Allmächt

Ein gesellschaftliches Ereignis hab ich mir anders vorgestellt. Aber es sind sogar zwei oder drei Honoratioren da. Die mit Anzug und Binder, die sich da drüben gedämpft mit dem Herrn Büchereileiter unterhalten. Worüber, das bleibt geheim, denn das ist was für die Besseren. Smalltalk muss.

Um ein einsames Tischchen herum sind halbkreisförmig so harte schwarze Holzstühle gruppiert, so wie früher im Musiksaal, und zwar nicht mehr als fünf Reihen, damit der Saal auch recht ausverkauft aussieht.

Durch die offenstehende Büchereitür trifft grüppchenweise Publikum ein. Man begrüßt sich. Lächelt, hat sich lang nicht mehr gesehen, schüttelt sich die Hände, erinnert sich ans letzte Mal am Stadtfest, und verteilt sich gelächternd nach und nach in den Stuhlreihen.

Niemand getraut sich richtig laut zu sprechen - wohl aus Respekt vor dem kleinen, ergreifend schlichten Altar, auf den unterschwellig aller Konzentration gerichtet ist - dem hochbeinigen weißen Tischchen, ebenfalls mit einem Stühlchen dahinter, garniert mit einem Bauernsträußchen mit Kornblümchen, Mohn und Gerstenhälmchen, ein Fläschchen Mineralwässerchen mit Gläschen daneben.

Die Honoratioren einschließlich Büchereileiter und demselben Reporter vom Lokalkäseblatt, einem schmächtigen unrasierten Norwegerpullover plus Photoausrüstung, kriegen Orangensaft. Das gemeine Volk wird auf dem Trockenen sitzen, aber es macht sich nichts daraus. Ich auch nicht.

Premierenstimmung.

Eltern rufen ein paar Kinder, die sich durch die Bücherregale jagen, zur Ordnung: Es geht hart auf zwanzig Uhr, und die Dichterin muss jeden Moment eintreffen.

Das Publikum hat sich voll der Erwartung nun auf die Sitze verteilt. Es sind plötzlich doch mehr da, als es zuerst ausgesehen hat. Der Reporter pirscht sich mit seiner Kamera außen herum, weil er eine günstige Perspektive für die Rubrik "kultur regional" sucht. Na, der Herr Bibliothekar hat noch was an der Ausleihe zu hantieren, aber von uns aus kann's losgehen.

Da kommt sie auch schon zu der sperrangelweitoffenen Tür heringestochen: ein lokomotives Nervenbündel Komm-ich-zu-Spät, mit der Aktentasche von ihrem Mann unter dem Arm und einem zinnoberroten Kopf unter der nachblondierten Fönwelle.

Da stürzt die sofort auf den Herrn Bibliothekar zu, rupft ihn am Ärmel, sagt ihm etwas, fragt ihn etwas, weiß überhaupt nicht wohin mit sich, flattert wie aufgescheuchtes Geflügel nach allen Richtungen gleichzeitig, und drängt die ganze getragene Festspielatmosphäre aus dem Raum: Elfriede Strobel, die fränkische Mundart- und Heimatdichterin, die bei uns in der Stadt wohnt.

Der Herr Bibliothekar führt das verschreckte Vögelchen väterlich auf seinen Stuhl hinter dem Blumenstraußaltar, legt ihr ihre Aktentasche hin und baut sich vor dem Publikum auf, um einige einstimmende Worte zu sprechen.

- Elfriede Strobel, eine Bürgerin unseres Städtchens, seit dreißig Jahren glücklich verheiratet, zwei schon fast erwachsene Kinder - und die drei Personen in der ersten Reihe blicken bescheiden zu Boden - findet neben ihrer normalen täglichen Hausarbeit noch Zeit, ihre Gefühle und Gedanken zu Papier zu bringen (mit welchselbigem sie hinter dem bibliothekarischen Rücken wie wild umherraschelt) und hat vor kurzem im Schönberger Verlag ihr erstes Bändchen veröffentlicht (welchselbiges sie jetzt nebst einem Haufen Manuskripte von einer auf die andere Seite räumt), mit Dokumentarischer Dialektlyrik, Heimatgedichten und einigen Prosastücken, in denen sie dem Volk gehörig aufs Maul schaut und die tausend alltäglichen Erlebnisse und Erfahrungen einer fränkischen Hausfrau mit spitzer Feder aufs Korn nimmt (langsam bringt sie eine Art Ordnung in ihr Schlachtfeld da hinten - Krampfadern hat sie auch), einmal heiter, einmal besinnlich. Denn: Sie erheitern, lassen uns schmunzeln. Sie klingen nach und machen nachdenklich. Sie sind aktuell und doch zeitlos, durchaus sozialkritisch, aber nie verletzend.

Der bewundernswürdige Mut einer Frau aus unserer Mitte, einer von uns, ihre Umwelt und ihre Mitmenschen literarisch usw. zeigt uns, dass es auch in der heutigen Zeit nicht vergebens ist, mit einiger selbstmöglichen Initiative seine Stimme ans Ohr der Öffentlichkeit usw. usw. Davon zeugt ihr erstes, im Schönberger Verlag erschienenes Bändchen, das sie betitelt hat: Allmächt (Na, wie auch sonst).

Damit deutet er mit gnadenlos einladender Geste auf die Künstlerin, die einen Moment lang ganz vernichtet dasitzt - ogottogott, jetzt hört der auf, jetzt muss ich wohl was sagen, jetzt bin unwiderruflich ich dran, jetzt geht's los, o Lampenfieber lass nach, um Gotteswillen, was mach ich denn bloß.

Mit einemn Blick auf Mann und Kinder in der ersten Reihe reißt sie sich dann aber zusammen. Alles räuspert sich nochmal mehr oder weniger hörbar - dann stößt sie sich quasi vom Zehnmeterbrett ab und fängt ganz einfach mal an.

Allmächt!!

Das war die Überschrift (Ach so). Mit immer noch fliegenden Händen, jedoch deutlich um Fassung ringend, blättert sie die erste Seite in ihrem Erstlingsbändchen auf. Eine Edition im Schönberger Verlag.

Frühlingsdooch

Die Sunna scheint, die Lüftla weher,
Wou Bauern ihre Wiesen mäher.
A Burch erhebt si stolz vo weitn,
Gräißt riwer aus vergangne Zeitn.

A Lerchn singt und wirblt si
Und durch die Baim durch zäicht si hii
Di Beechnitz wäi a blaues Band.
Ouh du mei läibs Frankenland!

Aha. Nun gut. Sehr schön. Abgesehen davon, dass man sich über die korrekte fränkische Aussprache und vor allem die Schreibung des Nationalstroms Pegnitz ebenso lange und fruchtlos streiten kann wie über seine Färbung - mähen die Bauern überhaupt schon ihre Wiesen, solange noch die Lerche steigt?

Der Reporter glotzt unentwegt mit seinem kalten schwarzen Kameraauge immer aus einer anderen Ecke über das Geschehen und erschreckt harmlose Zuhörer mit Lichtblitzen, wenn man sie am wenigsten erwartet, denen jedesmal so ein hämisches Szzzzzzurren folgt. Das Journalistenpack da kann einem den ganzen Abend verleiden.

Frau Strobel hält ihr Werk jetzt mit beiden Händen, die schon mehr Unterhosen geschrubbt haben, als Fitzgerald Kusz je Dorfkneipenlesungen halten wird, und die über dem Ausschürfen fettiger Pfannen sowie dem Anfertigen erdverbundener Gedichte in Ehren errötet sind.

Und so ein schönes fränkisches rrr (vorrrn auf der Zunge) und lll (außerhalllb des Mundes nämlich) spricht sie. Eine Waffel wie daheim.

Nunmehr wird sie einige Kostproben Dokumentarischer Dialektlyrik geben, um ihre Vielseitigkeit zu demonstrieren.

- Eedzädlä! soong di glann Kinnä, wenns ind Huusn gschissn hom. schmettert sie plötzlich unter schwungkräftiger Unterstützung ihres Armes, der diesen Moment dazu massig über ihrem Haupte kreist.

- denn sobald Scheiße in irgendeiner Deklination, Konjugation oder sonstigen Variation vorkommt, ist das Eis gebrochen, wie jeder Mundartschaffende lernen muss. In jeder Form: Das ist echt, das ist fränkisch, so hört man's vom Mann auf der Straße, da kennt man sich aus, um was es geht. So reden wir. Mir san mir (Aber das ist bairisch). - Nächste Momentaufnahme mitten aus dem Leben:

- Die zeid vergäihd, es läicht verbrennd - un di alde stirbd ned.

Das war genau im richtigen Augenblick. Die Zuhörer waren noch gar nicht wieder ganz beruhigt, da schlägt schon wieder dieser Hammer ein. Jaja, solche Sprüch, die hat der Vater auch immer gehabt, gell, das war halt auch noch ein Echter. So ein bissel ein schwarzer Humor kann auch nicht schaden, wir Franken sind ja da nicht so zimperlich.

Weil diese einzelnen Bruchstücke immer so aus dem Rahmen gerissen wirken und außerdem für eine Lesung recht lustlos kurz, geht die Dichterin jetzt aus dramaturgischen Gründen zu ganzen kürzeren Dialogen über.

- Mei Fraa haut mi heit nu gscheit am Kupf nauf.
- Warum?
- No wal i's brauch.

Das ist zuviel. Das ist zuviel. Ehemänner wie Ehefrauen fühlen sich gleichermaßen angesprochen und hauen sich vor Gelächter auf die Schenkel. Sie tauschen Blicke miteinander, erinnern sich andeutungsweise an Präzedenzfälle aus eigenem Erleben oder vermuten, wer das gesagt haben könnte. Der Reporter notiert was von Identifikationsmustern für jedermann.

Bekanntlich wird ja den Franken - wie jedem anderen Volksstamm auch - ein besonders trockener Humor nachgesagt, den man nur bei intimer Kenntnis des einheimischen Menschenschlages wirklich voll goutieren kann, und deshalb setzt Frau Strobel, bevor die Stimmung abkühlt, gleich den nächsten drauf:

- Wos dousdn du en ganzn Dooch? - Acht Stund doui ärwern, acht Stund doui schloufm. Wos i in di andern acht Stund mach, dürfst mi allerdinx net froung.

Gedämpfter Applaus. Nicken im Publikum. Eine besinnlicher Einlage. Ja. So ist es. Was hat man denn vom Leben. Der Reporter notiert "sozialkritische Stadtwurst in leichtverdauliche Sülze verpackt, mit dramaturgisch geschickt verteilten Gürkchen".

Sozialkritik: Plötzlich schaut Frau Strobel ganz grimmig ins Publikum und fängt leise zu singen an: Aaaainichkeit und Recht und Freiheit - um sich sofort selbst giftig ins Wort zu fahren: Doust du dein Arm roo?!

Augenblicklich ist die Stimmung wieder oben. Man lacht ausgelassen, stößt sich in die Seiten, gibt seinen eigenen Senf dazu. Das grenzt ja an Satire. Das ist ja Kabarett. Wie beim Hildebrandt. Wer hätte der Strobelin das zugetraut.

Halb stolz, halb verlegen schaut Frau Strobel sich nach ihrer Gesangseinlage um. Wie macht sie das bloß. Sieht man ihr gar nicht an. Wie bei dem einen Bauerntheater jede Woche im Fernsehen, das ist auch so eine urige Gaudi, aber die Strobelin macht das mit viel weniger Aufwand. Der Reporter notiert und notiert.

Jetzt hat sie das Publikum in der Hand, jetzt kann sie es vor Lachen brüllen lassen oder nachdenklich die Augen zu Boden senken. Was sie will.

Da vorn sitzt keine hehre olympische Dichterin, sondern eine von uns, das sieht man ja, wie sie redet, wie sie tut.

Die schreibt wenigstens solche Dinger auf. Das ist ja auch richtig so, unser Volksgut muss doch erhalten bleiben. Die Jungen verstehen sowas ja gar nicht mehr. Die lesen höchstens ein Räuberheftlein oder einen Porno.

Denken die Alten. Die Jungen denken:

Die Frau ist ja richtig fortschrittlich für ihr Alter. Die durchschaut wenigstens die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Die Alten verstehen sowas ja gar nicht mehr. Die lesen höchstens ein Räuberheftlein oder einen Porno.

Das nennt man generationenverbindend.

Es folgt die Steigerung: Rollengedichte.

Und die Dichterin fängt jetzt an, sich wie ein Irrwisch nacheinander in verschiedene Rollen zu versetzen: Sie liest den Monolog einer aufgebrachten Rentnerin ("Ou meiomei..."), gibt Einblicke in die Gedankenwelt eines schusserspielenden Jungen ("Etz wenner dann net herschaut..."), eines siebzehnjährigen Backfisches ("Also Baa häddi ja scho schäine..."), eines grantigen Wirtshaushockers ("Mein Rouh willi hoom und mei Bäier..."), eines gestrengen Schreinermeisters ("Stift! Her dou!...") sowie ihrer selbst ("Wenn der Vadder und di Kinner ausn Haus sin..."): Rollengedichte eben. Kurze Texte ohne Reim und Metrum, freie Rhythmen in stark unterschiedlich langen Verszeilen aus wechselnden fremden Perspektiven voller distanzierender Ironie zwecks ironischer Distanz, scharf beobachtet, minutiös aus dem Leben gegriffen und wörtlich zitiert: Rollengedichte.

Wie mit einem Stufenschalter wechselt sie die Stimme jedem Gedicht entsprechend. Sie kennt halt ihre Arbeiten ganz genau und weiß selbst am allerbesten, wie ihre aus der Wirklichkeit stammenden Figuren zu reden haben. Dass man nun den "Bärwurz" nicht ausgerechnet mit Doppel-e schreibt, stört ja beim Vorlesen Gott sei Dank niemand. Phantastisch, wie sie den versoffenen Brückenpenner genau so lebensecht hinbringt wie die keifende Nachbarin. Das Publikum gibt ein sehr gutes positives Feedback, schreibt der Reporter.

Der Saal kocht! und applaudiert begeistert. Nur bei dem Stück "Keifende Nachbarin" gefriert einer Frau, einer einzigen, mit Trachtenhalstuch, ziemlich links hinten, das Lachen zwischen den Ohren. Aber das fällt niemandem auf.

Ohne weitere spezielle Ansage gibt Frau Strobel jetzt ein längeres Gedicht zum besten, in dem sie die Einrichtung einer neuen Telefonzelle in ihrer Nachbarschaft humorvoll kommentiert. Einige ihrer Nachbarn kommen darin sogar namentlich vor, und denen blinzelt sie an den jeweiligen Stellen verschmitzt zu, falls sie da sind. Allen schwillt sichtlich die Brust vor Stolz, in die Literatur einzugehen, nur die Frau mit dem Trachtenhalstuch links hinten grinst als einzige nicht zurück.

Hier ähnelt Frau Strobels Tonfall dem eines mittelalterlichen Herolds, welcher auf dem Marktplatz königliche Beschlüsse kundtut. Richtig aufgetaut und professionell wirkt sie. Mit einem fröhlichen Pathos, das ihr inzwischen so geläufig von der Leber weggeht, als hätte sie nie etwas anderes getan, deklamiert sie authentisch abgelauschten Volksmund, ganz wie im richtigen Leben, und den Leuten gefällt's.

So. das war der lyrische Teil.Es folgt nunmehr eine größere Erzählung, ebenfalls aufgenommen in das Büchlein "Allmächt" beim Schönberger Verlag, das die Überschrift trägt:

"Die Polizei und das Mädchen

Es herrschte Ruhe auf dem Polizeirevier. Wachtmeister Brennscheidt saß mit den Füßen auf dem Schreibtisch seine Nachtschicht ab."

Frau Strobel hat ihren Tonfall jetzt in den eines mittelalterlichen Märchenerzählers umgewandelt, welcher auf dem Marktplatz uralte Sagen und Legenden kundtut, denn Abwechslung muss sein. Sie beschreibt die langweilige Nacht in dem langweiligen Polizeibüro in irgendeiner langweiligen (fränkischen) Kleinstadt mit Thermoskanne und langweiligen Leberwurstbroten, als wäre man selber dabeigewesen.

Wetten, dass jetzt gleich da plötzlich das Telefon klingelt?

"Da klingelte plötzlich das Telefon." Na also.

Auch die müde brummige Stimme des Wachtmeister Brennscheidt spielt Frau Strobel täuschend ähnlich nach: "Bollizeirewier Groußraaaith - Brennscheidt?", und der diensthabende Beamte vernimmt nun "nach einer längeren Pause" die Stimme des Mädchens Marion, das natürlich allein zu Hause ist und Angst hat.

Der mürrische Beamte geht ganz gegen seine Gewohnheit auf Marion ein, weil ihn diese goldige Kinderstimme so anrührt. Selbst hat er keine Kinder, ist nicht einmal verheiratet, und so lässt er sich mit Marion auf ein richtig herzerfrischendes Gespräch ein, das Frau Strobel gut herausgearbeitet hat.

Am nächsten Abend muss Marion - schon allein aus dramaturgischen Rücksichten - wieder auf dem Polizeirevier anrufen, und am nächsten Abend ruft Marion - schon allein aus dramaturgischen Rücksichten - wieder auf dem Polizeirevier an. Die Nummer ist nämlich auf dem Telefon eingespeichert, und da muss Marion nur auf den einen Knopf drücken, damit sie mit jemandem reden kann. "A ganzganz dolls deiers Dellefon hom mir nemli, wal mir nemli ganzganz reich sin."

Diesen Abend hat natürlich jemand anderes Nachtdienst, aber Marion gewinnt auch das Herz des Wachtmeisters Dotzler. Eine der nächsten Nächte ruft sie noch einmal an, diesmal den Wachtmeister Herdegen. Dem erzählt sie treuherzig, wie den beiden anderen auch, dass sie fast jede Nacht alleine daheim ist und dann so Angst hat und der Papi und die Mami sollen nicht immer so lang fortgehen und am Tag wenn sie da sind dann sind sie auch immer ganzganz böse miteinander und haben sich gar nicht mehr lieb wie früher bis dann immer der doofe fremde Mann gekommen ist wenn der Papi nicht da war und die Mami ganz viel lieber gerngehabt hat als der Papi und mir Schokolade gegeben hat und wenn die Mami weg war ist dann auch immer die doofe nudelhaarige Frau gekommen mit sooo einem Busen und...

Nach einem ausgiebigen Schluck aus ihrem Mineralwassergläschen - man hört es bei der Stille ein paarmal durstig gluckern - lässt uns Frau Strobel weiterhin teilhaben an Marions abendlichen Telefongesprächen mit wechselnden Polizeibeamten, die inzwischen allesamt das offenherzige Mädel in die Herzen geschlossen haben. So spannend war Nachtschicht noch nie.

Marion ist das ergiebigste Revierthema, weil sie nicht rausrückt, wie sie mit Nachnamen heißt und ihr doch eigentlich geholfen werden müsste, soweit man sich da einmischen darf. So kann man sie immer bloß trösten. Man hat sich an sie gewöhnt und freut sich auf der Nachtschicht sogar schon richtig auf ihren Anruf. Es fehlt was, wenn sie sich nicht meldet, aber man legt immer mit einem schlechten Gewissen auf. Jeder der Beamten versucht auf andere, auf seine Art, mehr aus Marion herauszupressen, wobei Frau Strobel eine virtuose Führung der Charakterzeichnung an den Tag gelegt hat, und man kann die Erzählung so richtig mit der Realität identifizieren (Herr Strobel ist Polizeibeamter).

- und der Papi trinkt jetzt auch immer so viel Schnaps und so ganzganz große Weinflaschen und dann wird er immer gar nicht lustig und lieb wie andere Papis sondern dann schimpft er immer und haut die Mami mit dem Kochlöffel und dem Bügeleisen und dem Schürhaken immerzu dass sie ganz laut schreit und ganz lang weint und da krieg ich immer so viel Angst und versteck mich weil mich hat er auch schon ganz arg gehaut immer auf die gleiche Stelle und das hat so wehgetan bloß weil ich gesagt hab er soll aufhören die Mami so ins Gesicht zu patschen und ich trau mich jetzt gar nicht mehr -

Alles lauscht gebannt.

Die Herren Beamten sind erschüttert, weil sie ohnmächtig Marions Geschichten zuhören müssen, wenn sie nicht sagt oder nicht weiß, wie sie heißt oder wo sie wohnt. In einem achten Stock, hat sie mal gemeint.

Obwohl - was geht denn uns das alles an, solang keiner Anzeige erstattet wegen Misshandlung und Randale? Die Rotznase denkt sich womöglich wüste Fernsehstories aus und lacht sich nach dem Auflegen den Buckel voll.

So ein hilfloses Organ der Staatsgewalt - es ist wieder Wachtmeister Brennscheidt, Marions erster Freund - lauscht gerade wieder einer besonders herzzerreißenden Schauergeschichte, da hört er durch's Telefon, wie in Marions Wohnung die Tür aufgesperrt wird und ein offenbar schwertrunkener Mann hereinpoltert.

Marion kreischt schrill auf, der Mann lallt etwas, es kracht und knistert in der Leitung, und dann ist die Verbindung unterbrochen. Wachtmeister Brennscheidt ist ganz echauffiert, muss erst einmal seine Tabletten nehmen. Aber war da nicht noch etwas übers Telefon zu hören? Da ist doch ganz deutlich ein Hubschrauber vorbeigeknattert.

Und so ein Hubschrauber kommt jetzt auch übers Polizeirevier geflogen - aus Richtung Kleinreuth, wo es nur ein einziges über achtstöckiges Gebäude gibt. Da ergreift der wackere Polizeiwachtmeister Brennscheidt die Initiative und das Steuer der Grünen Minna, ertappt den Rabenvater im Kleinreuther Hochhaus auf dem achten Stock hinter der Tür, wo es immer so brüllt und scheppert und wimmert, auf frischer Tat, und führt die Sache zu einem guten Ende. Das Publikum atmet erleichtert auf.

(Wenn sie sich nun in der Geschichte eine Zeitlang, und wenn es nur für den blanken Textteil gewesen wär, ernsthaft des Hochdeutschen befleißigt hätte? Nein, das darf ja gar nicht sein, so breitmäulig ostfränkisch in ihrem eigen Slang kommt Frau Strobel viel charmanter - )

Pause. Dann beginnt Herr Strobel in der ersten Reihe als erster zu klatschen - und dann mit einem Schlag ungebändigter Applaus. Bravorufe. Zugabe!

Minutenlang.

Frau Strobel lächelt demütig. Nur ziemlich links hinten sitzt eine Frau mit Trachtenhalstuch steif wie der Fels in der Brandung.

Zum Abschluss (was? Abschluss? schon so spät?) - zum Abschluss des heutigen Abends folgt jetzt noch ein Gedicht, das nicht in dem Büchlein "Allmächt", der Edition im Schönberger Verlag, enthalten ist, sondern erst im nächsten Werk Aufnahme finden soll, das im Herbst ebenfalls im Schönberger Verlag erscheinen und den Titel tragen soll: "Dou fällt mir nix mehr ei. Ein fränkisches Allerlei. Von Elfriede Strobel."

Und Frau Strobel trägt ein gefühlvolles Gedicht an ihre Familie vor, die ja heute auch anwesend ist, ihr braver Mann und ihre beiden wohlgeratenen Kinder sitzen ja gleich vorne in der ersten Reihe, und sie kehrt dabei das Innerste ihrer Seele zuäußerst, so innig und ergreifend gesteht sie ihre Zuneigung und Fürsorge für ihre Lieben, so angesprochen und so persönlich gemeint fühlt sich jeder der Zuhörer, dass kaum jemand auf den Reporter achtet, der in diesem Fall die Leute beim Augenwischen in den Kasten kriegen will:

"...su kummts, dass iich eich alle Dooch
Bis in alle Ewichkeid mooch."

So klingt das Ding aus.

Da macht es nicht einmal mehr etwas aus, dass die letzte Zeile ein bisschen holpert. Hauptsache ist doch, wie man's bringt. Frau Strobel trinkt ihr Mineralwasser aus in einem Gulp, und stellt sich dem abermals ungebremst losbrechenden Applaus, von dem sich einzig eine Frau ziemlich links hinten mit Trachtenhalstuch ausschließt.

Von allen Seiten wird Frau Strobel angestrahlt. Bravorufe. Zugabe! Minutenlang (schon wieder). Nur leider hat Frau Strobel jetzt wirklich nichts mehr. Keine Zugabe mehr, nichts mehr geschrieben, alles alle.

Der Herr Bibliothekar ist wieder erschienen, um einen passenden Nachspann zu sprechen. Er ignoriert zwar geflissentlich den Ruf nach Zugabe, aber bei der irgendwann eintretenden Windstille, bei der er schon längst zu reden angefangen hat, da hat es ihm - und wohl uns allen, liebe Frau Strobel, ganz hervorragend gefallen. Sie nickt bescheiden. Traut sich vermutlich selber nicht so recht. Aber ihr familiärer Anhang ist sichtlich stolz auf Muttern, außerdem ganz überrumpelt von ihrem letzten Gedicht.

Ende der Premierenstimmung. Das Publikum erhebt sich unter munterem Volksgemurmel von den Plätzen. Man dehnt die eingerosteten Glieder, reibt sich die Augen und findet sich erneut in Grüppchen zusammen. Wie am Anfang, aber lauter. Die Tür steht wiederum sperrangelweit offen. Einige trachten schon heimwärts oder aber der nächsten Kneipe zu, und frische Luft strömt fast sichtbar herein. Schau nur her, die Stroblin.

Der ihre nächste Lesung wird dann auch schon Eintritt kosten, aber da gehn wir wieder hin. Aufbruchsstimmung, ein gelungener Abend.

Der Reporter hat sich natürlich bei erster Gelegenheit Frau Strobels bemächtigt und lässt sie nicht mehr aus, um ihr ein paar Fragen für seinen Artikel zu stellen, den er schließlich morgen früh abliefern muss. Die restlichen Strobels schauen aus respektvoller Entfernung zu.

- Warum haben Sie zu schreiben angefangen, Frau Strobel? (Ja, das möchten wahrscheinlich viele wissen.)

Sie atmet tief ein: - Jaah - ich wollt halt irchendwos... Sinnvolles machen, ne, was Kreatives, so Töpfern oder Ikebana, verstehnS, und zu der Zeit ham halt grad keine Kurse angfangt, da hab ich gsagt, probierst halt amal was allein. Braucht ma halt auch net viel Material dazu, keine Ölfarben und Leinwand, net amal Wolle und Nadeln... des hat mer ja daheim.

- Wie sind Sie zum Schreiben gekommen, Frau Strobel, erbliche Vorbelastung, eine harte Schule oder Naturtalent?

- Eher des letzte, ha ha ha.

- Wie sehen Ihre Rolle in der Literaturszene, Frau Strobel?

- Naja, sagt sie, mer muss halt mit irchendwos groß rauskommen. So wies etz is, bin ich halt mit die älteste Nachwuchsdichterin vo ganz Deutschland, gell, ne.

- Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Heimatdichterin?

Da muss sie erst schwer überlegen, dann erklärt sie: - Naja, des was mer so hört und so und was um ein rum passiert, gell, des kriegt mer ja oft gar net so mit, da muss mers dann halt aufschreibm damits net verlorn geht, gell, weils is doch oft schad drum wenns in Vergessnheit grät, gell, auf meine altn Einkaufszettl mach ich des oft hinten drauf oder so Reglamesendungen was oft so ins Haus kommen, gell, aber was mir dann hinterher selber bsonders gut gfällt da hab ich dann scho so a extra schönes nobls Heftle aus schwerm Büttn dafür, gell, da lässt dann zum Beispiel mei Mann oft sowas vom Stapl und des däd dann verbuffm wie Schall und Rauch, gell, wenn mer net glei da stennert, gell, aber mer dürf nadürlich net glei alles wahllos irchendwie hinschmiern, a Auswahl muss scho dasein a gewisse, weil mer kann sich ja auch schlecht hinstelln mitm Nodizblock und jeds Wort mitstenografiern wolln was einer sagt, gell, des geht ja net weil oft muss mer auch was wieder wegschmeißn, weils auf deutsch gsagt a Scheiß war, ne, weil a weng a Selbstkridik die muss mer dann ja auch scho übm, gell, weil der Babierkorb der is a Viech was gfüdderd wern will, gell, ha ha ha...

Der Herr Reporter steht da und stenografiert jedes Wort mit was Frau Strobel sagt.

- Eine letzte Frage: Worin sehen Sie die Aufgabe der Literatur, Frau Strobel?

Frau Strobel schaut den Herrn Reporter wie ein Mondschäfchen an.

- Glauben Sie, expliziert sich der Herr Reporter, dass Literatur etwas bewirken kann, bei den Menschen, in den Menschen, in der Gesellschaft? Und wenn ja, wo und inwiefern wird für Sie eine soziale Effizienz bei Ihnen und Ihren Rezipienten evident?

- Ja, sagt sie, für irchendwos werds scho gout sei, ne.

Der Herr Reporter bedankt sich für dieses Gespräch und geht dann wohl auch langsam heim, indem er sein ganzes Material für die Firma in Juchtenleder verstaut.

Froh und erleichtert wendet sich Frau Strobel endlich einmal ihrer Familie zu. Na siehgst, is doch wunderbor gloffm. Sie klopfen ihr anerkennend auf die Schultern und sind selber ganz froh und erleichtert, da kann man ja dann beruhigt heimgehen. Der Herr Bibliothekar wird auch langsam dichtmachen wollen - aber da ist ja noch ein letzter Gast im Saal verblieben?

Die Frau ziemlich links hinten mit dem Trachtenhalstuch hat alles, auch das Interview, mitverfolgt. Sie fetzt sich gerade ihren Lodenmantel um die Schultern, rammt sich zornig die Ärmel zum endgültigen Heimgehen hinein -

"Dir hilfi numol mid Bräifbabier aus!", giftet sie. "Dou fällt mir nix mehr ei!"

Nächste Woche liest Klaus Schamberger in der Dorfkneipe in Rockenbrunn.

Hamm werd gangä

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