KofferRaum Station #1


[54/98]

Gleisdorf, November 1996
Martin Krusche & Heinz Pöschko

arch3.gif (5459 Byte)

Gernots Archiv
Eine virtuelle Installation


Von
Martin
Krusche

 

(Aus: Martin Krusches
Virtual Trash)


Teil 1: Prolog | Teil 2: Geschichte
Teil 3: Subtext | Teil 4: Surface
Praxis

Teil 3: Subtext

Diese Installation, beginnt mit autorenlosen Archivbeständen. Unsere Apparateumwelt bedingt, daß sich gewisse Geschichten selbst schreiben, wozu es längst keiner menschlichen Intention mehr bedarf.
Diese Geschichte steht schon fest. Ich erzähle, was ich gefunden hab. Ich führe keine künstlerische Hand. Im Gegenteil! Eine Tastatur relativiert meine sensorischen und motorischen Defizite.
Ohne Zweifel hat irgendwann eine Person, über die wir nichts wissen, eine Serie von Menschenportraits gezeichnet. Diese Serie - von der ich 96 Köpfe genommen habe -, wurde digitalisiert und als Freeware auf den Markt geworfen. Wer weiß, ob die Zeichnungen noch existieren? Die Portraits sind nun nicht einmal mehr Bilder. Sie sind bloß Pixel-Konfigurationen, gespeichert in Binary Digits. Dadurch werden sie beliebig duplizierbar. Der allfällige Reproduktionsaufwand ist gering.
Dieser anonyme Bestand verweist auf nichts und niemanden. Er ist ähnlich einer Fingerkuppe voll Sand in einer Wüste.
Ich erzähle Ihnen von einer Sache, die Ihren Blicken weitgehend entzogen bleibt. So ist mein kleiner Auszug des Archivs seinerseits Archiv geworden ... verdeckt, unzugänglich, nicht zu öffnen. Hinter der Oberfläche, der Verdeckung, hinter dem Papier genauso gut, wie hinter der Mauer, ist wahrscheinlich nichts. Hinter all den Oberflächen wie hinter einem Bildschirm ist bloß das, was eine Black Box genannt wird. Ich kann beschreiben, was eingespeist wurde. Ich kann beschreiben, was herauskam. Ich kann nicht feststellen, was im Inneren IST.
Hinter der Oberfläche - SURFACE im traditionellen Raum oder SCREEN des sogenannten Cyberspace -, ist diese Virtualität, die in der Konfiguration elektronischer Schaltungen unerfahrbar bleibt. Die Schaltungs- oder "Erregungszustände" der Maschinen können mit menschlichen Sinnen nicht dechiffriert werden.
Erst durch Übersetzungsarbeit, erst durch Bedeutungszuweisung, vermag das Virtuelle AKTUALITÄT zu erlangen. Da sind wir für einen Augenblick ganz bei Aristoteles, diesem manischen Buchhalter an den Anfängen geschriebener, abendländischer Geistesgeschichte. Was aktuell wird, was in Erscheinung tritt, was solcherart PHÄNOMEN wird, nur das kann - so hat Kant behauptet -, Gegenstand unserer Erkenntnis sein. Das trennt Glaubensgegenstände von den bevorzugten Objekten des Logos ... besagt unsere traditionelle Rationalität.
Aber die Kunstwerke (von denen ich nichts weiß), die Ergebnisse künstlerischer Praxis, sind dem nie ausgeliefert geblieben. Sie waren, so vermute ich, immer auch magische Gegenstände. Oder nicht einmal das. Oft nur Erfahrungen und Erlebnisse. Vielleicht auch bloß das, was unbemerkt verschwindet, sobald man hinsieht.
Das hieße: ihre Verifizierbarkeit als Kunstwerke hängt weder an ihrer Gegenständlichkeit noch an ihrer Erfahrbarkeit. Dagegen ist kein Einwand möglich. Und falls doch, so ist schließlich keine Intervention möglich. Die Kunst bleibt transzendent, die ihr zugeordneten Kunstwerke bleiben vor allem Glaubensgegenstände, das Feuilleton beweist sich selbst ... kaum mehr. Das bedeutet: halten Sie Ihr Geld beisammen oder schmeißen Sie es raus. Sehen Sie selbst, was Ihnen an kognitiven, ästhetischen und emotionalen Erlebnissen zukommt. Sehen Sie selbst, WAS aus Ihnen wird.
Falls Sie bisher an diesen Konsequenzen zweifeln durften, werden Sie nun von den Auswirkungen programmierbarer Maschinen infiltriert. Eine flüsternde Attacke auf erlesene Kennerschaft und gediegenen Geschmack. Wie der Hauch einer thermostatgesteuerten Gehäusebelüftung. Völlig unspektakulär.
Wir wußten bisher genau zu unterscheiden, was ein Bild und was Schrift sei. Selbst, wenn beides industriell beliebig vervielfältigbar ist, blieb der Wert des Originals durch das Anlegen der menschlichen Hand, der schöpferischen Hand, beschwörbar. Autorenschaft durch die verbürgte Anwesenheit der schaffenden Person in wenigstens Momenten des Entstehungsprozesses. Diese Gewißheiten werden durch die Digitalisierung verworfen.
Schrift und Bild sind plötzlich eins geworden, beliebig kombinierbar, auch mit Tönen und anderen Sinnesreizen ... nichts weiter, als die gleichartige Aufzeichnung von Ideen in Binary Digits, den kleinsten Informationseinheiten, mit denen prozessorgesteuerte Maschinen arbeiten. Elektronische Impulse, die erst im Durchlaufen von Interfaces, erst auf dem Weg durch diese Mensch-Maschinen-Schnittstellen, wieder scheinbar Bild, Schrift und Anderes werden. Erst durch Übersetzung in einen uns verständlichen Code entsteht die Simulation von Bildern, Schrift, Bedeutung und Sinn. Organisiert durch Software. Durch Programme.
Das kann nun so gedeutet werden: wenn wir Menschen bereit sind, unsere Sinne an Maschinen zu koppeln, verbinden wir unsere gelebte Aktualität mit der Virtualität von computergenerierten Simulationen. Das könnte unter VIRTUAL REALITY verstanden sein, jener Verschmelzung von Virtualität und Aktualität, die - seit Aristoteles - bis vor kurzem rational nicht vorgesehen war. Eine binäre Übersteuerung jener alten Bindungen, über die sich künstlerische Praxis seit jeher hinweggesetzt haben mag.
Keine Credo. Kein Versprechen. Eine Geschichte, die sich selbst schreibt, die sich bloß nicht selbst erzählt.


Punkt

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