Angostura
This could be Rotterdam or anywhere
Liverpool or Rome
'cause Rotterdam is everywhere
Anywhere you know...

Beautiful South

 

Eins

Um nach Hause zu gehen, war es schon lange zu spät. Unmöglich, durch dieses Schneegestöber zu trotteln. Irgendwann heute nachmittag war ich auf einen Cappuccino ins Nimmerland gekommen, und inzwischen war ein hübscher Gartenzaun um meinem Bierdeckel herum gewachsen. Der Pächter erwartete jede Minute seine Ablösung fürs Abendgeschäft. Die Meinung ging zumindest um, daß Mario der Pächter war, obwohl er keineswegs einen Wirten wie aus dem Bilderbuch vorstellte, so einen mit Kugelwampe und grüner Schürze davor, sondern einen kleinen drahtigen Typen, dem beständig aus den Augen strahlte, wie sehr er wußte, was er wollte und was er wert war. Ganz leichter englischer Akzent für alle, die einen heraushören wollte.
      Vor der Tür hielt ein Taxi. Ein paar der einsamen Wölfe, die hier ebenso festgewachsen waren wie ich, reckten ihre Krägen danach. Nur ich war zu faul, mich von der Theke umzudrehen. Man hörte vom Schnee gedämpft die Taxitür zuschnappen und kurz darauf die Cafétür sich öffnen. Mir zog Winterluft ins Kreuz. Jemand schleppte hörbar mühsam etwas herein. Gleich zwei der Wölfe schnalzten hoch und hin zur Tür, um sie aufzuhalten. Jetzt mußte ich mich doch mal umdrehen.
      Das Mädchen hielt in jeder Hand einen kleinen, prallgestopften Koffer, hinterließ mit ihren Schnürstiefeln schmutzig-nasse Schneetapser auf dem Parkett und hatte einzelne dicke Flocken im Haar, die langsam schmolzen. Trocken war sie vielleicht blond. Sie entließ die Wölfe an der Tür mit einem freundlich dankenden Nicken.
      "De nada", verbeugte sich der eine und wandte sich wieder seinem Espresso zu.
      "Was hast du gesagt?" fragte das Mädchen überrascht und ließ sogleich ihren einen Koffer wieder sinken, den sie offenbar gerade hinter die Theke schleppen wollte.
      "Ich? De nada hab ich gesagt. Hätte auch de rien sagen können, you're welcome oder paßt schon."
      "Bist du am Ende Spanier?"
      "Am Ende und von Anfang an", sagte der Wolf stolz und breitete eine schwarze und eine weiße Reihe über sein Gesicht aus: seinen Schnurrbart und sein Gebiß. "Raimondo heiß ich." Mit rollendem Rrr.
      Das Mädchen grinste durch die Nase. "Nicht Pedro, wie alle Spanier?", freute sie sich und streckte ihm ihre wetterfeuchte Hand entgegen: "Ich heiß Sabina. Mit a. Mit mir müßt ihr ab jetzt hier rechnen, ich bedien hier ab sofort", und guckte sich gewinnend um.
      Ich sah das ganze Nimmerland die Ohren spitzen, obwohl es niemand zugegeben hätte. Jemand raschelte mit der Süddeutschen.
      Der andere Wolf stand immer noch schüchtern an der Tür, weil er an Sabina mit a's Koffern nicht vorbeikam.
      "Und ich heiß Spinell", sagte er endlich, "laßt ihr mich jetzt wieder durch?" Und der neuen Bedienung ebenfalls beherzt die Hand reichend:
      "Willkommen übrigens, Sabina mit a."
      Damit hatte sie ihren Namen weg.

 

Zwei

Der schüchterne Wolf hieß wirklich Spinell; das ist ein Name für einen Menschen. Ich kannte ihn gut aus einer anderen Kneipe her, da hatte er sich mir als freischaffender Schriftsteller vorgestellt und an ausgedehnten Abenden seine Literaturtheorie auseinandergesetzt, die er sich an drei Universitäten zusammengekupfert hatte: Cardiff, Weimar, und eine hab ich vergessen. Früher war er mal mit dem Kornett, was immer das genau ist, durch die Gaststätten der ganzen Stadt getingelt und hatte für ein Freibier ein Lied nach Wunsch aus der Musikbox mitgeblasen. Anscheinend konnte eine One-man-Show von sowas tatsächlich eine Zeitlang überleben. Mit der Zeit begann ich ihn allerdings für nichts weiter als einen schwindsüchtigen Dichterling zu halten, der schon im Verlagsanschreiben zwei strahlende Tippfehler zustandebrachte, sonst aber gar nicht viel. Irgendwann nannte er mich allzu euphorisch seinen besten Freund, und ich wechselte unauffällig das Lokal. Als er seinerseits hier aufzutauchen begann, war er regelmäßig schon zu besoffen, um sich an mich zu erinnern. Ich hab nie herausgefunden, ob Spinell sein Vor- oder Nachname sein sollte. Wahrscheinlich sein einziger.
      Jetzt ließ er sich an dem Tisch neben Raimondo nieder und beobachtete Sabina mit a, wie sie ihre Koffer durch die Tür hinter der Theke schleifte, unterstützt lediglich von Marios britischer Zurückhaltung. Ich sah, wie Raimondo in Spinells Richtung unheimlich vielsagend und feurig mit gesträubten Brauen winkte, und beschloß für mein Teil, Sabina mit a's Befähigung zu testen, indem ich sie einen Manhattan mixen ließ.

 

Drei

Am nächsten Tag war Sabina mit a offenbar schon voll angelernt. Sie hantierte höchst geläufig mit den Pilsgläsern im Spülbecken, daß es ordentlich spritzte, und begrüßte mich ohne allzu bestimmtes Wiedererkennen, als ich den selben Barhocker wie am Tag zuvor erklomm. Bei näherem Hinsehen war sie doch nicht blond, sondern hatte fast noch die gleiche Haarfarbe wie in Naß. Im Falle sie Gel verwendete, war die Farbe also die reine Masche, aber sonst war die ganze Sabina mit a recht hübsch. Man konnte sich als Gast in sie verlieben. Was wichtig ist für den Umsatz.
      Mario zapfte verbissen an diversen Bieren herum. Raimondo schien ebenfalls noch seit gestern hierzusitzen. Sabina mit a unterhielt sich anscheinend schon länger mit ihm.
      "Ja, und dann bin ich natürlich zu Hause rausgeflogen", erzählte sie gerade. Raimondo strich sinnend seinen Torerobart.
      "... und hast dir schleunigst eine Bleibe für die Nacht gesucht. Und hast dich anschließend eine Zeitlang als Bedienung durchgeschlagen. Irgendwann ist dir ein Wirt frech gekommen..."
      "Bloß einmal", lachte Sabina mit a auf, "so ein alter Nazi ausm Ruhrpott. Ist aber schon länger her."
      "... und hier war das Angebot auf eine Stelle mit Unterkunft, und du guckst halt weiterhin, ob du nicht in der Gastronomie was werden kannst, weil dir deine Freiheit was wert ist."
      "Menschenkenntnis für Anfänger, Teil eins", sagte Sabina mit a, war jedoch sichtlich beeindruckt. "Du sprichst klasse deutsch, übrigens!" Sie schaffte es, fast in jedem Satz ein kursives Wort unterzubringen.
      Raimondo grinste zweireihig in Schwarzweiß: "Sagt jeder. Und dabei hast du mich noch nicht mal spanisch reden hören."
      "Na, das hätte viel Wert", versank Sabina mit a ihrerseits geschmeichelt im Spülbecken.
      Die Tür schlich auf, ein trat Spinell und stampfte sich Schneefladen von seinen Wanderschuhen. Wie üblich erkannte er mich nicht, auch als er den Barhocker neben meinem einnahm. Wir beide waren noch nicht dran, denn Sabina mit a verschwand vorerst irgendwo in den Tiefen des Nimmerland und trug Marios Tablett voll Bier aus. Spinell grinste verstohlen in sich hinein und nestelte mit etwas Papierenem in seiner Innentasche.
      "Und was wollt ihr zwei Hübschen?" wischte Sabina mit a plötzlich wieder mit einem riesigen Spültuch die Theke vor Spinell und mir frei.
      "Mach mir doch mal einen Manhattan", sagte ich hinterlistig.
      Sabina mit a zuckte mit keiner Wimper: "Mit Jacky oder Canadian?"
      "Wie du ihn selber auch am liebsten magst. Hauptsache doppelt."
      Spinell ließ sich zu einem Cappuccino herab.
      Mein Experiment mißlang. Mario übernahm meinen Manhattan. Mit kanadischem Whiskey, der sich mit -ey schreibt, und immerhin mit dem notwendigen Schuß Angostura. Als Sabina mit a Spinell seinen Cappuccino hinstellte, zerrte der mit einem Ruck ein auf A6 gefaltetes Blatt Papier aus der Brusttasche und reichte es ihr. Sabina mit a nahm es verwundert an sich und entfaltete es, ohne auf Spinells Erklärungen zu warten. Während sie beiläufig die Kaffeemaschine wienerte, las sie ernst darin.
      "Das ist lieb" sprach sie dann gedämpft zu Spinell, "ein Gedicht ganz allein für mich."
      "Ganz allein" sagte Spinell und vergaß vor lauter Aufregung seinen Milchbart vom Cappuccino abzuwischen. Ganz sicher fragte er auch, wie es ihr denn gefiele. Ich aber süffelte an meinem Manhattan, und als ich wieder aufschaute, fand ich statt seiner selbst ein Fünfmarkstück neben Spinells Tasse. Mario bediente im Moment alleine. Pächter müssen mundfaul und verdrossen bedienen, sonst werden sie nicht ernst genommen. Ich bestellte etwas möglichst Ordinäres.
      "Wo hast du denn deinen neuen Sonnenschein gelassen?" fragte Raimondo hinter mir zu Mario hinauf.
      "Die hat Pause", sagte Mario mit angenehm eingetrübtem "au": "Pouse".
      "Und darf sich selbstverständlich selbst aussuchen, mit wem sie ihre Freizeit verbringt."
      "Right."

 

Vier

Ich hatte in diesen Tagen Sorgen, zu denen mir nichts anderes einfiel, als täglich ins Nimmerland zu wandern, und war deshalb am nächsten Nachmittag schon wieder da. Mir konnte nämlich blühen, meinen Arbeitsplatz im weiteren Verlauf meines Lebens an unbestimmte Stellen Gesamteuropas zu verlegen - oder ihn ganz zu verlieren. Ich fürchtete dabei etwaige Meinungen, daß die doofen Deutschen den Einheimischen die ganzen Arbeitsplätze wegnähmen und all den gefährlichen Blödsinn, der damit zusammenhing und andersherum auch hierzulande passieren konnte. Da wollte ich im Nimmerland gern noch ein bißchen Heimat inhalieren. Redete ich mir zumindest ein.
      Raimondo und Spinell saßen heute am selben Tisch und unterhielten sich angeregt. Raimondo führte Wort, indem er immer wieder mit spitzem Finger auf Spinells Schulter einstach. Und sein Rrr kullerte heute besonders kriegerisch unter der Decke herum. Spinell, dem ein einsamer Haarstrubbel malerisch in die Höhe wippte, ließ es geschehen.
      "Grüß dich!" wischte Sabina mit a feuchten Spültuchs die Theke vor mir ab, "doppelten Manhattan für dich?"
      Und ich fühlte mich wie bei Muttern.
      "Ooooch", stellte mir Sabina mit a so zügig meinen Manhattan hin, als hätte sie ihn seit einer Stunde bereitstehen gehabt, "was bedrückt dich denn?"
      O je. Man sah es mir also schon an der Nasenspitze an.
      Ich begann halb von meinen Sorgen zu erzählen, halb hörte ich Raimondo und Spinell beim Diskutieren zu. Von Spinell schnappte ich ein paar Fetzen auf wie "Aber ich hab doch gar nicht...", "... nehm sie dir doch nicht weg", und von Raimondo immer nur ein paar geknurrrte Widerreden.
      "Der hiesige Markt für Übersetzer ist gesättigt", erzählte ich Sabina mit a. "Wenn überhaupt, dann werden Muttersprachler gesucht, und ganz bestimmt keine für Deutsch."
      "Du läßt deine Grrriffel von ihr", raunte Raimondo an Spinell. "Wenn überhaupt, kannst du dir eine heiße Milch mit Honig bestellen."
      "Man müßte also Native Speaker werden, aber deichsel das mal, wenn du im Studium nie Kontakte über die Kreisstadt hinaus geknüpft hast."
      "Jedes Worrrt darrrüber hinaus brrringt dich der Intensivstation näher! Gedichte! Daß ich nicht müde grrrinse!"
      "Und selbst wenn man irgendwo unterkommt, wie ergeht es einem da? Haben die Leute dort bloß auf dich gewartet? Oder ziehen sie dir wie bei uns auch mit dem Baseballschläger den Scheitel nach, bloß weil dir die Augen zu weit auseinanderstehen?"
      Spinell war entlassen. Er stand schwankend auf und quälte sich in seinen Anorak. Sabina mit a schaute mir in die Augen und nickte weise:
      "Ich weiß wie das ist, ich bin selber keine Deutsche."
      "Nicht??"
      "Nö. Ich bin großskandinavisch aufgewachsen. Mutter Schwedin, Vater Finne, und mein Ururältervater hat in der Vatnajökull noch Walfischfilets mit Robbenspeck eingenäht. Da hab ich geglaubt, in so einem Elternhaus sind sie ein bißchen kosmopolitischer. Hab ich geglaubt. Das hat sich aber spätestens gegeben, als ich mit einem Ägypter angeschoben bin. So gründlich ist noch nie jemand aus dem Kinderzimmer gegrault worden."
      "Da bist du natürlich zu Hause rausgeflogen und hast dir schleunigst eine Bleibe für die Nacht gesucht", versuchte ich mich in Menschenkenntnis. Ich war mal Taxifahrer.
      "Das hast du vom Raimondo!" lachte Sabina mit a. "Du glaubst, ich merk das nicht, wenn du unsichtbar an der Theke festwächst und sooolche Lauscher nach allem ausfährst, was dich nix angeht."
      Daraufhin konzipierte ich einen Langzeitversuch, wieviel Angostura Sabina mit a in den Manhattan tat.

 

Fünf

Von der darauffolgenden Nacht im Nimmerland erfuhr ich als erstes aus der Zeitung. Was ich darüber vor Ort hörte, widersprach sich dermaßen, daß ich auch nicht schlauer wurde. Als braver Bürger, der ich zu bleiben versuche, war ich natürlich gegen Polizeistunde nach Hause gegangen. Andere dagegen müssen dann erst richtig losgelegt haben.
      In der Zeitung fand man etwas Gewäsch über Handgemenge zwischen Gastarbeitern verschiedener Nationen, Ruhestörung und Rassismus - also nichts. Im Nimmerland forschte ich nach Genauerem. Ein vollbärtiges Glasauge, das in eine Art Sofadecke gewickelt war, wußte alles darüber. Er erzählte mir, Spinell wäre nach Polizeistunde vor dem Fenster aufgetaucht und hätte zugeschaut, wie Sabina mit a Abrechnung schrieb: Stellt sich nachts um halb zwei vor die Kneipe und heult den Mond an. Und wie er da so ein paar Minuten stand und gaffte, wäre plötzlich, keiner weiß woher, der Raimondo dazugekommen und hätte ihm ein paar auf die Lichter gehauen.
      Bei dem Gerangel sind die zwei wohl dem Caféfenster ein Stück zu nahe gekommen und haben ihm einen Sprung von rechts unten bis links oben verpaßt. Sabina mit a drinnen hat gar nicht groß die Polizei gerufen, weil sie die zwei ja kannte, sondern ist selber raus auf die Straße: was das soll. Plötzlich hatte Spinell ein Messer in der Hand - und ob ich auch was spenden will für den Kranz für Sabina mit a.
      Der glasäugige Vollbart klimperte mit einer gebräunten Fehlfarbenkiste, in die er oben einen Schlitz gesäbelt hatte.
      Andere Versionen wollten Raimondo statt Spinell, eine ganz verwegene sogar Sabina mit a das Messer in die Hand drücken, alles zu eiskaltem Vorsatz oder zu einem bedauerlichen Unfall erklären. Manche suchten das Motiv in unerwiderter Liebe, manche in landsmannschaftlichen Ressentiments. Eine kühle Halbschwedin, ein heißblütiger Spanier und ein... was eigentlich?: Österreicher?..., also jedenfalls konnte das ja nicht gutgehen. Schließlich wäre ein Café eine Kneipe und nicht die EU-Vollversammlung. Spätestens ab hier fand ich die Diskussionen darüber etwas müßig und stieg grundsätzlich aus.

 

Sechs

Niemand war auf Sabina mit a's Beerdigung gewesen, weil sie in einem Kaff hinter Helsinki bei ihren Eltern stattfinden sollte, wohin angeblich ab und zu ein Überlandbus pendelte. Spinell und Raimondo verkehrten beide noch im Nimmerland, kannten einander aber ums Verrecken nicht mehr. Der eine lachte nicht mehr zweireihig in Schwarzweiß, der andere salbaderte keine Gäste mehr voll. Der diagonale Sprung im Fenster mahnte alle einsamen Wölfe zu gesittetem Benehmen.
      Meine Manhattanphase war von Guinness abgelöst worden. Zwar schmeckt Guinness wie gebrauchtes Spülwasser, man hat aber einfach mehr in der Hand dabei. Draußen schien eine fahle Abendsonne auf schmutzgraue Schneereste, und vor der Tür hielt ein Taxi. Wir einsamen Wölfe reckten uns die Krägen darnach aus. Ich glaubte's einfach nicht, wer aus dem Taxi stieg: Sabina mit a.
      Diesmal hatte sie nur einen Rucksack dabei. Niemand sprang ihr zur Hilfe, als sie ihn beidarmig voraus durch die Cafétür zwängte.
      "Hi. Schönen Urlaub gehabt?" putzte Mario mal wieder Pilsgläser.
      "Super!" atmete Sabina mit a munter kalte Luft ins Nimmerland. "Ich versteh mich wieder mit meinen Eltern! Aber du, du könntest mal mit dem Glaser deines Vertrauens reden, Chef."

 

Sieben

"Einen Manhattan", rief jemand heiser. "Einen doppelten!"

Café Europa

1