Aal Grün
Wie du auch die Welt durchflitzt
Ohne Rast und Ruh ─
Hinten auf dem Puffer sitzt
Du.
Kurt Tucholsky

 

Leuchtet der Ginster so gut

Dort unten ist die Erde mein
Mit Bauten und Feldern des Fleißes.
Wenn ich einmal nicht mehr werde sein,
Dann graben sie mich dort unten hinein,
Ich weiß es.
Joachim Ringelnatz

 

   München ─ Binz.
   Ab Nürnberg ist offiziell Nacht: Der Schlafwagen wird abgeschlossen. Im Gang neben den Abteilen stehen zwei junge Kerls und murren, weil für sie nur noch Nichtraucher übrig war. Es sind tatsächlich Kerls, nicht etwa Jungs, junge Männer oder Burschen: Es sind zwei Kerls.
   Ich habe mich im Gepäcknetz installiert. Das geht. Wenn man will. Vergnügt liege ich auf meine Jacke gebettet, weil mich bestimmt niemand um diesen Platz beneiden wird, weil noch kaum einer ausprobiert hat, wie bequem das eigentlich ist. Ich kann sogar mein Schreibzeug auf den Knien halten, mit meiner neuesten Zeitung als Unterlage, und beobachte alles.
   Das Abteil neben den zwei Kerls haben vier Mädchen in Beschlag, die bereits alle erhältlichen Sitze ausgezogen haben, ein Dutzend verschiedene Knabbersachen knabbern und das Kreuzworträtsel in der "Bravo" lösen. Die Türvorhänge schon notdürftig zur Nacht zugezogen, damit ja niemand auf die Idee kommt zu fragen: "Ist da frei? "
   Mit all den Colaflaschen, Saftpackungen und Limobüchsen haben sie ihr Abteil recht lustig bunt eingerichtet, wie Mädchen immer und überall pflegen. Sie sind nämlich ihrerseits nicht etwa Mädels, junge Damen oder gar Tussen. Es sind Mädchen, knapp volljährig und gerade mal so befugt, ohne Mami und Papi durchs Land zu gondeln. Neidisch äugen die Kerls hinein.
   Ich habe meinen Faserschreiber zugedreht und döse ein bisschen über der Zeitung.
   Kurz nach Würzburg, als ich mich erneut umschaue, scheint die Verbrüderung zwischen Kerls und Mädchen vollzogen und das Sechserabteil optimal ausgenutzt.
    "Das ging aber schnell", plaudere ich zu einem der Kerls hinunter. Gerade haut er die Abteiltür hinter seinem Ellbogen zu, um auf dem Gang eine zu rauchen.
   "Das muss aber noch schneller gehn", mault er wenig freundlich zu mir herauf und lässt mit einem Strich der Zigarettenschachtel seinen Bürstenhaarschnitt wie einen Veloursteppich hochschnalzen. Ich drehe mich ein wenig zur Wand.
   Ab Fulda wird das Mädchenabteil ruchbar und hoffentlich im Einvernehmen zum Raucherabteil erklärt. Für die Nacht werden die Vorhänge an Fenster und Tür jetzt richtig zugezogen.
   Eins der Mädchen hat klug Bindfaden mitgebracht. Damit haben sie die Tür zwischen Griff und Vorhanghaken abgesperrt. Das hat ihnen wohl die Mutter zu Hause so eingeschärft, damit keine bösen Buben ins Abteil eindringen. Die Jungs sind natürlich noch drin. Mein geschultes Ohr unterscheidet, dass Bierbüchsen beim Öffnen anders klingen als Colabüchsen.
   Von Zeit zu Zeit muss die Tür aufgesperrt werden. Das ist der Job der Mädchen, denn dies ist immer noch ihr Revier.
   Alsdann dringt aus dem Abteil Rauch, Gelächter und Gläserklirren, und Kerl oder Mädchen kämpft sich zum Schlafwagenschaffner durch, bei dem es angeblich noch die ganze Nacht durch was zu trinken gibt. Der Mitropa-Speisewagen hat schon lange dicht. Der Tip stammt von dem Kerl mit den schweren Stiefeln. Er wird auch meistens losgeschickt. Regelmäßig kehrt er mit einem Armvoll Flaschen zurück. Was da drin sein soll, erkenne ich schlecht, denn solches buntes Zeug trinke ich nie. Leicht geschürzt turnen die Mädchen hin und her. Ob ich jetzt endlich schlafen darf? Immerhin habe ich eine Rügenreise gebucht ─ mit Schlafplatz!
   Ab Halle geht die Abteiltür immer öfter, auch weil jetzt alle immer öfter zur Toilette müssen. Das Gelächter aus dem Abteil wird gedämpfter, aber nicht seltener. Eher im Gegenteil.
   Um Erfurt herum linse ich einmal hinunter. Ein ausgesprochen schmucker Mädchenfuß hat den Vorhang knapp unter der Absperrschnur ein Stück zur Seite geschoben und steht nun platt gegen die Scheibe gequetscht. Die Ferse pumpfert in einem Zweierrhythmus sachte dagegen. Das schläfert ein bisschen ein.
   Hinter einer Station, die ich nicht verstanden hab, war Personalwechsel.
   Eine Mädchenstimme sagt in kurzen Abständen, taktversetzt: "Oh!" Eine andere hat zu quieken begonnen und will gar nicht mehr damit aufhören. Eine dritte sagt sehr oft: "Jaah...", und beim letzten Mal spricht sie es sehr langgedehnt aus.
   Bei Stendal, also bereits sehr früh, verlasse ich kurz mein Gepäcknetz, um meine Knie knacksen zu lassen. Aus einem seit Magdeburg leergeräumten Abteil lasse ich mir Fahrtwind um die Brille wehen. Aus dem Fenster gebeugt, sehe ich das vierte Mädchen weit zu ihrem Fenster hinausgereckt. In ihrem leichten Ringelhemdchen wird sie sich wohl erkälten, aber sie sieht recht gelöst aus dabei. Auch ihr scheint der kühle Fahrtwind gutzutun, sie sieht nämlich reichlich verschwitzt aus. Kein Wunder bei dem Qualm, der in dem Mädchenabteil mittlerweile herrschen muss.
   Sie hält sich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest, ihr Körper wippt auf und ab. Gelegentlich stemmt sie ihn sogar ausgelassen in die Höhe und kreischt kurz auf vor Freude. Allmählich wippt sie immer schneller, und irgendwann blinzelt sie plötzlich, als ob ihr siedendheiß etwas einfiele, und dann kreischt sie schrill und anhaltend in die Nacht hinaus, was ihr aber offenbar schnell den Atem nimmt. Keuchend stützt sie sich auf; ihr Kopf verschwindet einen Moment, und kurz darauf wirft ihr langer magerer Arm ein matt schimmerndes Tütchen ins Ginstergebüsch auf dem Bahndamm. Mir fällt mein Lieblingsgedicht von Joachim Ringelnatz ein: "An den Hängen der Eisenbahn" undsoweiter.
   Ein anderes Mal flüstern hinter ihr die anderen drei Mädchen, offenbar an die Kerls, irgendwelche Handlungsanweisungen: Dinge wie "Schneller", "Langsam", "Da unten", "Moment noch", "Ochh, thothaal...". Manche richtig fröhlich, manche auch wieder sehr ernsthaft; alles so hellhörig hier.
   Beim Halt in Wittenberge, was immer ein Mensch morgens um drei auch in Wittenberge ein- oder aussteigen mag ─ kommen drei verschiedene leere Schnapsflaschen nacheinander in hohem Bogen aus dem weit offenen Fenster gesegelt und zerschellen auf dem Bahnsteig. Hier in Neufünfland sind die Bahnsteige noch mit Kopfsteinpflaster mit viel Gras und Sand dazwischen gedeckt, darauf gellt das Glas ganz schön Echo. Ich bewundere es und gucke fragend auf das einzige Verbotspiktogramm auf meinem eigenen Fenster: keine Flaschen hinauszuwerfen. Das andere Fenster kracht wieder zu.
   Bei Schwerin wird die Absperrschnur vor der Mädchenabteiltür einmal besonders hastig aufgenestelt. Ich wandele nämlich gerade unter meinem Gepäcknetzplatz auf und ab und tue auch mal was Verbotenes: Angesichts all der Rauchverbotsschilder auf dem Korridor rauche ich eine, und was soll ich sagen: Es tut gut.
   Das blondeste der Mädchen kommt aus ihrem Abteil geschossen und schrammt mich schier an die Wand. Schließt die Tür nicht mehr hinter sich, so dass man es jetzt auch sieht: Kerls wie Mädchen haben ihre Anzüge für die Nacht wirklich sehr gelockert und sich in eine fein ausgefeilte Liegeordnung begeben ─ je ein Kerl zwischen je zwei Mädchen ─ und wie gut die Gesichtsfarbe der Blondesten zu ihrem Zehennagellack passt: ein helles Neontürkis!
   Der Kerl, dem sie abgehauen ist, und der verschlafen schon wieder seine Bürste schnalzen lässt, rappelt sich hoch und eilt ihr auf die Zugtoilette nach. Die anderen drei Mädchen rücken, weil ich vielleicht auch etwas diskreter beiseite gehen könnte, mit betretenem Blick ihre Büstenhalter zurecht und schlüpfen in Unterhosen, die sie offensichtlich gerade mit denen der Kerls verwechselt haben: kleine Edelweißblümchen gegen kleine Bankräuberchen.
   Das blondeste Mädchen kniet unterdessen vor der Toilettenschüssel und ruft guttural Unverständliches.
   Rostock. "Personalwechsel!" ruft ein junger, blondierter Schaffner mit Ravers' Ziegenbärtchen und will zum zirka sechsten Mal in dieser Nacht meinen Fahrschein kontrollieren. Sämtliche Abteiltüren rupft dieser Mensch auf. An mir ist er glücklich vorbei. Jedoch vorne an der Toilettentür muss er sein gesamtes Unterrichtswissen zusammenzählen. Schließlich schreiten mir drei Menschen entgegen: Zwei davon tragen ein originales Gespenst in ihrer Mitte spazieren. Die Blonde kann ihre Füße nicht mehr setzen, die Mähne schaukelt ihr überm Gesicht, beiläufig streift sie mich Entgeisterten. Sie würgt immer noch fremdländische Worte. Es könnte der Name des Kerls sein, mit dem sie umschlungen gelegen hat: "Jörg! Jörg!"
   Stralsund.
   Der Sund nach Rügen: Der Urlaub hat begonnen.

 

Pension Rotbarsch

Ich denke, dass ihr mich versteht, wenn ihr die hübschen Mädchen seht,
im Sande sitzend, braun und nackt, und eine zu der andern sagt:
"Zwar weiß ich, Hannes, dieser Schlot, ist schon seit einer Woche tot,
doch könnt ich wetten, er ist hier, ich spüre was von ihm in mir..."
Hannes Wader

 

   Ich weiß, was mir als Gast dieser Insel zusteht, und habe mich in einer Frühstückspension einquartiert. Hoffentlich gibt es eine umgängliche Großmama mit Familienanschluss, dachte ich, die fünfzig Katzen umsorgt, damit sie auch mich mitschafft.
   Verloren: Es gibt nur einen Whirlpool, Sauna und Billardraum, wie zu Hause auch. Aufs Klo muss man vom Strand aus ins Hotel zurück. Das finde ich so scheiße, dass ich die ganze Woche lang nicht muss.
   Am Strand tummelt sich das Salz der Erde in so haarsträubender Unbefangenheit, dass es schon wieder Spaß macht. Ob das der Abschnitt mit FKK-Erlaubnis ist oder nicht, ist allen ja sowas von wurstegal. Alle hupfen sie in sämtlichen Bekleidungsstadien umeinander herum, dass ich gar nicht spontan entscheiden kann, in welches ich mich denn begeben soll. Die allgemeine Unbefangenheit der Ossis aber, mit sekundären, ja sogar primären Geschlechtsmerkmalen herumzuwedeln, erfrischt nach kurzer Zeit mein Herz.
   Auch die Ostsee schlägt Wellen. In der Brandung schmort eine fette Alte und begräbt ihren Bikini so gründlich unter ihren Speckfalten, dass ich ihn ohne mein verblüfftes Starren niemals wahrgenommen hätte. Ein junges arbeitsloses Paar hat sich eine einsfuchzig hohe Sandburg aufgeschaufelt, um ungestört Tantra zu betreiben: Er kniet in der Burgmitte, sie liegt ganz unverfänglich die Schenkel um ihn herum geschlungen und liest zum Alibi in einem riesigen Leitz-Ordner, den sie an seinen Bauch gelehnt hat. Eine schöne Stellung, in der es ganz, ganz langsam geht. Und so unauffällig! Er grinst frech zu mir herauf, als ich auf meinem Strandrundgang über die Brüstung spechtele, wie sich die Leute in ihren Sandburgen so einrichten. Sie rückt ohne Notiz von mir ihren Alibiordner (in dem natürlich lauter Unsinn steht) neu unter sein Kinn und japst: "Huch! Total!"
   Aller halber Stunde gleitet am Horizont die Eisenbahnfähre von Sassnitz nach Trelleborg und zurück vorbei. Jeweils zehn Minuten später sind die großen Brecher aus ihrem Kielwasser bei uns am Strand, zum gesteigerten Gaudium der Badefreudigen. Die drei Luftmatratzensurfer, vielleicht Brüder, vielleicht alte Kolchosenkollegen, warten schon regelmäßig darauf und nutzen sie fleißig. Ich vergleiche nur meine Uhr danach. Ob es schon wieder Zeit ist, eine Büchse Jim Beam-Cola zu enthaupten. Was Besseres gibts im hiesigen Supermarkt nicht. Ein Strandkiosk käme einem Raumschiff gleich.
   Ein sehr junger Forscher trägt neben einem kunstvollen, glänzig rußschwarzen Turm aus Schlabberschlamm alle Quallen zusammen, die er fangen und finden kann. Wenn sie aus dem Wasser kommen, pulsieren sie nur noch ganz kurz. Solange ich zuschaue, höre ich sie sogar ein-, zweimal husten. Wenn er sie hochhebt, glubbern sie auf Fünfmarkstückgröße zusammen. Trotzdem ergeben sie eine ganz erhebliche Masse, mit denen er seinen Schlabberturm mit einer glitzernden Aura umgibt; immer wieder hört man weithin eine Handvoll Quallen an den Turm geklatscht.
   Von ganz drüben bis auf die andere Seite, entgegen der Fährenrichtung, latscht ein aufrechtes Hängebauchferkel, auf dem Kopf einen derart zerfetzten Strohhut, dass er glatt mit einer ungekämmten Hochfrisur zu verwechseln ist, und unterhält sich dabei mit ausladenden Gesten mit einem schwarzgerösteten Leptosom, beide unbegreiflicherweise nicht in schallendem Gelächter begriffen. Eine splitterfasernackige Familie trägt einen Wettbewerb im Hochsprung aus. Die zwei Buben müssen hüpfen, Mutter misst die Entfernung anhand der Absprungspuren, Vater gibt Startzeichen. Ganz weit weg brät eine lange, magere, kreideweiße Dänin, die sich ab und zu von einem kurzgewachsenen Ossi von hinten die Brüste aus den Rippen suchen und zurechtkneten und sogar mitten in den Schritt küssen lässt. Echte Blondine. Noch weißer durch den Sand, in dem sie sich wälzen. Alles in Zeitlupe. Ich wirbele bei dem Anblick ganz nervös Kieselsteine aus dem Sand hoch.
   Zurück in meiner Pension hole ich den Zimmerschlüssel von einer ziemlich achtzehnjährigen Dame an der Rezeption ab, die ich schon mal gesehen haben muss.
   "Du arbeitest aber noch nicht lange hier", sage ich, atemlos vom Fahrradfahren.
   "Gerade wieder angefangen", strahlt sie, "am selben Tag, wo du gekommen bist. Nur dass mein Urlaub jetzt vorbei is. Vorpraktikum heißt die Devise!"
   Ich will etwas kalauern, was sie denn für eine Ahnung hat, wann ich zum letzten Mal gekommen bin, denke aber zum ersten Mal seit Monaten einen Schritt weiter:
   "Auch mit dem Bumsbomber nach Binz?", denn womit soll man sonst groß nach Rügen gelangen. Sie stiert mir einen Moment zu lange sehr, sehr groß in die Augen.
   "Ich heiß Tom", strecke ich ihr die Hand über die Empfangstheke. Heute übertreff ich mich wieder selber: Zweimal innerhalb derselben Minute geistesgegenwärtig gewesen.
   "Ich weiß", sagt sie und klopft auf meinen Eintrag im aufgeschlagenen Gästebuch vor ihr. Reicht mir die Flosse: "Veronika. Bitte nicht Vroni. Schönen Urlaub bei uns."
   Und Tom wollte ich schon als kleiner Junge immer heißen.

 

Als Wampe einmal nach Hause kam

   Wampe stiefelt auf sein Elternhaus zu, seine schmutzige Urlaubswäsche umgehängt, und versucht ausnahmsweise mal, kein Marschlied zu gröhlen. Im rechten Arm hält er nämlich Veronika, die er in der Eisenbahn aus München nach Hause aufgegabelt hat. Er will sie nun zu Hause seinen Eltern vorstellen mit dem Hinweis, dass die Hübsche ab jetzt wahrscheinlich öfter hier übernachtet, und glaubt fest daran.
   Das Elternhaus ist eine alte Fischerkate, von der seit den DDR-Zeiten keiner mehr weiß, wann sie erbaut wurde. Nur die Reetdecke gehört laut Versicherung aller paar Jahre ausgewechselt, weiß Wampe, und guckt voll Stolz auf seine Heimat in der Abendsonne.
   Mutter mault immer über alles. Irgendwann ist sie mal Zug gefahren; da hat sie alle Leute bepestet, wann der nächste Halt ist. Der Vater ist ein alter Fischersmann von echtem Schrot und Korn, der seit den DDR-Zeiten nie wieder so ganz nüchtern war. Nur sein Ehrgefühl stammt noch vom alten Klaus Störtebeker her.
   Jörg ist zu Besuch und wartet auf seinen Kumpel Wampe. Er hat von Vater eine Flasche Bier bekommen und trinkt sich warm für den Abend. Er sitzt schon da, als ob er hereingehörte. Mutter deckt den Abendbrottisch, Vater ist mürrisch wie immer.
   "Und? Wen bringste uns da?" fragt er. Wampe hätte sich einen etwas herzlicheren Empfang für seine neue Eroberung Veronika gewünscht. Lieber mal ein Mindestmaß an Respekt vorlegen.
   "Vatter, das is de Veronika. Veronika – Vatter." Und mit einer Handbewegung zu Mutter: "Und Mutter."
   Sie blickt vom Tischdecken auf: "Denn schmeißt ma eure Dreckwäsche ins Badezimmer. Waschen tu ich morgen."
   Immerhin. Veronika darf schon ihre Wäsche mit hinschmeißen.
   "Ick bin ja de Putze hier für alle." Ach, so war das gemeint. Wampe angelt, so verlegen er werden kann, nach Jörgs Bier und nimmt einen Zug: "Schon lange hier?"
   "So lange", meint Jörg und deutet auf die Bierflasche.
   "Noch nich lange."
   "So lange wie du mit deine Neue int Sanddornjebüsch jelejen bist."
   Veronika guckt säuerlich.
   "Hah hah. Wenn ick mit eener int Jebüsch lieje, komm ick nich mehr zum Essen zurecht."
   Veronika guckt immer säuerlicher.
   "Aber zum Saufen, wa." Jörg hat sich wieder seiner eigenen Flasche bemächtigt und prostet dem Sohn des Hauses zu.
   "Janz schön frech für dein Alter."
   Jetzt schaltet sich Vater ein: "Wat dein Freund uns hier erzählt hat, leecht dir keene Familljenehre ein", mosert er. Jörg prostet erneut.
   "Wat denn schon?"
   "Tu nich, als ob de von nix wüsstest. Von eurer Zuchfahrt."
   Ach, das. Wampe hat schon befürchtet, Jörg hat doch ausgeplaudert, was sie im Urlaub getrieben haben.
   Mutter steht inzwischen am Herd und kocht zu Ende: "Wenn ick et recht überleje, will ick solche Saukerle nich am meinem Tisch haben. Ihr könnt heut Abend jerne woanders euer Futter besorgen."
   Veronika ist doch erstaunt, wie der Sohn hier nach seinem Urlaub aufgenommen wird. Was wird das jetzt mit dem netten Familienabend?
   "Jörg", knirscht Wampe, "du bist echt sowat von..."
   "See you later, ne!" Jörg schielt schon nach einem neuen Bier – und nach dem Topf Essen, den Mutter gerade aufträgt.
   "Worauf de dir eenen lassen kannst!"
   "Mach mich keene Angst, euer Scheinheilichkeit! Baggert da alle Mädels an!"
   "Ja, selber! Hockt sich hinten ins Abteil hin, steckt sich eene an und schaut zu! Hättest ja auch rausgehen können!"
   "Wohin? Hätt ich de Abteiltür uffmachen sollen, damit alle Welt zukucken kann?"
   "Klaaar!!"
   "Aber ne Torte, die de seit zwee Stunden kennst, von hinten ficken, dit is wohl de feine Englische, wa!"
   "Jaah! Man muss nehmen, wat man kriecht!"
   "Sach ich ja", meint Jörg und langt beim Essen zu.
   Langsam reicht es Veronika. Hat sie eigentlich schon jemand um ihre Sicht der Dinge gefragt? Nun, die Zeiten sind eben hierzulande hart seit der Wende, da sind die Leute leicht reizbar.
   Wampes kleine Schwester kommt die Treppe runtergepoltert, mit einem verfilzten Teddybären über die Schulter. "Mama!" greint sie.
   Niemand beachtet sie. Sie steht einfach hilflos im Küchendampf. Wampe wendet sich Veronika zu: "Komm. Wir jehn." und dreht sich mit ihr um.    "Deine Wäsche kannste mitnehmen", sagt Mutter ungerührt und drückt Wampe seinen Wäschesack wieder in die Hand. "Tschüss. Bis vorgestern."    "Mama! Du hast mich doch schon rausgeschmissen! Was willst du denn noch?!" plärrt Wampe.
   Mutters Stimme schnappt über: "Jetzt halt schon deinen Rand!!"
   Schwesterchen weint noch, als die Tür hinter Wampe und Veronika ins Schloss fällt.

 

Strandgut

In Anklam sind die Baseballschläger ausverkauft. Dass es in Anklam und dem umliegenden Kreis Ostvorpommern keinen einzigen Baseballverein gibt, tut der Beliebtheit des Sportgeräts keinen Abbruch.
Der Spiegel 34/97

 

   Gut gegessen habend, liege ich inmitten Strandgut im Nachmittagsschatten, streichle meine gedunsene Wampe und bemühe mich, möglichst leise zu rülpsen, damit Swanja und Catharina nicht vor mir auf Distanz gehen.
   Ihr Wasserball klingt fast genau eine Quint: Wenn er bei Swanja ankommt, tief, bei Catharina hoch, und hat sogar gleichzeitig Bass und Diskant in der Stimme. Einfache, lange Spielzüge: Quint... Quint... Quint...
   In den Takt mischt sich ein anderer. Da singt jemand. Nähert sich. Da singen sogar viele. O du schöner Westerwald. Zahlreiche rauhe Männer-, nein, Kerlsstimmen.
   Müde drehe ich den Kopf in diese Richtung. Eine Reihe Kerls, viel zu warm angezogen für den Strand, nimmt die ganze Strandbreite ein. Stiefel haben sie an, mit denen sie den Sand vor sich herstieben, und dunkelgrüne Jacken. Alle mit sehr ordentlich kurzgescherten Haaren. Manche dirigieren den Westerwald mit lang aus dem Haufen hinausragenden Keulen. Manche haben vor zwei bis fünf Jahren mit Ach und Krach ihren Hauptschulabschluss geschafft, die grinsen jetzt noch mit ganz glasigen Augen vor Freude aus der Wäsche. Manche riechen aus der Gurgel wie die Allwissende Müllhalde bei den "Fraggles". Die Fäuste von manchen sehen nur so riesig aus, weil sie Bierbüchsen damit festhalten.
   Der Wasserball hat seine Quinten abgebrochen. Swanja sagt entsetzt: "Da sindse wieder", Catharina hat schon den Stöpsel aus dem Ball gezogen und presst ihn gegen ihre Brust, damit sie ihn schnell wegpacken kann.
   "Mach nicht lang", winkt Swanja hektisch, und ganz schnell eindringlich: "Mach!"
   Dann stürzen beide zu ihren Badetaschen unter dem Baum neben meinem, raffen ihr nötigstes Zeug zusammen und lassen den halbleeren Wasserball Wasserball sein. Zur Treppe die Steilküste hinauf sehe ich nur die zwei Badetaschen in einer Sandwolke hinter ihnen herbaumeln.
   Die Kerlsreihe ist bei mir angekommen. Wie abgesprochen bauen sie ihren Halbkreis um mich herum auf. Einer mit einem besonders hübschen Veilchen und besonders eingeschlagenem Gebiss tritt vor, patscht sich mit seinem Baseballschläger in die Handfläche ─ und grinst und grinst.
   Als ich gerade etwas besonders Intelligentes sagen will, wie: "Gott zum Gruß, ihr jungen Pursche", macht er den Mund auf ─ und rülpst so saumäßig unverschämt lange, dass es selbst mich nicht mehr wundert, warum Swanja und Catharina so überstürzt abgehauen sind.
   Vom linken Rand rückt einer nach und sagt: "Kennen wir uns nicht?"
   Ich weiß es einfach nicht mehr; gar nichts mehr weiß ich, mir auch wurst. Alkohol macht bekanntlich gleichgültig. Deshalb rülpse ich nur trocken:
   "Jörg?"

 

Ab Wochenmitte viele Wolken. Ab dem Wochenende kühler und vermehrt Neigung zu Schauern. Im Norden Gewitter möglich. Für die Jahreszeit allerdings – noch – zu schwül

Bijous Orgasmus kam wie eine exquisite Marter. Bei jedem Zucken bäumte sie sich auf, als würde sie erdolcht. Sie flehte fast um das Ende.
Anaïs Nin

 

   "Ende von Vorpraktikum", stellt Veronika fest. "War doch gar nicht so schlimm. Fast wie Urlaub."
   "Bloß kürzer! Nach Hause nehmen wir den Flieger", bestimmt Alexandra fröhlich. "Das Fünfunddreißigmarkticket glaubt uns unter der Woche sowieso kein Schaffner. Supersparpreis zieht ja auch bloß am Wochenend. Und Flieger..."
   Womit sie recht hat. Ich strecke mich in der Astgabel über ihnen lang und lasse alle viere hinunterbaumeln. Wenn ich mich im Schritt kratze, grunze ich sogar bärig. Das tut wohl.
   Veronika und Alexandra nicken bedenklich und schaufeln mit den Zehen kuhfleckige Steine aus dem Sand. Ihre Zehennägel bekommen Macken davon, aber die kann man zu Hause überlackieren. Sie haben immer noch Urlaub.
   "Flugzeugtoiletten sollen aber scheußlich unbequem sein", wendet Veronika ein.
   "Du nu' wieder", schubst Alexandra sie, "glaubst du wohl, das geht in jedem Zug so total ab wie herwärts?", und sie kichern sich beide einen ab.
   "Wieso nicht?" Es ist doch schließlich der Bums-Bomber nach Binz!" betont Veronika jedes Wort mit B.
   "Wo du deine Reden immer herhast", seufzt Alexandra. "Von der Herfahrt weiß ich eigentlich bloß noch, wie ihr mich aus dem Klo gerettet habt."
   "Schade. Vorher hast du eigentlich ganz schön Fun gehabt."
   "Hmmmmmh!" schwelgt Alexandra und kuschelt sich im Sande zurecht.
   Lange Pause.
   Dann muss ich ein Stück verpasst haben, weil ihr Wispern erst allmählich wieder zu mir in die Astgabel heraufdringt.
   "... auch das erste Mal. Aber grade dass wir so viele waren, hat mich ja so voll angetörnt. Ich konnte irgendwie nicht gleich. So hat's viel, viel länger gedauert. Alles war schon bereit... ich hätte schon lange kommen müssen, ich war einfach total... offen! So in allen Fasern total gespannt. Als es dann doch endlich gekommen ist, war's wie eine... wie eine Explosion. Es hat gar nicht wieder aufgehört. Der arme Jörg. Hat sich so total abgeschafft und dachte schon, es wird nix mehr. Und ich dann gleich zehn Orgasmen auf einmal! Ich hab gedacht, ich muss total aus dem Abteilfenster springen!"
   "Ja. Hab ich gehört."
   "Und als dann der Zug genau den Moment wieder beschleunigt hat, da hat's mich so seitlich total mit davongetragen! Das war ja", und jauchzt: "einfach so totaaaaal schöön!"
   "Krieg dich wieder", murrt Veronika, mehr als nur eine Spur Neides in der Stimme.
   "Und wie wir die Schnapsflaschen aus dem ─ !"
   "Voll laut auf den ─ ! Hör bloß auf ─ "
   Es herrscht eine Theorie, nach der jeder der sieben Milliarden Menschen auf der Welt jeden anderen Menschen um allerhöchstens fünf Ecken herum persönlich kennt, dass spätestens alle zwei Minuten eine Aufnahme von "Bat Out of Hell" abgespielt, und dass andauernd rund um die Uhr, sich vielhundertfach überdeckend, das Lied "Happy Birthday" gesungen wird. Das Leben kann schön sein.
   Nochmal Pause.
   "Aber den jungen Hübschen aus deiner Pension, den nehmen wir wenigstens mit!" ruft Alexandra plötzlich, und dann wache ich auf. Hätte sie doch wenigstens vom "hübschen Jungen" gesprochen - aber ihrer Freundin erzählt sie eben nicht alles. Weder wer bei hr wohnt, noch wie sie von Einheimischen behandelt wird...
   Dabei kann man sich nicht mal richtig strecken mit diesem Gipsarm, und meine zwei Veilchen tun erst beim Gähnen so richtig weh. Die größte Wohltat ist schon, sich über die Nierenquetschung streicheln zu können, damit der Schmerz ganz langsam nachlässt.

 

Dorschklopse

   Einmal im Urlaub will man sich was gönnen. Vor allem, wenn man daraus einen gebrochenen Arm, zahlreiche Quetschungen an Leib und Seele sowie statt seiner Brille zwei blaue Augen davonträgt. Ich zum Beispiel sitze im Restaurant Neptun und bestehe darauf, ausführlich zu brunchen.
   Schuld sind sie nur selber. Hereingelockt hat mich nämlich, dass draußen auf einer Art Bettuch über dem Eingang steht: "All You Can Eat. Fisch Satt. Heilbuttfilet, Ostseehering, Aal Grün, Bratkartoffeln, Salat, DM 14,50", in absteigender Schriftgröße.
   Neufünfland ist bekanntlich Bierland. Mein erstes Schwarzes, Rostocker, habe ich bestellt mit der Anweisung, mir alle zwanzig Minuten eins einzuschenken, bis ich Stopp sage.
   Stopp sage ich noch lange nicht. Ich habe mich angefreundet mit dem Grünen Aal, schlatze Krabbencocktails, habe häufige Rendezvous mit der Sardellensauce mit Chili und schmiere mir zahlreiche Brötchen mit Tomatencreme. Selbstgeschlonzt mit anständig Knofel drin.
   Neue zwanzig Minuten sind um. Der Kellner kommt mir ein frisches Rostocker Schwarzbier auf den Deckel donnern und sagt: "Wünschen Sie noch Steinbutt? Butterfisch? Dorschklopse?" ─ und zwar in einem Ton, dass ich mal auf meinen Busfahrplan gucken sollte.
   "Nö, bloß Bratkartoffeln", malme ich, ganz selbstverständlich, mit vollen Backen, "mit dem Fischzeugs komm ich schon zurand", so dass der Kellner kopfschüttelnd der Geschäftsleitung berichten geht.
   Über kurz oder lang, weil mein letzter Bus schon am frühen Nachmittag geht auf dieser gastfeindlichen Insel, zähle ich meine Kröten zusammen und pfeife mir den Kellner her. "Zahlen kann ich nicht", eröffne ich ihm, "aber schicken Sie doch bitte die Rechnung an die Pension Rotbarsch zu Altenkirchen/Rügen."
   Der Herr Kellner schnappt nach Luft. Ich wusste nicht, dass überrumpelte Kellner sowas tatsächlich machen. Wo bleibt denn da die Schulung?
   "Machen Sie sich nur keine Sorgen", tröste ich ihn, "die müssen. Mir hat das Frühstück dort weder gereicht noch geschmeckt."
   Damit schultere ich meine great big Reisetasche, hupfe fast schon in Fahrt auf den Nachtzug in Richtung Nürnberg-Augsburg-München und bin heute noch verschollen.
   Die Pension Rotbarsch zu Altenkirchen/Rügen hat sich aber hoffentlich nicht lumpen lassen.

Homeward Bound

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