Na? Wie war der letzte Jahreswechsel? Gut?
Schlecht? Komatös? Oder gar hochgradig libidinös? Wie ich erst
jetzt, über einen Monat später, danach fragen kann? Nun,
die Antwort darauf ist doch immens wichtig. Wer es noch nicht gemerkt hat,
dieser Jahreswechsel war die Generalprobe der Generalprobe für das
übernächste Jahreswechselgefeiere. Und wenn diese Generalprobe
okay war, dann kann die nächste nur mies werden, was dann bedeutet,
man ist auf den Punkt pünktlich gut drauf. Und es weiß doch
jeder, der übernächste Jahreswechsel ist der Einstieg ins nächste
Jahrzehnt, ach quatsch, ins nächste Jahrhundert, was sag ich da, ins
nächste Jahrtausend!!!
Hm. Oder doch nicht ...?
Wenn man am Ende dieses Jahrhunderts Deutsche
auf die Palmen bringen möchte, also jene Palmen, die uns die beginnende
Weltklimakatastrophe in den nächsten beiden kommenden Jahrhunderten
am Kölner Nordseestrand garantiert erblühen lassen wird, also,
wenn man den Deutschen unbewußt gemäß dem Kölner
Karnevalslied "Auf die Bäume, ihr Affen" manipulieren will, dann läßt
man locker ganz nebenbei die Bemerkung fallen, das Jahr 2000 sei weder
das nächste Jahrzehnt, noch das 21. Jahrhundert ganz zu schweigen
das nächste Jahrtausend. Dann wird gestönt, aufgeächzt,
geröchelt, mit den Augen theatralisch gerollt, die Nase nach allen
Regeln der Kunst gerümpft, händeringend gestikuliert, entsetzt
Luft pfeifend abgelassen und nach Atem gerungen, um das plötzlich
entstandene Vakuum im Hirn zu füllen, ob jener senilen Altklugheit
und super-vorwitzigen Logikerscheiße. Natürlich ist das Jahr
2000 nicht das nächste Jahrtausend, macht sich die Empörung Platz.
"Trotzdem feiere ich", kommt es dann ostentativ, "das nächste
Jahrtausend!"
Komisch. Jeder weiß Bescheid, aber
trotzdem wollen alle die Jahrtausendwende schon beim übernächsten
Mal feiern. Das stinkt nach Verschwörung, nach einer gigantischen
Verschwörung. ...
Wenn sogar die ehemals nonkonformistische
Berliner "taz" vom 31. Dezember 1999 als Jahrtausendwechsel spricht und
dann im nächsten Satz sich Belehrungen in Form von Leserbriefen verbittet,
wenn Fernsehanstalten aus Europa, Australien, Isarael, Iran und den USA
für den 01. Januar 2000 eine weltweite Fernsehsendung zur Begrüßung
des nächsten Jahrtausends planen, dann stinkt es schon überdeutlich
nach Verschwörung. Nur fragt sich, wer verschwört sich da weshalb
gegen wen? Und wieso? Da wird systematisch weltweit ein Jahrtausend
schon ein Jahr vorher eingeläutet und damit es jeder mitkriegt, wird
es auch noch im Fernsehen manifestiert. Und wenn man in den Wald
ruft: "Hey, ihr feiert zu früh!", dann schallt es heraus: "Ist doch
egal, das ist doch sowas von egal. Ein Jahr früher oder später,
das ist doch egal." Meinetwegen. Aber in Nagano bei den olymischen Winterspielen
die Sieger aufs Tausendstel genau bestimmen wollen, um uns zu zeigen, daß
die Abfahrt Nummer 11 gegenüber Nummer 3 exakt 14 Tausendstel kürzer
war! Oder wieder bei der Formel 1 drei Fahrer mit auf Tausendstel exakten
Zeiten stoppen. Wo der Zuschauer beim Sport doch eh' schon immer nach rechts
unten auf den Bildschirm schielt, weil er sonst eh' nicht den Unterschied
zwischen schnell und langsam auf die Reihe kriegt.
Aber dann, wenn's um die exakte Bestimmung
des Jahrtausendwechsels geht, heißt es: "Ups. Tut uns leid, unsere
Stoppuhren gehen um ein Jahr falsch." Und wenn wir uns schon mal präzise
irren, dann auch wenigstens konsequent. Prost Neujahrtausend. Schließlich
beginnt ein Jahrtausend nicht jedes Jahr. Sowas hat schon seine Bedeutung.
Als das Jahr 999 zu Ende ging und die
Ottonen schon mal fleißig das sündige Volk (also die anderen)
auf die "Reiter der Apokalypse" vorbereiteten, da hat sich das gemeine
Fußvolk in der Sylvester-Nacht nackt in den Schnee geworfen, schrieben
Zeitgenossen. 1000 Jahre waren vorüber und bei jemanden stand im Terminkalender,
die "Reiter der Apokalypse" kommen. Aber die hatten offensichtlich keine
Lust bei dem kalten Wetter auszureiten. Also wurd' es nichts mit dem Weltuntergang.
Pech für die Abgabepflichtigen, Glück für die geistige und
weltliche Aristrokratie.
Jetzt ist bald wieder so ein Jahrtausend
vorüber. Ob es diesmal was wird mit den Reitern? Wahrscheinlich nicht.
Wenn an den vier Reitern eine Sylvester-Feiertour-Concorde der Air
France vorbeiprescht, scheuen wahrscheinlich deren Pferde und dann ist
es wieder nichts mit dem Weltuntergang. Und sollten sie doch durchkommen,
dann verhungern die sicherlich nachher am Kölner Ring im Stau. Pech
für uns, Glück für den Finanzminister.
Dabei hat die komerzialisierte Angst vor
dem neuen Millenium gerade in diesen Jahren Hochkonjunktur: Im Fernsehen
laufen Mystery-Serien, durchs Kino trampeln Urzeitviecher auf Menschenjagd,
Ausserirdische greifen unverschämt offen an oder werfen mit Steinbrocken
nach unsere Erde und die Keimzelle der Menschheit, die Familie (... und
nicht der egozentrische Single), muß sich immer wieder neuen Elchtests
stellen. Die Umwelt winkt mit Katastrophen im Fernsehen zur besten Sendezeit.
Wissenschaftler drohen nicht mehr mit der Entdeckung der unkontrollierten
Wiedergeburt, sondern mit kontrolliertem Klonen. Ein anorganischer Computer
besiegt einen organischen Menschen, einen Schachgroßmeister, während
man menschenbedrohende Organismen nur noch durch Massenschlachtungen von
Hühnern oder Rindern Herr werden kann. Gespannt blickt man zur Börse,
wo wie durch Zauberhand Geld geschaffen oder vernichtet wird. Einfach so.
Man hat das Gefühl, die Börse lebt, man gewinnt den Eindruck,
die Börse würde sogar beim EKG die markanten Ergebnisse produzieren,
Hausse oder Baisse. Möglicherweise würde ein Computer einen anderen
Computer dabei untersuchen und Anämie attestieren.
Die Mitmenschen selber erscheinen einem
auch immer blutärmer. Berühmtheiten sterben durch Revolverkugeln
oder Autounfälle. Max Goldt verläßt die titanic (... wobei
man sich insgeheim dann doch fragt: Sinkt sie? Oder sinkt sie nicht?),
Kabarett ist bei den Leuten immer verpönter; Lustig-sein, Comedy,
amüsiert das Volk zu Tode. Man schaut seinen Gegenüber im Bus
an und denkt automatisch "Geklont oder blutarm", man fühlt sich unsicherer,
bedrohter, lebensgefährdeter. Ein Kardinal aus Köln beklagt den
Verfall der Sitten und der Moral. Stimmt, früher war man sicherer
auf den Straßen. Da passierte einer alten Frau auf der Straße
nichts, da war man sicher des nachts. Gut. Man wurde höchstens mal
depotiert und vergast, aber Sitte und Moral waren früher noch okay,
Herr Kardinal Meisner.
Der Mensch erscheint dem Menschen ein
Wolf. Man will weg aus der subjektiv erfahrenen Bedrohung. Nur nicht in
der indifferent bedrohlichen Masse stehen, man steigt ins Auto und steht
dann auf der Autobahn wieder mit anderen bedrohlichen Individuen im Stau.
Wahrscheinlich ausgerechnet in dem Stau, wo gerade vier Pferde samt
Reiter von 'nem S-Klasse-Limousinen-Mercedes
mit mehr als 300 PS niedergebrettert wurden.
Das Warten auf das 21. Jahrhundert produziert
irrationale Ängste. Je irrer, desto besser. Und dann - wie geschaffen,
um den Leuten in Mitteleuropa den ab-
soluten mystischen Kick zu geben - gibt's
am Mittwoch, den 11. August 1999 noch 'ne totale Sonnenfinsternis. Die
Strecke Amiens-Karlsruhe-Stuttgart-München-Bukarest wird im Zeitraum
von 12:30 bis 12:40 für knapp zwei Minuten zwanzig abgedunkelt, passend
zur Mittagsbrotzeit. Wahrschienlich ist's eh' bewölkt. Und es regent.
Und
es stürmt. Passendes Wetter, richtig
für die Endzeitstimmung. "Was will uns die Sonnenfinsternis sagen?"
werden uns wieder dutzende Reporter fragen und in ihren Fragen wird alles
erdenkliche und unerdenkliche Unheil dieser Welt mitschwingen. Der Zusacheuer
wird dann seine Fingernägel nervös vorm Fernseher mit den Zähnen
maniküren und beunruhigt einen Blick in seinen personal-time-planer
werfen. Und darauf ist für ihn die Woche, möglicherweise der
August, vielleicht auch das ganze Jahr gelaufen: Er hat festgestellt, daß
nach dem Mittwoch, dem 11. August 1999, dem Tag der Sonnenfinsternis, ein
Freitag, der 13. August 1999 folgt. Am 31. Dezember, kurz vor Mitternacht,
läuft er ungeduldig umher und grummelt immer wieder "Hau weg das Kack-Jahrtausend",
um vielleicht kurz nach Mitternacht entsetzt zu murmeln: "Ein neues
Jahrtausend? Das mach' ich aber nicht
nochmal bis zum Schluß mit."
Was mir denn "das Recht gebe", an den Jahrtausendwendfeiern,
an der Millenium-Angst und an jenen geplanten Live-TV-Schaltungen aus Europa,
Australien, Israel, Iran und den USA herumzumeckern, fragte mich
ernsthaft empört ein aufgebrachter Bekannter. Ich hatte vergessen,
daß man in Deutschland ohne eine ordentliche Letztbegründung
nicht mal ein Anrecht auf Kritik hat.
Was soll's.
Das Datum 01. Januar 2000 ist allein ein
christlich-gregorianisches. Christliche Kopten begehen dann den 23. Kishek
1716. Nach muslemischer Zeitrechnung ist dann der 24. Ramadan 1420, nach
jüdischer der 23. Tevet 5760. In der buddhistischen Zeitrechnung wird
das Jahr 2483 geschrieben. Oder nach dem Kalender der alten Pharaonen -
ausgehend vom Gott Tut, der Wissenschaft und Schrift erschaffen haben soll
- hieße das Jahr 6241.
Bei all den Zahlenspielereien läßt
sich das Jahr 2000 wesentlich gelassener angehen. Wozu Angst vor der Zeit.
Zeit ist eine Erfindung der Menschen und für den Fortbestand dieser
Welt unerheblich.
Nur, wir sind halt Menschen und dann muß
man schon anmerken, daß die Mönche sich bei der Errechnung der
Geburt Christi wohl so um drei bis sechs Jahre verrechnet haben. Und das
bedeutet für das christliche Abendland rein akademisch gesehen grausames:
Womöglich haben wir das neue Millenium dieses Mal schon gefeiert,
ohne
es zu wissen. Da fürchten wir uns
nun und das völlig grundlos vielleicht, weil schon alles vorbei ist,
weil wir schlicht den Startschuß ins nächste Jahrtausend bei
der ganzen Sylvesterknallerei überhört haben. Und da taucht sie
dann wieder auf, die Frage der Fragen, die alles entscheidende Jahrtausendfrage:
Na? Wie war der letzte Jahreswechsel?
Gut? Schlecht?
(C) Franz J. Beckmann 1998
Hits since 01.08.1998: