Als ich einmal zur Arbeit fuhr
Mein schönstes Semesterferienerlebnis
Ich nahm es als ein weiteres Zeichen dafür, dass er auf dem tiefsten Punkt seines Lebens angekommen war, als ich jetzt zum erstenmal in seiner Prosa unbeholfene, schlecht geschriebene Sätze fand.
Keith Abbott über Richard Brautigan
Eins: 5 Uhr 23 ab Rothenburger Straße
Der Junge fiel mir erst ein paar Wochen auf, nachdem ich den Job angetreten hatte. Nicht, dass er irgendwas mit dem Job zu tun gehabt hätte. Er kam einfach irgendwo im Bus vor.
Zu so ungefrühstückter Stunde wundere ich mich allenfalls, wie ich es schaffe, immer wieder in den richtigen Bus einzusteigen, der mich zum ausgerechnet Arbeiten trägt; dabei auch noch die Augen offenzuhalten, wer sonst noch mitfährt, darf niemand von mir verlangen.
Der junge Bursche versah offenbar einen Job im selben Industriegebiet wie ich und alle, die hier jeden Tag so kurz nach Mitternacht einsteigen mussten. Mehr als wir anderen schien er sich täglich darüber zu wundern, denn er trug eindeutig den Blick des aufgescheuchten Karnickels. Mein eigenes Erstaunen darüber, wie ich doch immer wieder meinen Arbeitsweg bewältige, äußert sich nie viel anders als in Weiterdösen; der junge Bursche dagegen musste wohl allmorgendlich brutal auf seine Reise gescheucht werden. Genau so etwas sah man ihm nämlich an.
Eines Morgens hatte er mir gegenüber Platz gefunden und schwankte gehetzt im Takt des hoppeligen Teers hin und her. Einzelne Lichtstreifen von den Straßenlaternen tasteten seinen ganzen Leib in regelmäßigen Abständen von unten bis oben ab. Niemandem ist so etwas besonders geheuer. Ihm jedoch tat es offenbar ausgesprochen weh. Er wartete wie jeden Morgen ab, wie ihm geschah.
Zwei: Ich döste
Zu den Stammfahrern gehörte offenbar auch ein etwas fettiger Großgewachsener mit einem borstigen, hellroten Haarkranz. Wie alle Orangehaarigen war er im Gesicht wenig oder geradeweg durchsichtig behaart: Der Mann hatte weder Augenbrauen noch Wimpern und leuchtete allein mit seinem wenigen Haupthaar, woraus seine Glatze die Deckenbeleuchtung widerspiegelte. Ein bisschen sah er drein wie ein rohes Spanferkel - oder böswilliger: wie ein Idiot.
Jeden Morgen, beobachtete ich, kaufte er sich vom Kiosk an der zentralen Bushaltestelle eine Tüte mit zweidrei Brezen, Zuckerschnecken oder Bamberger Hörnchen. Nie hatte er eine Tasche oder sonst etwas dabei, was man gemeinhin mit zur Arbeit nimmt. So beutelte er seine Brezentüte ständig ganz nackt in der Hand.
Manchmal schlenderte er extraverwegen mit einer echten Marlboro, die er sich mit fünf Mark gekauft hatte und die auffiel zwischen seinen Fingern, vor der ganzen Buslänge auf und nieder und blies seinen Rauch mit sichtlich schlechtem Gewissen in die immer noch dunkelgraue Luft, weil ihm seine Mami sowas nicht erlaubt hatte.
An manchen Tagen begann das Spanferkel schon im Bus raschelnd von seinen Hörnchen zu knuspern. Das sah jedesmal so aus, als naschte das seit Jahren zu fett gestillte Baby von dem Futter, das Mami ihm eingepackt hatte, und sich so um sein Mittagessen fraß.
Heute saß er mit mir in einer Reihe mit dem Burschen mit Kaninchenblick und schmatzte laut aus seiner Papiertüte einen glänzenden Krapfen, von dem Fladen von Zuckerglasur aufs Papier tropften. Der Junge schielte wie immer angstvoll zur Gegenreihe hinüber. So war er, er konnte nun mal nicht anders dreingucken.
Drei: Zuckerglasur rieselte
Der Rote merkte was, so dass ihm sogleich der Mund mit großen, weit auseinanderstehenden Hauern darin über seinem Krapfen offen stehenblieb.
"Was guckst denn so blöd?!" fuhr er den Jungen über den Gang herüber an, Brösel um die Lippen. Und eine Nummer zu laut: Alle Fahrgäste machten schon Satellitenschüsselohren.
Der Junge wusste nicht recht, was antworten. Für diese Uhrzeit hatte er nur gelernt, reibungslos zur Arbeit mitzufahren und an der richtigen Stelle auszusteigen, solche Ausnahmezustände waren da nicht mit einprogrammiert. Er guckte womöglich noch ein bisschen panischer als normal zu dem Roten hinüber. Bei ihrem Blickkontakt sah ich seine Augen nach unten wegflackern, als ob ihn der andere mit einem Stock im Gesicht getriezt hätte. Der Arme.
"Ich guck wie ich will", maulte der Junge sehr schnell verlegen in seinen nicht vorhandenen Milchbart hinein.
"Werd noch frech!" kam es viel lauter zurück. Der Rote sprach tatsächlich erstaunlich sonor und geläufig, so ganz überhaupt nicht wie ein Idiot.
"Idiot", murmelte der Junge und wollte mit einem Kopfruck in Ruhe zu seinem Busfenster hinausschauen. Niemand rechnete damit, was jetzt geschah.
Vier: Zivilcourage
Der Rote ließ Krapfen samt Tüte sausen, machte einen Satz zu dem Jungen herüber und haute ihm eine ins Gesicht, dass es schallerte.
Fast hätte er mich mit erwischt, nur sprang ich auf und und wich ein paar Sitzreihen rückwärts, damit sich die zwei Hübschen nicht ausgerechnet auf meinem Schoß raufen mussten. Tatsächlich hatte der Junge zurückgehauen. Jetzt standen die zwei mitten im Gang und balgten sich und hießen einander üble Dinge, als ob sie sich seit Jahren kannten, und schlimmer.
Die anderen Fahrgäste versuchten immer noch krampfhaft wegzuschauen. Erst war es so still außerdem, dass man nur der beiden Schuhsohlen auf dem Busboden schleifen hörte, und öfter knurrte der eine, und der andere rief: "Au!"
Manche Mitfahrer schimpften vor Schreck empört mit. Über dem ganzen Tumult sagte der Busfahrer über Lautsprecher irgendwas durch und verfiel in Schlangenlinien, dass alles ordentlich durchgeschaukelt wurde. Ich fürchtete um den Gegenverkehr und war auf den Sitz neben einer blondlockigen Speditionskauffrau im dritten Lehrjahr und hellem Jeansanzug geplumpst, die nur ängstlich nach vorne auf das Geschehen stierte.
"Iiiiii", presste sie durch ihren rosa Lippenstift, "wie sind den diiie drauf!" Das ließ mich die Lage bereits etwas entspannter betrachten.
Niemand ging dazwischen, alle schauten gelähmt zu. Ich selbst entschuldige mich damit, dass ich denkbar belustigt abwarten wollte, wie die Kabbelei da vorne ausging, in der Busgemeinschaft nahm ich die Rolle dessen ein, der dem Gemenge knapp aber glücklich entronnen war.
Fünf: Unter dem Milchwald
Bis endlich der Fahrer seinen Bus scharf niederbremste und auf offener Strecke anhielt: Zischschsch! Die Streithammel kippten von dem Schub um und fetzten sich im Liegen weiter. Ich hörte noch ein paar Ohrfeigen patschen, und dann pfitschten die Türen auf und ich machte mit allen anderen, dass ich rauskam. Als ob der Busfahrer das über Lautsprecher angeordnet hätte.
Da standen wir im anthrazitfarbenen Morgengrauen bei Wind und Tau. Von zwei Horizonten glommen die Lichter der Stadt und ihrer Peripherie, in die wir wollten: Die Bushaltestellen lagen sehr weit auseinander auf dieser Landstrecke. Wir stampften mit verschränkten Armen von einem Fuß auf den anderen und beobachteten den Dampf von unserem Atem und den Bus, wie er immer noch hin und her ruckelte von der Schlägerei innen. Nur der Busfahrer saß noch drin auf seinem Hochsitz und plauderte lebhaft in einen Knubbel mit einer Telefonschnur dran hinein.
"Noch einmal zu spät, dann is die Abmahnung", brummte einer unter uns. Zwei Frauen rechts und links von mir nickten wissend und schauten zu, wie ihr Atem ihre Anoraks hinunterdampfte. Etwa sieben Begrenzungspfosten weiter blinzelte uns das Licht in einer Metzgerei an.
"Du projizierst ja ganz hallo!" merkte Gabi an.
Sechs: There's nothing wrong with going nowhere slowly but we should be going nowhere fast
"Ich projizier überhaupt gar nix, ich sublimiere", verteidigte ich mich, "wie ein jeder tut, so Geschichten erzählt."
"Der is mir wurscht, dein Vater Freud", urteilte Gabi mich ab, "jedenfalls warst du im Bus in einer Prügelei und schiebst die Schuld der Allgemeinheit zu, dass du nix dagegen unternommen hast. Feigling wie alle andern."
Den Feigling hatte ich überhört - "und", zeigefingerte Gabi mich an, "und außerdem hast du's schon wieder mit den Mädels."
"Mädels...?" grübelte ich scheinheilig mein Konzept durch.
"Na deine Azubine da im hellblonden Jogginganzug mit rosa Lippenstift oder so..."
"Mäßig gut aufgepasst!" lobte ich Gabi. "Die war aus dramaturgischen Rücksichten einfach notwendig. Ich brauchte noch einen Taktschlag im Rhythmus..."
"Dramaturgisch! Possen!! Du fängst mal wieder schwach an und lässt stark nach, Burli Burli", strubbelte sie mir in der Frisur, als ob ich eine hätte, "und tut man so Geschichten erzählen, tut man das so?"
Wusste ich nicht. Ich erzählte Geschichten immer so, wie sie sich mir auf die Leber legten. Das wollte ich Gabi auseinandersetzen, stattdessen knurrte ich nur knapp, teils wohlig vom Strubbeln. So brillant wie sie selbst in ihren weniger hellen Augenblicken argumentieren kann: Koketterie wird sie nie kapieren.
"Eben, Bursch", fuhr sie deshalb fort. "Und bei deiner ganzen Darstellung vom ach so normalen Arbeitsvolk sind mir deine Typen zuwenig dreidimensional. Deine Figuren bleiben halt immer bloß Figuren, die haben kein Leben. Das Spanferkel! Der Rote! Der Junge! Der junge Bursch! Deine Buben haben grade soviel Geschichte wie merkbare Namen! Wen sollen die interessieren?"
"Dich zet Be, wenn ich dir's schon erzähl?" überlegte ich, jetzt sogar ernsthaft, "oder gar mich?"
Sieben: Die Frauen bleiben bloßes Zubehör ohne Funktion für die Handlung
"Jaah. Dich. Weil du's erlebt hast. Hast du wahrscheinlich noch nicht mal, so wie du's erzählst. Oder mich. Toll. Sag ich doch, dass du saumäßig projizierst. Dafür fehlt mir aber der soziale Bezug. 'Mein Besinnungsaufsatz: Als ich einmal zur Arbeit fuhr' oder was. Untertitel: 'Mein schönstes Semesterferienerlebnis'! Schreib lieber mal was über die Arbeitslosigkeit, du Fabeltier."
Und dieses gönnerhafte Tätscheln konnte ich genaugenommen auf den Tod nicht leiden.
Acht
Ich seufzte und spitzte meinen dunkelgrünen Faber Castell Stärke HB unnötigerweise gleich nochmal.
Noch 1 Versuch