© Karawynn Long, 1992

 

Der Mond hängt schief

 

Melanie streckte die Hände vor sich aus. Sie sahen genau aus wie ihre echten Hände, bis hin zu dem Daumennagel, den sie sich diesen Morgen abgebrochen hatte. Sie bog und streckte die Finger ein paar Mal, folgte der Bewegung und wirbelte dann, so schnell sie konnte, die Hände durcheinander. Natürlich hatten die Techniker ihr versichert, dass alles völlig realistisch würde und ganz ohne Zeitverzug, aber immer noch war Melanie überrascht, wie Recht sie hatten.
     Als sie ihren übrigen Körper hinunterblickte, sah sie, dass sie barfuß war, in kurzen Jeans und T-Shirt – ihre typische Feierabendkluft. Das T-Shirt war ein altes von Jason, ein Andenken von einem Ausflug nach Disneyworld. Auf der Brust schwebte eine fröhliche Micky Maus in rot-weißem Raumanzug und Raumfahrerhelm herum.
     Melanie durchquerte das Zimmer und fühlte, wie sich ihre Schenkelmuskeln bei jedem Schritt spannten und die Füße ganz leicht in den Teppich einsanken. Sie hatte ganz vergessen, wie schön das war. Alles sah ganz normal aus – fast glaubte sie, dass sie wie gewöhnlich nach der Arbeit nach Hause gegangen war. Sie strich im Vorbeigehen mit der Hand über die Sofalehne; es schien ihr, als ob sie jeden einzelnen Faden im Gewebe fühlen könne.
     Sie öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer und knipste das Licht an. Es war ihr Schlafzimmer, bis hin zu der Sammlung alter Bücher, alphabetisch geordnet auf den Regalen.
     Ihre kleine Ansammlung sonnenliebender Pflanzen stand auf dem Fensterbrett aufgereiht, scheinbar lebendig und jedes einzelne Blatt so, wie sie es kannte. Sie streckte die Hand nach der Messskala neben dem Fenster aus. Das Plastik war hart unter ihren Fingerkuppen, sogar ein bisschen kühl. Sie war auf "Durchscheinend" gestellt, und sie drehte sie ganz bis nach "Durchsichtig" herum. Draußen kam vage das Rasenstόckchen in Sicht, das ihr als Hinterhof diente, und dann noch ein paar Sterne, aber sonst veränderte sich wenig.
     Es fühlte sich irgendwie falsch an, und plötzlich fiel Melanie auch ein, warum: Sie hatte sich das Zimmer so vorgestellt, wie es in jener letzten Nacht war. Der Mond war's, der fehlte. Sie war fast noch eine Stunde wach gelegen, als Jason schon schlief, und betrachtete das Licht, das auf seinen Gesichtszügen lag und über seine bloße Schulter wanderte. Die Erinnerung tat weh in der Brust.
     Sie drehte sich vom Fenster weg und knipste das Licht aus. Ihre Augen brauchten etliche Sekunden, um sich umzugewöhnen, und sie streckte die Hände ganz niedrig vor sich aus, um nicht im Finstern mit dem Schienbein gegen das Bett zu stoßen. Sie fand die Tagesdecke, drehte sich herum und setzte sich. Ein leichtes Beben lief über das Bett und zurück und schwang in kleinen Wogen aus. Melanie schaute aus dem Fenster.
     "Da sollte der Mond scheinen", sagte sie laut und erschrak verschüchtert ein bisschen vor der Lautstärke in dem leeren Zimmer: "Fast voll und sehr hell." Zwischen zwei Augenaufschlägen erschien ein Mond mitten am Himmel. Sie blickte auf das schräge Rechteck aus Licht auf dem Bett nieder, dann wieder hinauf, und runzelte die Stirn. "Erstens vielleicht ein bisschen höher, und außerdem abnehmend. Es war letzten Freitagabend, gegen sieben, wenn Ihnen das hilft." Der Mond fuhr in einem leichten Bogen aufwärts. "Okay."
     Dann stand sie auf und ging zur anderen Tür hinüber, ins Badezimmer. Eine Armee Duftwässer und Kosmetika stand auf der Konsole aufgereiht, seine und ihre wild durcheinander. Zwei Zahnbürsten lagen neben dem Waschbecken herum. Auch in ihrer richtigen Wohnung waren sie noch da: Er hatte noch eine zweite und sich beim Gehen nicht die Mühe gemacht, sie mitzunehmen. Und natürlich war er auch nicht wieder zurückgekommen.
     Ihre Augen wanderten zu ihrem Spiegelbild hinauf. Braunes Haar, braune Augen, undefinierbare Nase, Brüste kaum vorhanden. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, etwas zu verändern – rötliche Haare vielleicht, oder größere Titten – schüttelte aber dann den Kopf. Das hätte sich fremd angefühlt, und Jason gefiel sie gut genug, so wie sie war – jedenfalls früher. Vielleicht kam sie ein anderes Mal wieder und konnte spielen, einfach um zu sehen, wie das war. Sie schnitt sich selbst eine Grimasse und grinste. Das hatte im Spiegel schlimm genug ausgesehen; wie es für die Techniker aussah, wenn sie um ihren zuckenden, Grimassen schneidenden Körper im verstellbaren Sessel herumstanden, konnte sie nur ahnen.
     Sie ging zur anderen Tür hinaus und stellte sich knapp neben die Küche, um ihren Blick noch einmal rund über die ganze Wohnung schweifen zu lassen. "Also gut", sprach sie zur Decke. "Lasst ihn rein."
     Eine ganze Weile passierte überhaupt nichts, sie wurde schon stutzig. Dann hörte sie eine Stimme, ganz schwach, von vor der Haustür her. Schlösser schnappten als Antwort auf die Identifikation auf. Nach einem kurzen Schrecken atmete Melanie auf. Irgendwie hatte sie erwartet, dass er einfach erschien. So wie der Mond.
     Statt dessen kam Jason wie immer durch die Tür spaziert und schubste sie mit dem Fuß hinter sich zu. Er stellte die zwei Leinen-Einkaufstaschen auf dem Esstisch ab und grinste sie an. "Hi!" sagte er und begann Gemüse aus einer der Taschen zu zerren. "Du hast ja noch nicht gegessen, oder?"
     Melanie starrte ihn nur an. Seine Bewegungen, sein Tonfall, sein Gesichtsausdruck – alles tadellos. Irgendwie war dieser Realismus an einem Menschen verstörender als an ihren Möbeln.
     Jetzt reagierte er auf ihre Sprachlosigkeit, drehte ihr den Kopf zu und runzelte zweifelnd die Stirn. "Geht’s dir gut, Schatz?" Sie gab immer noch keine Antwort. Da ließ er die Lebensmittel liegen, kam zu ihr hinüber und schloss sie beschützend in die Arme. "Was ist denn?"
     Sie erwiderte die Umarmung geradezu reflexartig. Seine Rückenmuskeln unter dem Baumwollhemd bewegten sich vertraut, als er ihr das Haar streichelte. Er roch sogar wie Jason. Die Feststellung brachte sie gefährlich nah daran, in Tränen auszubrechen. Sie hatte ihnen die Marke seines Rasierwassers, seiner Seife und seines Shampoos verraten, aber da war noch etwas darüber hinaus, ein Original-Jason-Duft, den sie nicht festmachen konnte. Darum hatte sie auch nicht gedacht, dass er wiederzugeben wäre.
     Aber er war da. Sie atmete zittrig noch einmal ein. Jason zog sich zurück, schaute sie an und lächelte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Er berührte ihre Wange sachte mit einer Hand, und sie schloss die Augen halb, als sie die vertraute Berührung spürte. Dann beugte er den Kopf und küsste sie sanft auf den Mund – einmal, und dann noch einmal fester. Er hob die Hände, um ihr Gesicht zu stützen, und sie fuhr mit ihren ruhelos über seine Brust.
     Eine unbestimmte Zeitlang gab sie einfach den Kuss zurück und schmolz in den vertrauten Abläufen und Empfindungen. Ein warmes, sexuelles Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus – was nur jemals passiert war, wenn Jason sie küsste, bei niemand anders. Dann begann sich ein kleiner Teil ihres Gehirns zu fragen, wie so etwas je programmiert werden konnte, was sie kurz gegen die Wirklichkeit aufbrachte. Schroff befreite sie sich aus dem Kuss und starrte den Menschen vor sich an. Er sah aus wie Jason, bewegte sich wie Jason, roch wie Jason. Sogar ihr Körper hatte sich täuschen lassen, und einen Augenblick hatte sie es vergessen...
     "Weg", sagte sie und drehte ihm den Rücken zu. Er schaute sie verwirrt und besorgt an. Bestimmt fragte er sie gleich, was los war, und hab ich denn was falsch gemacht, und das könnte sie jetzt nicht ertragen. "Hör schon auf, lass mich los!" sagte sie mit erhobener Stimme. Sie hob die Hände an die Augen und zerrte an der Brille, die da sein musste, obwohl sie keine sah, keine fühlte –
     Unvermittelt war sie weg, mit ihrer Wohnung, mit Jason... Sie blinzelte langsam. Ein technischer Angestellter stand rechts neben ihr mit ihrem Kopfaufsatz in der Hand. Er lächelte ihr beruhigend zu. Hinter der Operationsleiterin, die links neben Melanie saß, stand noch ein Techniker. Beide überwachten eine komplizierte Anhäufung von Bildschirmen und Terminals, und die Leiterin sprach leise etwas in ein Handmikrophon. Sie wirbelte ihren Stuhl herum und lächelte Melanie an.
     "Ich weiß, dass es ein leichter Schock ist, wenn man wieder rauskommt", sagte sie mitfühlend. "Entspannen Sie sich ein bisschen."
     Der Techniker ohne Kopfaufsatz verließ den Raum und kam nach einer Weile mit einem Becher schwarzen Kaffees zurück. Er hielt fragend eine Packung Süßstoff hoch, und Melanie schüttelte den Kopf. Vorsichtig nahm sie den Becher und hielt ihn mit beiden Händen; mit den Drähten in den Handschuhen konnte sie nicht ganz sicher zugreifen. Die heiße Flüssigkeit beruhigte sie wieder etwas. Sie machte die Augen zu und schlürfte dankbar.
     Als sie sich ein bisschen gefestigter fühlte, schaute Melanie wieder auf. "Sie haben ja ganz schön geschrien, als wir Sie rausgeholt haben", sagte die Leiterin. "War mit der Simulation was nicht in Ordnung?"
     Melanie schluckte Kaffee und schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht deswegen. Ich hab nur nicht erwartet, dass es so – na ja, so echt wird. Es war... beunruhigend", sagte sie. Und das war noch untertrieben.
     "Es erwartet kaum jemand. Wir sagen es jedem, aber die Werbung ist ja heutzutage dermaßen haarsträubend und übertrieben – keiner nimmt uns richtig ernst." Sie zuckte die Schultern. "Heute sind wir endlich an einen Punkt gekommen, an dem man zwischen der virtuellen und der echten Welt keinen Unterschied mehr wahrnimmt."
     "Hab ich gemerkt... Er roch genau wie immer – ich meine, so wie der richtige Jason", sagte Melanie. "Nicht nur dasselbe Rasierwasser, sondern sein Eigengeruch."
     Die Leiterin nickte wissend. "Unsere Nase nimmt Gerüche immer sehr komplex und unterschiedlich auf, aber man kann jeden auf eine denkbar einfache chemische Formel zurückführen. Deswegen verlangen wir einen ungewaschenen Kopfkissenbezug oder ein Kleidungsstück von dem Betreffenden – damit unser Labor die chemischen Bestandteile in seinem speziellen Körperduft analysieren kann. Über neunzig Prozent davon sind bei allen Menschen Standard, noch mal sechs bis sieben Prozent kommen bei allen Männern vor. Es ging nur noch darum, die restlichen drei Prozent zu benennen und in unseren Grundstock zu mischen."
     "Aha." Sie wollte auch nach dem Kuss fragen, aber sie ahnte nur zu deutlich, dass die beiden Techniker dabei lauschten. Wie das wohl ausgesehen hatte, wenn sie einen Zungenkuss in die Luft gab? Wahrscheinlich hatten sie das – und Schlimmeres – schon vorher gesehen, aber das half nicht gegen ihre Verlegenheit.
     "Und finden Sie jetzt noch etwas an der Simulation, was Sie zurechtrücken wollen, bevor ich sie abspeichere?"
     Melanie dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. "Eigentlich nur den Mond."
     "Ja. Das müssen Sie entschuldigen. Ich wusste nicht, dass Sie einen bestimmten Abend nachschaffen wollten, sonst hätte ich das mit einprogrammiert." Die Dame schaute sie an; mehr vorwurfsvoll als entschuldigend, fand Melanie.
     "Wollte ich zuerst auch nicht. Es ist mir erst einfach so gekommen, als ich drin war."
     "Ach so. Nun, wenn das alles ist, können wir Sie ja aus diesem Anzug rausholen."
     Melanie nickte und sah erleichtert, dass die technischen Angestellten taktvoll den Raum verließen. Sie war notwendigerweise vollständig nackt unter dem hautengen Anzug; man brauchte direkten Körperkontakt, um die verschiedenen Tastempfindungen nachzuschaffen. Sie versuchte, den Reißverschluss vorne aufzuziehen, aber mit den Handschuhdrähten konnte sie nicht richtig greifen, und sie musste warten, dass die Leiterin ihr dabei half. Als Melanie erst die Arme frei hatte, drückte die Dame einen Knopf an ihrem Sessel, und das Ganze fing an zu summen und sich nach vorne zu lehnen. Die Beine waren etwas schwieriger, aber schließlich war sie aus dem ganzen Apparillo befreit. Dankbar schlüpfte sie in ihre eigenen Kleider.
     Sie verabschiedete sich von der Leiterin und machte sich auf den Weg durch die Säle zur Eingangshalle, wo sie für den nächsten Abend eine Maschine reservierte und Vorkasse bezahlte. Die Gestalter hatten plump gearbeitet: Das ganze Gebäude war in elegantem Schwarz und Silber gehalten und starrte vor moderner Technik. Die anderen Kunden, die zu Spiegelbrillen und hautengen Anzügen in fließenden Farbübergängen neigten, passten besser hierher. Nur Melanie fühlte sich verzweifelt fehl am Platze.
     Zuerst hatte Jason vorgeschlagen, eins der neuen Videogeräte zu mieten, als Virtuelle Welten vor sechs Monaten eröffnet hatte. Für dergleichen hatte sie sich nie allzu stark interessiert, aber seine Begeisterung war ansteckend, bis sie endlich einverstanden war, es mal zu versuchen. Sie wollten den Mars erforschen, die neueste Simulation im Programm. Nach ihrem letzten Forschungsauftrag hatten zwei amerikanische Astronauten ihre Eindrücke von der Unternehmung an das Unternehmen verkauft. Die so entstandene Programmierung wurde mit "besser als vor Ort" ausgelobt, obwohl es auf dem ganzen Planeten nur vierzehn Leute gab, die den Vergleich vermitteln konnten.
     Für eine so trostlose Gegend gefiel ihr der Mars tatsächlich besser als erwartet; der Himmel war muschelrosa, und der Boden weich und fein wie Zimt. Sie waren zusammen ganz oben auf Valles Marineris gestanden, fünfmal so tief wie der Grand Canyon – und Jason hatte schelmisch gegrinst und sie überredet, mit ihm hinunterzuspringen. Ihre Hände zitterten noch Stunden später, Adrenalin pulsierte durch ihren Körper, obwohl sie verstandesmäßig wusste, dass keine Gefahr bestand. Es war nicht einmal in einem realen Sinne passiert – trotzdem war es eine der eindrucksvollsten und wundersamsten Erfahrungen ihres Lebens.
     Wenn sie damals nicht zusammen hingegangen wären, dachte Melanie, wäre sie wohl auch jetzt kaum auf den Gedanken gekommen, selbst nachdem sie die Werbung für eine "persönliche Gratis-Simulation" bei jeder dreistündigen Anmietung gesehen hatte. Sie hielt sich ganz allgemein von modernen Technologien fern, indem sie zum Beispiel stur ausschließlich akustische Kopfhörer benutzte. In der Schule hatte sie Informatik als Nebenfach belegt – selbst auf einem Gebiet wie Landwirtschaft war das kaum zu vermeiden, wenn man hinterher einen Job wollte – aber sie war immer noch die einzige unter 40 ohne eigenen PC, die sie kannte.
     Aber je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr freute sie sich darauf, wieder in die virtuelle Welt zu tauchen. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig dabei, so als ob es unredlich wäre, mit Hilfe einer Maschine ihren verlorenen Freund nachzuschaffen. Aber die unglaublich lebensnahe Wiedergabe hatte ihr eine Idee eingepflanzt, die sie auf der Fahrt nach Hause näher ausarbeitete. Wenn der virtuelle Jason ganz die gleiche Persönlichkeit wie das Original hatte – und ganz danach sah es ja aus – müsste er doch auf jede Situation reagieren wie der echte Jason.
     Letztendlich, erkannte Melanie, ermöglichte ihr das, die Zeit zurückzudrehen. Sie wusste genau, dass sie ihn irgendwie hätte halten können, wenn sie in dieser Nacht nur etwas anderes getan oder gesagt hätte. In den drei Tagen seitdem war sie es tausendmal im Geiste durchgegangen, wollte es zurückholen, überarbeiten, versuchen, ihren Fehler zu finden.
     Es war deswegen so schrecklich, weil es ganz unangekündigt kam. Wären sie zerstritten gewesen, hätte man auf das alles wenigstens noch gefasst sein können. Aber sie waren glücklich – und irgendwie, dachte sie sarkastisch, hatte sie die Möglichkeit übersehen, dass es genau daran liegen könnte.
     Es war Freitagabend; Jason war vorbeigekommen, und sie hatten sich zusammen Spaghetti zu Abend gekocht und es mit Kerzen und allem richtig schön gemacht. Danach saßen sie eine Weile im Wohnzimmer und unterhielten sich. Das mochte sie mit am liebsten an ihm, dass sie sich miteinander so leicht unterhalten konnten.
     Jason hatte gerade im Mai sein Diplom als Biologe an der Uni von Texas gemacht. Sie hatten sich in einem Kurs in seinem zweiten und ihrem ersten Semester kennen gelernt. Aber im Gegensatz zu Melanie hatte er keine so rechte Ahnung, was er als nächstes anfangen sollte. Sie wollte das Diplom in Bio-Landwirtschaft, und das ganze letzte Jahr hatte sie gespart, damit sie während der Schule nicht Vollzeit arbeiten musste. A&M hatte sie schon eingestellt, und im Herbst sollte sie in die Abschlussklasse aufrücken.
     Jason war ein Jahr jünger und eigentlich noch nie so zielstrebig. Dann hatte er vor ein paar Wochen laut darüber nachgedacht, an einem Gymnasium in der Innenstadt zu unterrichten. Er war in Chicago aufgewachsen, und er wälzte den Gedanken, wieder dahin zurückzuziehen und sich die Zulassung als Lehrer für Naturwissenschaften zu holen.
     Für ihr Teil hatte sich Melanie noch nie etwas aus Großstädten gemacht, und es ging ihr nicht ein, was irgend jemanden dazu trieb, in Chicago zu wohnen. Das war eine schmutzige, verdreckte, hässliche Stadt mit der zweithöchsten Verbrecherstatistik des Landes. Aber ihr war klar, dass Jason seine Stadt liebte. Er geriet so in Feuer, wenn er über seine Ideen sprach: wie er das Interesse der Kinder für sich gewinnen wollte. Sie meinte, er wäre sicher ein toller Lehrer.
     Diese Nacht beobachtete sie im Bett, wie das Mondlicht über seine schlafende Gestalt glitt, und dachte, glücklicher könnte sie nicht sein. Sie liebte ihn – man konnte es nicht anders sagen. Jedes Mal wenn er sie anschaute, meinte sie, es sollte ihr das Herz zerspringen. In seinem Blick stand geschrieben, dass auch er sie liebte – sie wusste es, auch wenn sie es nie erwähnt hatten, und sie waren seit neun Monaten zusammen. Stillschweigend waren sie übereingekommen, die Worte nicht auszusprechen, als ob das der Beziehung irgendwie Unglück bringen könnte. Sie hatten beide schon schlechte Erfahrungen hinter sich.
     Aber diesmal sollte es anders sein – war es anders. Sie wusste noch, dass sie genau das als letztes gedacht hatte, bevor sie neben ihm einschlief. Diesmal war es anders.
     Und irgendwann, ein paar Stunden später, weckte er sie auf, indem er sie seitlich auf den Hals küsste und ihre Brust unter dem T-Shirt liebkoste. Sie wälzte sich herum und küsste ihn wieder, willig genug, obwohl sie noch halb schlief. Es war nicht ihr schönstes Liebesspiel, wahrscheinlich weil sie Schwierigkeiten hatte, ganz aufzuwachen, aber sie war glücklich, ihm einfach nahe zu sein, glücklich, dass er sie haben wollte. Am Schluss kuschelten sie eine Weile miteinander und flüsterten ab und zu dummes, bezugsloses Zeug, an das sie sich später nicht einmal erinnern konnte – wie sehr sie es auch versuchte.
     Schließlich strömte nach einem besonders langen Schweigen seine Stimme in der Finsternis zu ihr herüber. "Ich glaub, ich verliebe mich in dich, Melli."
     Einen Augenblick lang reagierte sie überhaupt nicht, und dann fühlte Melanie ihr Herz in die Kehle hüpfen und einfach stecken bleiben, ohne zu schlagen. Etwas wie Freude begann in ihrem Kopf zu summen. Sie wälzte sich herum und schaute ihn an, versuchte, sein Gesicht zu sehen. "Wirklich?" fragte sie.
     "Ja." Er hob eine Hand und berührte ihre Wange, ließ sie wieder sinken, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. "Und ich bin nicht darauf vorbereitet."
     Sie erstarrte. Und hörte jedes Wort wie einen Stein fallen.
     "Ich meine, in ein paar Monaten wohnen wir wahrscheinlich Tausende von Kilometern auseinander. Ich... fühle mich dir sehr nah, aber wenn wir uns noch näher kommen – wird es einfach zu schwer, dich zu verlassen. Ich will jetzt so was einfach nicht durchmachen."
     Sie war einen Augenblick ruhig, um ihre Worte sorgfältig zu wählen, obwohl sie die Verzweiflung schon heranschleichen fühlte. Noch nicht, dachte sie, das kann er nicht so meinen. "Dann ziehst du also nach Chicago?"
     Er zog den Arm unter ihrem Hals hervor und stützte sich auf einen Ellenbogen. "Ich weiß nicht. Aber irgendwas muss ich unternehmen. Ich... trete hier nur auf der Stelle, und kriege nichts Weltbewegendes auf die Reihe."
     Sie spürte, wie sich das Messer umdrehte. "Was bin dann ich? Nur so eine Laune, mit der du dir die Zeit vertreibst, bis du zu etwas Weltbewegendem weiterkannst?"
     "Nein. Du weißt, dass ich das nicht so meine", antwortete er vorwurfsvoll. "Du hast immer gewusst, wo du hinwillst, was du anfangen willst. Aber ich hab’s eben erst herausgefunden. Und das kann ich nicht aufgeben. Nicht mal darum, um bei dir zu bleiben."
     "Darum hab ich dich auch nicht gebeten", gab sie scharf zurück. "Ich lebte unter dem Eindruck, dass du freiwillig hier seist."
     "War ich auch", beteuerte er. Die Vergangenheitsform fiel wie ein Todesstoß.
     Danach drehte sie sich weg von ihm und lag noch lange Zeit widernatürlich hellwach. Sie hoffte immer noch, dass er die Hand nach ihr ausstrecken werde – sagen, dass er Unrecht habe oder sie auch nur festhalten – aber er rührte sich nicht. Endlich merkte sie an seinem Atem, dass er eingeschlafen war.
     Als sie das nächste Mal aufwachte, war es Morgen, und er war schon aufgestanden und unter der Dusche. Sie tapste verschlafen in die Küche, schenkte eine Tasse Kaffee ein, stellte sich an die Spüle und dachte nach. Sie liebte ihn; nichts, was er gesagt hatte, konnte dem Abbruch tun. Ihr war klar, dass sich ihre Wege vielleicht irgendwann trennen konnten, aber damit konnten sie sich doch bestimmt noch befassen, wenn es schließlich geschah. Nur jetzt wollte sie mit ihm zusammen sein. Das war einzige, was momentan für sie zählte.
     Melanie beschloss für den Anfang, erst mal entfernt wie ein Mensch auszusehen. Sie stellte die Tasse ab und wusch sich das Gesicht im Spülbecken. Dann trieb sie im Schlafzimmer einen Kamm auf und begann ihre langen Haare zu entwirren.
     Damit war sie noch beschäftigt, als er die Tür zum Bad öffnete. Er lächelte sie an, aber irgendwie ohne richtige Wärme. Er bewegte sich angespannt und abgehackt, als er in seine Jeans stieg und sich ein T-Shirt über den Kopf stülpte, verlor aber kein Wort über ihre Unterhaltung.
     Sie wartete, wollte, dass er zuerst sprach und eine Tonart anschlug. Aber als er sich auf die Bettkante setzte, um Socken anzuziehen und dann Schuhe, alles ohne ein Wort, stieg Panik in ihr auf. Sie fürchtete, er werde gleich verschwinden, ohne das Thema auch nur angeschnitten zu haben.
     "Was machen wir jetzt daraus?" fragte sie.
     "Weiß nicht. Woraus denn?" Er hockte über seine Schnürsenkel gebückt und schaute sie gar nicht an.
     "Na ja – ist das jetzt der Abschied für immer?" Sie versuchte mit einem witzigen Unterton in der Stimme zu sprechen, aber es kam barsch und geradezu anklagend heraus. "Sehen wir uns wieder?"
     "Klar siehst du mich wieder." Sein Tonfall unterstellte, dass sie Dummheiten redete. "Mein Gott, wir haben die selben Freunde, Mela – wir werden schwer drum herumkommen. Ich hab nicht gemeint, dass ich dich nie wieder sehen will. Ich glaube nur nicht, dass wir so weitermachen sollten... auf der gleichen Basis wie bisher."
     "Ich verstehe nicht, wie du so was sagen kannst." Aller Frust und alle Betroffenheit, die sie unterdrückt hatte, brachen plötzlich aus ihr hervor. Ihre Stimme drohte zu versagen, und trotz ihrer Entschlossenheit war sie den Tränen nah. "Wie kannst du sagen, dass du dich gerade in mich verliebst, und dann Schluss machen?"
     "Du verstehst mich nicht. Ich bin schon mal verletzt worden, und ich will das nicht noch mal mitmachen."
     "Ich verstehe dich gut. Ich bin auch schon mal verletzt worden – aber das heißt doch nicht, dass ich beim ersten Anzeichen von Zuneigung den Kopf einziehe und Land gewinne." Jetzt schrie sie ihn schon fast an und brach vollends in Tränen aus.
     "Tu ich doch gar nicht." Offenbar wollte er schon weiterstreiten, schüttelte aber dann den Kopf. "Schau mal, mir tut’s ja auch Leid, dass es so hinauslaufen muss. Ich wollte dir wirklich nicht weh tun."
     Sie gab keine Antwort. Wenn sie den Mund aufmachte, schrie sie ihn doch nur wieder an. Natürlich tat ihr weh – das hätte er wissen müssen, und ihm war das egal.
     Nach einer Pause sagte er leise: "Komm, ich muss jetzt gehen. Wir reden später darüber oder so." Er ging an ihr vorbei, und kurz darauf hörte Melanie, wie die Haustür geöffnet wurde und hinter ihm wieder zufiel.
     Er war weg – das traf sie wie ein Schlag vor die Brust, und sie fing wieder an zu weinen, in tiefen, heftigen, quälenden Schluchzkrämpfen, die stundenlang anhielten.

Die nächsten paar Tage schienen endlos. Es half nicht, darüber nachzudenken, aber irgendwie war es das einzige, was sie tun konnte. Mitunter vergaß sie es einen Augenblick, und dann holte die Erinnerung sie desto schmerzlicher ein. Es ging nicht einmal mehr nur um Jason – sie hatte noch nie eine Beziehung gehabt, die gut ausging, noch nicht einmal früher in der Schule, und sie fragte sich, ob sie nicht irgendwo selber dran schuld war. Sie hätte sich selbst ohrfeigen können für ihre defensive Einstellung. Dabei sollte sie verständnisvoll und überzeugend sein, damit er bleiben wollte. Und ihm nicht noch Schuld zuweisen.
     Am Montag quälte sie sich zur Arbeit, obwohl sie immer noch ein Loch in der Brust spürte. In der Mittagspause sah sie dann die Videowerbung für Virtuelle Welten und deren neue "persönlichen Simulationen".
     Am Abend fuhr sie größtenteils aus Intuition dort vorbei, und als man ihr sagte, was das kostete, verschluckte sie sich fast. In ihrem Hirn baute sich immer noch diese fixe Vorstellung auf, dass Jason zurückkomme und sie beide zusammen seien...
     Melanie entschied, dass sie ein paar Hunderter aus ihrem Schulfundus abzweigen konnte, das konnte sie ja noch ausgleichen, bevor der Sommer vorbei war.

Er weckte sie, indem er sie auf den Hals küsste und ihre Brust unter dem T-Shirt liebkoste. Diesmal war sie hellwach, wenngleich etwas verstört von dem Wissen, dass diese doch sehr intimen Empfindungen künstlich erzeugt waren. Die Techniker hatte sie darüber scherzhaft als "dildonisch" reden gehört, und anscheinend kamen eine Menge Leute genau deswegen: Sex mit jemandem, den man im richtigen Leben aus dem einen oder anderen Grund nicht haben konnte. Als sie sich erst mal entspannt hatte, fand sie es gar nicht mal so schlecht.
     Danach lagen sie zusammen Löffelchen, sein Arm um ihre Taille, und sein Daumen streichelte leicht die Haut auf ihrem Bauch. Es kitzelte, und sie schauerte.
     Er kicherte. "Wie kommt das, dass du nicht kitzlig bist, wenn ich dich zu kitzeln versuche?"
     "Weil du’s versuchst", murmelte sie.
     Er lachte noch einmal und streichelte sie weiter.
     "Ich mag das Gefühl von deiner Haut", sagte er nach einer Weile. "Wie Samt."
     "Mmmm."
     "Wie fühlt sich denn meine Haut an?" fragte er.
     "Schmirgelpapier", sagte sie bestimmt. "Mit Stahlwolle drauf."
     "Hey!"
     So ging es eine Zeitlang weiter, mit immer längeren Pausen, während sie beide schläfriger wurden. Schließlich strömte nach einem besonders langen Schweigen seine Stimme in der Finsternis zu ihr herüber. "Ich glaub, ich verliebe mich in dich, Melli."
     Sie dachte, sie sei darauf gefasst. War sie aber nicht. Ihr Herz pochte wild und ihr Mund trocknete aus – wie Baumwolle. Sie leckte sich die Lippen und schluckte. "So so. Wenn du dich entschlossen hast, lass es mich wissen, okay?"
     Er lachte kurz und kläffend. "Okay." Er wartete ein paar Sekunden, flüsterte dann: "Melli."
     "Was."
     "Ich hab mich entschlossen."
     "Und?"
     "Ich verliebe mich in dich."
     Sie fand seine Hand im Dunkeln. "Ich lieb dich auch", antwortete sie ernsthaft. "Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat, aber es geht mir schon ziemlich lange so. Ich hab nichts gesagt aus Angst, dass es uns zu sehr unter Druck setzt und dich vielleicht verschreckt. Und das wollte ich nicht."
     Er schwieg eine Weile. "Willst du die Wahrheit wissen?" sagte er dann. "Ich bin verschreckt. Ich meine, an dir könnte mir wirklich viel liegen – und in zwei Monaten ziehst du für die Schule um." Er wälzte sich auf den Rücken. "Herrgott, als Kayla und ich Schluss gemacht haben, das war die Hölle. Ich kann mir nicht vorstellen, das jetzt noch mal durchzumachen."
     Sie drehte sich zu ihm und schaute ihn an, versuchte sein Gesicht in der Finsternis zu erkennen. "Zuallererst mal war Kayla diagnostiziert schizophren; bin ich nicht. Zweitens kann in zwei Monaten viel passieren. Vor zwei Monaten hast du davon gesprochen, dein Diplom auf der Uni von Texas zu machen. Heute in zwei Monaten kann ich darauf kommen, die Schule überhaupt zu vergessen, nach Australien auszuwandern und Schafe zu hüten."
     "Oder ich ziehe nach Chicago, und du kommst in die Abschlussklasse."
     "Aargh." Sie ließ frustriert den Kopf gegen seine Brust fallen. "Bist du pessimistisch." Sie schaute wieder auf. "Also gut, und wenn wir jetzt unserer Wege gehen? Wir haben noch zwei Monate." Ganz bewusst sprach sie sanfter weiter: "Ich würde gern zwei glückliche Monate mit dir verleben."
     "Melanie, du hörst nicht zu. Ich kann es jetzt nicht drauf ankommen lassen."
     "Worauf ankommen lassen? Dass wir glücklich sein könnten?"
     "Neee. Ich will mich einfach nicht in jemanden verlieben und ihn ein paar Wochen später wieder verlassen müssen."
     "Also was immer das ist zwischen uns, sollten wir gleich ersticken, bevor die Last zu groß wird, meinst du das?"
     "Wenn du es so ausdrücken willst – ja." Sie setzten sich jetzt beide auf und starrten sich in der Dunkelheit an. Verzweiflung mischte sich in ihren Zorn; so sollte das nicht ablaufen. Ohne es zu wollen, brach sie in Tränen aus.
     "Entschuldige, Mela", sagte er dann, aber ohne sie anzufassen. "Schau mal, ich hab doch nur Angst, dass wir uns weiterhin sehen und ich mach mir einfach zuviel draus. Und wenn es Zeit zur Trennung wird, kann ich’s nicht."
     Sie lachte verbittert auf. "Hilft es dir weiter, wenn ich verspreche, dich rauszuschmeißen?"
     "Nein. Das muss ich schon selber. Für dich ist es leicht", sagte er. "Du hast immer gewusst, wo du hinwillst, was du anfangen willst. Aber ich hab’s eben erst herausgefunden. Und das kann ich nicht aufgeben. Nicht einmal, um bei dir zu bleiben."
     "Darum hab ich dich auch nicht gebeten", gab sie scharf zurück. "Ich lebte unter dem Eindruck, dass du freiwillig hier seist." Dann drehte sie sich weg und hörte seine Antwort schon, bevor er sie gab.
     "War ich auch", beteuerte er. Die Vergangenheitsform fiel wie ein Todesstoß.
     Danach drehte sie sich weg von ihm und lag noch lange Zeit widernatürlich hellwach. Sie hoffte immer noch, dass er die Hand nach ihr ausstrecken werde – sagen, dass er Unrecht hatte oder sie auch nur festhalten – aber er rührte sich nicht. Endlich merkte sie an seinem Atem, dass er eingeschlafen war.

Sie drehte sich herum und streckte intuitiv die Hand nach ihm aus, merkte aber, dass hier nicht ihr Schlafzimmer war. Sie hob eine Hand ans Gesicht und sah den dünnen schwarzen Handschuh, von dem die Drähte abwärts führten. Neben ihr stand ein Techniker mit ihrem Kopfaufsatz in der Hand. Er lächelte sie an; es war derselbe, der ihr Kaffee gebracht hatte – gerade erst gestern, dachte sie sich.
     "Sie werden automatisch ausgeklinkt, wenn Sie einschlafen", erklärte er. "Ich kann Sie zurückschicken, wenn Sie wollen – ich weiß schon, es war wohl ein bisschen plötzlich, wie Sie rausgekommen sind, aber mit geschlossenen Augen haben Sie das Warnlämpchen ja sowieso nicht gesehen." Er tippte sich knapp unter der Schläfe ins Gesicht.
     Sie schüttelte immer noch verwirrt den Kopf. Also war es am Ende doch nicht geschehen; es war alles Bestandteil der Simulation. Eigentlich ist es auch egal. Nichts hat sich geändert, und sie muss immer noch in eine leere Wohnung zurück.
     Als sie sich anzieht, muss Melanie dauernd daran denken, wie er gesagt hat, dass er sie liebt – zweimal hat er es gesagt, und das muss bedeuten, dass nicht alles verloren ist. Morgen Abend kommt sie wieder und macht es noch einmal. Sie muss ihm ja nur klarmachen, dass sie nicht unbedingt wegziehen müssen, dann gibt es auch keine Probleme. Alles wird gut.

Diesmal begann sie schon ganz am Anfang mit ihrer Unterhaltung im Wohnzimmer. Als er von Chicago sprach, stellte sie ihm Fragen über die Stadt und versuchte interessiert zu klingen, aber nicht zu offensichtlich – mehr so, als ob sie fasziniert davon wäre, nicht er. Als die Sprache auf A&M kam, zuckte sie nur die Schultern. "Ich komme langsam drauf, dass ich da eigentlich gar nicht hingehöre", sagte sie und wechselte das Thema.
     Sie schliefen wieder miteinander, und sie konzentrierte sich darauf, ihn zu befriedigen. Sie tat alles, wovon sie wusste, dass er es gern hatte, auch woran ihr selbst weniger lag. Sie war zu verkrampft, um für sich selber einige Lust herauszuholen, aber Jason machte klar, dass ihm das wichtig war, und am Ende täuschte sie es vor. Das hatte sie noch nie mit ihm gemacht, und sie fühlte sich schuldig dafür. Letztendlich sollte es ja selbst das wert sein.
     Danach lagen sie eine Weile still, und dann begann er zu sprechen. "Als wir uns unterhalten haben, vorhin –" Er stockte und fing noch einmal an. "Ich weiß doch, dass du keine Großstädte magst", sagte er. "Das war doch offensichtlich, dass du das nur sagst, weil ich vom Umziehen gesprochen hab. Ich will nur, dass du eins weißt: Wenn ich gehe, musst du mir nicht nachkommen. Du solltest hier bleiben und deinen Abschluss machen."
     "Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt noch so recht will."
     "Du kannst doch nicht deine Träume aufgeben, nur um mit mir zusammenzubleiben", widersprach er. "Dazu sind sie zu wichtig."
     "Unsere Beziehung ist doch auch wichtig."
     Er schwieg eine Zeitlang, dann kam endlich der Satz, auf den sie gewartet hatte. "Du bedeutest mir wirklich einiges, Melli."
     Diesmal traute sie keiner unter allen möglichen Antworten und beugte sich einfach nur hinüber und küsste ihn. Er erwiderte den Kuss, machte sich aber ziemlich schnell wieder los.
     "Ich glaub aber, dass wir uns nicht mehr sehen sollten – wenigstens vorerst."
     Melanie hätte schreien mögen. "Du liebst mich, aber du willst mich nicht mehr sehen. Jason, du redest Blödsinn."
     "Ich hab nicht gesagt, dass ich dich liebe."
     Sie fühlte, wie sich Eis in ihrem Körper ausbreitete. "Was?"
     "Ich hab gesagt, du bedeutest mir etwas. Ist auch so. Aber ich bin nicht darauf vorbereitet, mich grade jetzt zu verlieben."
     Sie setzte sich auf. Das war ja wohl nicht wahr. So konnte er das nicht meinen. Er hatte wohl gesagt, dass er sie liebte, sie erinnerte sich genau an den Wortlaut. Oder hatte sie das geträumt? Plötzlich war sie gar nicht mehr so sicher.
     "Es ist nichts Persönliches", fuhr er fort. "Ich bringe nur momentan zu niemandem dieses Vertrauen auf."
     Sie schaute ihn gegen das Kopfende gelehnt an und versuchte seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Das Mondlicht umrahmte seine verstrubbelten Haare mit einem Heiligenschein, nur sein Gesicht war dunkel. "Ich bitte dich nicht, irgend jemandem zu vertrauen – sondern mir zu vertrauen. Ich hab dir noch nie einen Grund gegeben, mir zu misstrauen. Noch nie!"
     "Ehrlich? Du hast den ganzen Abend so getan, als ob du begeistert von Chicago wärst!"
     "Woher weißt du, dass ich das nicht ernst gemeint hab?"
     "Was denn – über Nacht hat sich Chicago von der zweitschlimmsten Gegend auf der Welt zur Stadt deiner Träume gewandelt? Toll. Willst du mir dann auch noch erzählen, du hast heute nacht einen echten Orgasmus gehabt?" Er sprach sarkastisch und grausam. "Du hast mir versprochen, dass du mir nie einen vortäuschen wolltest. Was ist jetzt damit?"
     "Ich verstehe nicht, was das jetzt damit zu tun hat. Du hast doch gerade zu mir gesagt, du liebst mich nicht – warum macht dir das dann überhaupt was aus?"
     "Hey, von mir aus kannst du Orgasmen vortäuschen, bis du blau anläufst. Find ich völlig in Ordnung. Aber da muss ich nicht dabeisein und zuschauen. Danke." Er stand auf und fing an, sich die Jeans anzuziehen.
     "Oh, das ist natürlich die Lösung. Den Kopf einziehen und die Land gewinnen beim ersten Anzeichen von Zuneigung." Sie schrie ihn schon fast an und versuchte sich verzweifelt die Tränen zu verbeißen.
     "Tu ich doch gar nicht. Ich verabschiede mich aus einer Beziehung, bevor sie schal wird und wir es alle beide bereuen." Er setzte sich auf die Bettkante, um Socken anzuziehen und dann Schuhe, und Melanie fühlte Panik in sich aufsteigen.
     "Jason, sei doch nicht so. Entschuldige, dass ich so getan hab, als ob ich Chicago mag. Das war doch nur, weil du immer gesagt hast, es würde die Trennung zu schwer machen, und ich wollte dir nur zeigen, dass wir nicht Schluss machen müssen, wenn die Schule anfängt."
     Er schaute sie verdutzt an. "Was soll ich gesagt haben?"
     Sie runzelte die Stirn. "‘Ich will mich einfach nicht in jemanden verlieben und ihn zwei Monate später wieder verlassen müssen.‘" Sie sagte die Worte genau her.
     Jason drehte sich zu ihr, um ihr ins Gesicht zu sehen, und schaute sie ganz eigenartig an. "Melanie, du solltest dich doch mal nach einer Therapie umtun oder so. So was hab ich nie gesagt. Noch nicht mal gedacht!"
     Sie starrte ihn an. "Hast du wohl. Du hast gesagt, du liebst mich, oder jedenfalls, dass du dich in mich verliebst –" Plötzlich brach sie verwirrt ab. In ihrem geistigen Ohr hörte sie ihn sagen: "Ich hab nicht gesagt, dass ich dich liebe."
     "Doch", widersprach sie, "das hast du gesagt. Weiß ich doch noch!" Plötzlich begann rechts von ihr, am Rand ihres Gesichtsfeldes, ein rotes Lämpchen zu blinken. Sie drehte den Kopf danach, aber es drehte sich mit. "Was ist das?"
     "Was?" fragte er argwöhnisch.
     "Das Licht. Es haut dauernd ab."
     "Melanie, da ist nirgends ein Licht. Wir sind hier in vollständiger Finsternis. Fang mir nicht mit solchen Sachen an."
     "Doch, da ist eins – genau da." Sie hielt den Kopf ruhig und versuchte mit der ausgestreckten rechten Hand hinzufassen. Das Schwierige war, sie konnte nicht sagen, wie nah oder wie weit weg es war.
     "Also gut. Das war’s dann." Er bückte sich und band sich den zweiten Schnürsenkel. "Ich bin weg. Mit so einem Scheiß komm ich nicht mehr mit." Er stand auf und verließ das Schlafzimmer.
     Als ihr klar wurde, was sie da gesagt hatte, sprang Melanie auf und lief ihm geradezu hysterisch zur Haustür nach. "Jason, du kannst nicht weg!"
     "Dann schau mal gut zu."
     "Nicht!" Es war fast ein Kreischen. "So sollte das nicht laufen! Du spielst nicht richtig mit!" Die rote Lampe blinkte immer noch nachdrücklich, und sie schlug mit einer Hand danach.
     "Herrgott, ich hab schon ein Händchen." Er schaute sie angewidert an. "Solche wie du sollten Warnschilder tragen. ‚Achtung freilaufende Psychoschlampe.‘ Das rettet haufenweise Unschuldige." Er drehte sich um und öffnete die Tür.
     Sie stürzte sich auf ihn und packte ihn am Arm. Kaum als er es spürte, entriss er sich ihrem Griff und schlug sie ins Gesicht.
     Die Welt wurde finster.

Von ihrem Kopf wurde etwas abgenommen, und sie sah wieder etwas. Über ihr war eine schwarze Decke mit zwei Rückstrahlern in metallenen Leuchtenanschlüssen. Sie blinzelte gegen das Licht. Wo die Tränen auf ihren Wangen getrocknet waren, spannte die Haut.
     "Alles in Ordnung? Miss Lynch? Melanie?" Ein Gesicht beugte sich über sie, das ihr entfernt bekannt vorkam. Mit einiger Mühe brachte sie es unter: der hilfsbereite Techniker. Dann fiel ihr ein, wo sie war.
     Es war die gleiche überwältigende Erleichterung, wie wenn sie aus einem Alptraum aufwachte und erkannte, dass nichts davon wirklich passiert war. "Herrgott."

Der nächste Tag war Sonntag, und Melanie hatte Lust zum Aufräumen. Wenn es schon zu sonst nichts gut war, lenkte sie das wenigstens von Jason ab. Es war Spätnachmittag, und sie hatte gerade einen begeisterten Staubsaug-Anfall hinter sich, als der Bildschirm an der Tür piepste. Sie durchquerte das Zimmer und drückte auf "Ansicht". Der Schirm flackerte an.
     "Jason." Sie starrte ihn dumpf an. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr, sich auszudrücken.
     "Grüß dich." Er war so gnädig, verlegen dreinzuschauen. "Kann ich... einen Moment reinkommen?"
     Sie schaltete den Bildschirm energisch auf "Aus" und öffnete die Tür. "Klar. Willst du dein Zeug holen?"
     Er gab keine Antwort, trat einfach ein und schloss sie in die Arme.
     Fast unwillkürlich erwiderte sie die Umarmung. Die Art, wie Jason sie umarmte, hatte sie immer gerne gemocht; sie hatte so etwas von Sicherheit. Bald zog er sich zurück und schaute sie an und berührte ihre Wange sacht mit einer Hand. Sie machte die Augen halb zu, als sie die vertraute Berührung spürte. Dann beugte er den Kopf und küsste sie sanft auf den Mund – einmal, und dann noch einmal fester. Er hob die Hände, um ihr Gesicht darauf zu stützen, und sie fuhr mit ihren ruhelos über seine Brust.
     Eine unbestimmte Zeitlang gab sie einfach den Kuss zurück und schmolz in den vertrauten Abläufen und Empfindungen. Ein warmes, sexuelles Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus – was nur jemals passiert war, wenn Jason sie küsste, bei niemand anders. Aber einem kleinen Teil ihres Gehirns reichte das nicht.
     Schroff befreite sie sich aus dem Kuss, lehnte sich rückwärts an den Esstisch und versuchte sich wieder etwas zu fassen. "Ja. Na. Schön, dass du da bist."
     "Du hast mir gefehlt, Melli", sagte er leise.
     "Du hast doch Schluss gemacht, nicht ich", sagte sie in aufflammendem Ärger.
     "Ich weiß, Melli. Entschuldige bitte. Ich hab viel darüber nachgedacht, und eigentlich will ich doch nur mit dir zusammen bleiben. Mir ist egal – nein, mir ist nicht egal, ob wir wegziehen müssen, aber bis dahin will ich mir dir zusammen bleiben." Er lächelte sie an. "Und man weiß ja nie, vielleicht ergibt sich was."
     "Warum das plötzlich?" wollte sie wissen. "Woher der Sinneswandel?"
     Er zuckte die Schultern. "Weiß ich nicht. Mir ist einfach klar geworden, dass ich am glücklichsten mit dir bin, und da wäre es doch eine Dummheit, wenn wir alles einfach so sausen lassen."
     Sie dachte eine Weile darüber nach, steigerte sich in einen immer größeren Zorn hinein, als ihr die ganze Tragweite dessen aufging. "Das hast du dir so ausgedacht. Du willst alles, was dich glücklich macht, und was mich glücklich macht, ist streng untergeordnet – wenn überhaupt einer Überlegung wert. Du liebst mich nicht; und es macht nicht einmal was aus, ob du’s nun gesagt hast oder nicht."
     Sie lachte sarkastisch auf. "Auf einmal wird mir Kayla richtig sympathisch."
     "Du weißt überhaupt nichts über mich und Kayla."
     "Ich weiß, wie du mich behandelt hast, als ich durcheinander war und Hilfe brauchte. Du hast mich eine Psychoschlampe genannt und bist davon!"
     Er starrte sie an. "Ich verstehe nicht, wovon du redest."
     Melanie stockte. Wusste er selbstverständlich nicht. Einen Augenblick hatte sie das glatt vergessen. Sie atmete tief ein und fing weiter vorne noch mal an. "Nachdem du weg warst, bin ich zu diesen Virtuellen Welten gegangen, weißt du noch? Die haben jetzt eine Technik, mit der man" – sie stockte und wählte sorgfältig ihre Worte – "eine Art Computermodell von jemandem bauen kann: Aussehen, Charakter, alles.
     Ich hab dich nachgeschaffen", sagte sie und merkte, wie er erschrak. "Und bin die Nacht durchgegangen, in der du fort bist, in der Simulation, und hab versucht, alles zu tun und zu sagen, damit du bleibst.
     Ich hab dich geliebt." Jetzt sprach sie anklagend. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und liefen langsam über, nur ihre Stimme blieb fest. "Wahrscheinlich hätte ich alles getan, um dich zu behalten. Aber egal was ich unternommen hab, zum Schluss bist du dann doch wieder gegangen. Jedes Mal. Ich wollte die Schule für dich hinschmeißen", sagte sie angewidert, "und du konntest an nichts weiter denken, als dein zerbrechliches Ego zu schützen!"
     "Melanie, das war in einem Computer! Das will doch nichts heißen!"
     "Doch! Das will eine ganze Menge heißen! Mir egal, ob es wirklich passiert ist oder nicht – es hat mich doch schwer getroffen. Zu wissen, dass du so was machen würdest. Und nichts, was ich unternehmen kann, ändert irgendwas –" Sie staunte selbst, wieviel Sinn das jetzt ergab "– weil ich, und was ich tue, und was ich empfinde, dir im Grunde immer scheißegal war!"
     "Melli, sei doch vernünftig." Er trat auf sie zu und langte nach ihr.
     Sie wich einen Schritt zurück und seiner Hand aus. "Und wie vernünftig ich bin! Behandle mich nicht wie ein kleines Kind!"
     Er schüttelte den Kopf, kam aber nicht mehr näher.
     "Melanie, du kannst mich nicht dafür verantwortlich machen für etwas, das in einer Computersimulation passiert ist, um Himmels Willen! Diese Dinger müssen ja voller Viren stecken! Kriegst du nicht in deinen Schädel, dass ich nun mal nicht anwesend war? Ich hab doch nicht solche Sachen gemacht!"
     "Nein. Hättest du aber." Als sie die Worte laut aussprach, wurde ihr plötzlich klar, wie sehr sie eigentlich stimmten. "Wenn es nichts gewesen wäre, was du auch tun würdest, hätte ich’s gespürt. Die ganze Zeit hab ich kein einziges Mal gestutzt und gedacht, das sieht Jason überhaupt nicht ähnlich. Ich wusste es, auch wenn ich’s vorher nicht bewusst eingesehen hab."
     Es entstand eine Pause. "Tsja", sagte Jason nach einer Weile, "solange du so fest daran glaubst, kann ich wohl auch nichts dagegen sagen, oder? Ich will dich immer noch zurück, Melanie. Es liegt nur an dir."
     Sie standen eine Zeitlang da und schauten sich an. Plötzlich wünschte sie sich schmerzlich, auf ihn zuzugehen, sich in die Arme nehmen und sagen zu lassen, dass alles gut war. Sie lehnte sich an den Tisch und schloss die Augen. Immerhin war er zurückgekommen; das hatte sie doch die ganze Zeit gewollt. Vielleicht liebte er sie nicht selbstlos, aber sie waren doch eine ganze Zeitlang glücklich gewesen. So gesehen konnte sie ihn immer noch gelten lassen.
     Anscheinend versuchte er etwas davon zu erraten, was sie gerade dachte, denn er sagte leise: "Melli, das wird schon klappen. Vergiss einfach die letzte Woche; dann ist es, als wäre nie irgendwas vorgefallen."
     "Nein", sagte sie leise und öffnete die Augen. "Nein, das glaub ich nicht." Jetzt hatte sie gar kein Erfolgserlebnis davon. "Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, so sehr ich’s mir wünsche."
     Er schaute sie einen Augenblick lang an und zuckte die Schultern. "Wünsch ich mir auch."
     "Warte mal kurz", sagte sie und verschwand schnell im Bad. Als sie wiederkam, brachte sie eine schwarze Sporttasche mit, die sie ihm in die Hand drückte. "Da. Ich hab dir alle Klamotten gewaschen, weil ich sie sowieso die halbe Zeit getragen hab."
     Er schaute auf die Tasche hinunter, dann hinauf zu ihr. Sie begegnete seinem Blick, ohne auszuweichen. "Na dann", sagte er. "Man sieht sich."
     Er drehte sich um und ging um die Ecke zur Haustür. Melanie rührte sich nicht. Sie hörte das Schloss aufschnappen und die Tür hinter ihm zufallen.
     Sie schaute in der plötzlichen Stille um sich. Ihr war kein bisschen mehr nach Aufräumen. Genaugenommen wollte sie überhaupt ganz aus der Wohnung. Diese letzte Woche hatte sie zu lange in der Stube gesessen. So oder so.
     Melanie steckte sich die Autoschlüssel in die Jeanstasche und trat hinaus. Die Sonne ging gerade unter, und am dämmernden Himmel hing der Mond, schön geschwungen und golden, genau da, wo er hingehörte.

 

Mond im Lot

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