Habemus millenium novum 21 ...
 
"Und wenn tausend Jahre vollendet sind,wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis, ..." (Bibel, NT, Offb. 20,7)
(Datum: 06.02.98 )

Na? Wie war der letzte Jahreswechsel? Gut? Schlecht? Komatös? Oder gar hochgradig libidinös? Wie ich erst jetzt, über einen Monat später, danach fragen kann?  Nun, die Antwort darauf ist doch immens wichtig. Wer es noch nicht gemerkt hat, dieser Jahreswechsel war die Generalprobe der Generalprobe für das übernächste Jahreswechselgefeiere. Und wenn diese Generalprobe okay war, dann kann die nächste nur mies werden, was dann bedeutet, man ist auf den Punkt pünktlich gut drauf. Und es weiß doch jeder, der übernächste Jahreswechsel ist der Einstieg ins nächste Jahrzehnt, ach quatsch, ins nächste Jahrhundert, was sag ich da, ins nächste Jahrtausend!!!
Hm. Oder doch nicht ...?
Wenn man am Ende dieses Jahrhunderts Deutsche auf die Palmen bringen möchte, also jene Palmen, die uns die beginnende Weltklimakatastrophe in den nächsten beiden kommenden Jahrhunderten am Kölner Nordseestrand garantiert erblühen lassen wird, also, wenn man den Deutschen unbewußt gemäß dem Kölner Karnevalslied "Auf die Bäume, ihr Affen" manipulieren will, dann läßt man locker ganz nebenbei die Bemerkung fallen, das Jahr 2000 sei weder das nächste Jahrzehnt, noch das 21. Jahrhundert ganz zu schweigen das nächste Jahrtausend. Dann wird gestönt, aufgeächzt, geröchelt, mit den Augen theatralisch gerollt, die Nase nach allen Regeln der Kunst gerümpft, händeringend gestikuliert, entsetzt Luft pfeifend abgelassen und nach Atem gerungen, um das plötzlich entstandene Vakuum im Hirn zu füllen, ob jener senilen Altklugheit und super-vorwitzigen Logikerscheiße. Natürlich ist das Jahr 2000 nicht das nächste Jahrtausend, macht sich die Empörung Platz. "Trotzdem feiere ich",  kommt es dann ostentativ, "das nächste Jahrtausend!"
Komisch. Jeder weiß Bescheid, aber trotzdem wollen alle die Jahrtausendwende schon beim übernächsten Mal feiern. Das stinkt nach Verschwörung, nach einer gigantischen Verschwörung. ...
Wenn sogar die ehemals nonkonformistische Berliner "taz" vom 31. Dezember 1999 als Jahrtausendwechsel spricht und dann im nächsten Satz sich Belehrungen in Form von Leserbriefen verbittet, wenn Fernsehanstalten aus Europa, Australien, Isarael, Iran und den USA für den 01. Januar 2000 eine weltweite Fernsehsendung zur Begrüßung des nächsten Jahrtausends planen, dann stinkt es schon überdeutlich nach Verschwörung. Nur fragt sich, wer verschwört sich da weshalb gegen wen? Und wieso?  Da wird systematisch weltweit ein Jahrtausend schon ein Jahr vorher eingeläutet und damit es jeder mitkriegt, wird es auch noch im  Fernsehen manifestiert. Und wenn man in den Wald ruft: "Hey, ihr feiert zu früh!", dann schallt es heraus: "Ist doch egal, das ist doch sowas von egal. Ein Jahr früher oder später, das ist doch egal." Meinetwegen. Aber in Nagano bei den olymischen Winterspielen die Sieger aufs Tausendstel genau bestimmen wollen, um uns zu zeigen, daß die Abfahrt Nummer 11 gegenüber Nummer 3 exakt 14 Tausendstel kürzer war! Oder wieder bei der Formel 1 drei Fahrer mit auf Tausendstel exakten Zeiten stoppen. Wo der Zuschauer beim Sport doch eh' schon immer nach rechts unten auf den Bildschirm schielt, weil er sonst eh' nicht den Unterschied zwischen schnell und langsam auf die Reihe kriegt.
Aber dann, wenn's um die exakte Bestimmung des Jahrtausendwechsels geht, heißt es: "Ups. Tut uns leid, unsere Stoppuhren gehen um ein Jahr falsch." Und wenn wir uns schon mal präzise irren, dann auch wenigstens konsequent. Prost Neujahrtausend. Schließlich beginnt ein Jahrtausend nicht jedes Jahr. Sowas hat schon seine Bedeutung.
Als das Jahr 999 zu Ende ging und die Ottonen schon mal fleißig das sündige Volk (also die anderen) auf die "Reiter der Apokalypse" vorbereiteten, da hat sich das gemeine Fußvolk in der Sylvester-Nacht nackt in den Schnee geworfen, schrieben Zeitgenossen. 1000 Jahre waren vorüber und bei jemanden stand im Terminkalender, die "Reiter der Apokalypse" kommen. Aber die hatten offensichtlich keine Lust bei dem kalten Wetter auszureiten. Also wurd' es nichts mit dem Weltuntergang. Pech für die Abgabepflichtigen, Glück für die geistige und weltliche Aristrokratie.
Jetzt ist bald wieder so ein Jahrtausend vorüber. Ob es diesmal was wird mit den Reitern? Wahrscheinlich nicht. Wenn an den vier Reitern eine  Sylvester-Feiertour-Concorde der Air France vorbeiprescht, scheuen wahrscheinlich deren Pferde und dann ist es wieder nichts mit dem Weltuntergang. Und sollten sie doch durchkommen, dann verhungern die sicherlich nachher am Kölner Ring im Stau. Pech für uns, Glück für den Finanzminister.
Dabei hat die komerzialisierte Angst vor dem neuen Millenium gerade in diesen Jahren Hochkonjunktur: Im Fernsehen laufen Mystery-Serien, durchs Kino trampeln Urzeitviecher auf Menschenjagd, Ausserirdische greifen unverschämt offen an oder werfen mit Steinbrocken nach unsere Erde und die Keimzelle der Menschheit, die Familie (... und nicht der egozentrische Single), muß sich immer wieder neuen Elchtests stellen. Die Umwelt winkt mit Katastrophen im Fernsehen zur besten Sendezeit. Wissenschaftler drohen nicht mehr mit der Entdeckung der unkontrollierten Wiedergeburt, sondern mit kontrolliertem Klonen. Ein anorganischer Computer besiegt einen organischen Menschen, einen Schachgroßmeister, während man menschenbedrohende Organismen nur noch durch Massenschlachtungen von Hühnern oder Rindern Herr werden kann. Gespannt blickt man zur Börse, wo wie durch Zauberhand Geld geschaffen oder vernichtet wird. Einfach so. Man hat das Gefühl, die Börse lebt, man gewinnt den Eindruck, die Börse würde sogar beim EKG die markanten Ergebnisse produzieren, Hausse oder Baisse. Möglicherweise würde ein Computer einen anderen Computer dabei untersuchen und Anämie attestieren.
Die Mitmenschen selber erscheinen einem auch immer blutärmer. Berühmtheiten sterben durch Revolverkugeln oder Autounfälle. Max Goldt verläßt die titanic (... wobei man sich insgeheim dann doch fragt: Sinkt sie? Oder sinkt sie nicht?), Kabarett ist bei den Leuten immer verpönter; Lustig-sein, Comedy, amüsiert das Volk zu Tode. Man schaut seinen Gegenüber im Bus an und denkt automatisch "Geklont oder blutarm", man fühlt sich unsicherer, bedrohter, lebensgefährdeter. Ein Kardinal aus Köln beklagt den Verfall der Sitten und der Moral. Stimmt, früher war man sicherer auf den Straßen. Da passierte einer alten Frau auf der Straße nichts, da war man sicher des nachts. Gut. Man wurde höchstens mal depotiert und vergast, aber Sitte und Moral waren früher noch okay, Herr Kardinal Meisner.
Der Mensch erscheint dem Menschen ein Wolf. Man will weg aus der subjektiv erfahrenen Bedrohung. Nur nicht in der indifferent bedrohlichen Masse stehen, man steigt ins Auto und steht dann auf der Autobahn wieder mit anderen bedrohlichen Individuen im Stau. Wahrscheinlich ausgerechnet in dem Stau, wo gerade vier Pferde samt
Reiter von 'nem S-Klasse-Limousinen-Mercedes mit mehr als 300 PS niedergebrettert wurden.
Das Warten auf das 21. Jahrhundert produziert irrationale Ängste. Je irrer, desto besser. Und dann - wie geschaffen, um den Leuten in Mitteleuropa den ab-
soluten mystischen Kick zu geben - gibt's am Mittwoch, den 11. August 1999 noch 'ne totale Sonnenfinsternis. Die Strecke Amiens-Karlsruhe-Stuttgart-München-Bukarest wird im Zeitraum von 12:30 bis 12:40 für knapp zwei Minuten zwanzig abgedunkelt, passend zur Mittagsbrotzeit. Wahrschienlich ist's eh' bewölkt. Und es regent. Und
es stürmt. Passendes Wetter, richtig für die Endzeitstimmung. "Was will uns die Sonnenfinsternis sagen?" werden uns wieder dutzende Reporter fragen und in ihren Fragen wird alles erdenkliche und unerdenkliche Unheil dieser Welt mitschwingen. Der Zusacheuer wird dann seine Fingernägel nervös vorm Fernseher mit den Zähnen maniküren und beunruhigt einen Blick in seinen personal-time-planer werfen. Und darauf ist für ihn die Woche, möglicherweise der August, vielleicht auch das ganze Jahr gelaufen: Er hat festgestellt, daß nach dem Mittwoch, dem 11. August 1999, dem Tag der Sonnenfinsternis, ein Freitag, der 13. August 1999 folgt. Am 31. Dezember, kurz vor Mitternacht, läuft er ungeduldig umher und grummelt immer wieder "Hau weg das Kack-Jahrtausend", um vielleicht kurz nach Mitternacht entsetzt zu murmeln: "Ein neues
Jahrtausend? Das mach' ich aber nicht nochmal bis zum Schluß mit."

Was mir denn "das Recht gebe", an den Jahrtausendwendfeiern, an der Millenium-Angst und an jenen geplanten Live-TV-Schaltungen aus Europa, Australien, Israel, Iran und den USA herumzumeckern,  fragte mich ernsthaft empört ein aufgebrachter Bekannter. Ich hatte vergessen, daß man in Deutschland ohne eine ordentliche Letztbegründung nicht mal ein Anrecht auf Kritik hat.
Was soll's.
Das Datum 01. Januar 2000 ist allein ein christlich-gregorianisches. Christliche Kopten begehen dann den 23. Kishek 1716. Nach muslemischer Zeitrechnung ist dann der 24. Ramadan 1420, nach jüdischer der 23. Tevet 5760. In der buddhistischen Zeitrechnung wird das Jahr 2483 geschrieben. Oder nach dem Kalender der alten Pharaonen - ausgehend vom Gott Tut, der Wissenschaft und Schrift erschaffen haben soll - hieße das Jahr 6241.
Bei all den Zahlenspielereien läßt sich das Jahr 2000 wesentlich gelassener angehen. Wozu Angst vor der Zeit. Zeit ist eine Erfindung der Menschen und für den Fortbestand dieser Welt unerheblich.
Nur, wir sind halt Menschen und dann muß man schon anmerken, daß die Mönche sich bei der Errechnung der Geburt Christi wohl so um drei bis sechs Jahre verrechnet haben. Und das bedeutet für das christliche Abendland rein akademisch gesehen grausames: Womöglich haben wir das neue Millenium dieses Mal schon gefeiert, ohne
es zu wissen. Da fürchten wir uns nun und das völlig grundlos vielleicht, weil schon alles vorbei ist, weil wir schlicht den Startschuß ins nächste Jahrtausend bei der ganzen Sylvesterknallerei überhört haben. Und da taucht sie dann wieder auf, die Frage der Fragen, die alles entscheidende Jahrtausendfrage:
Na? Wie war der letzte Jahreswechsel? Gut? Schlecht?

(C) Franz J. Beckmann 1998

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