkeiten dieser Simulationen auf der anderen Seite entsteht. Daraus resultiert möglicherweise ein narzißtisches Sehnen nach den Möglichkeiten der Bewegungsfreiheit im Spiel, nach einer Überschaubarkeit und Lösbarkeit der Probleme, nach der Möglichkeit, eigenmächtig Fiktionen zu realisieren, vielleicht sogar Schöpfer oder Schöpferin einer simulierten kleinen Welt, oder zumindest einer Geschichte zu sein.

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