Großstadtlichter
Sonntag, kurz vor Bettchenzeit. Frundsbergstraße.
München-Neuhausen: Sabine blätterte angeödet meinen neuen Film durch, schwarzweiß auf Zehnmalfünfzehn hochkopiert.
"Und wo ist meins?" fragte sie schließlich nach dem letzten Bild.
"Haben sie mir nicht mitentwickelt. War anscheinend zu verschwommen."
"Müssen sie aber doch. Du hast doch für den ganzen Film bezahlt", Sabine ganz enttäuscht.
"Du bist gut", Sabine später kopfschüttelnd.
"Macht nichts!" rief ich, mich meiner Berufung entsinnend, und griff nach der Kamera neben mir auf dem Sofa, "machen wir einfach noch eins! Stell dich mal da rüber!"
Der Montag vorher, 14 Uhr 35. Ecke Prälat-Miller-Weg.
"Du darfst ruhig fragen, bevor du uns fotografierst!" rief mir der Dürre mit den grünen, in die Höhe gestylten Haaren zu.
Ich hatte auf eine hingelagerte Gruppe von vier Punks gehalten und bereits entschieden, dass das Bild sowieso zu langweilig würde.
Die zwei pausbackigen Mädchen schauten angewidert zu mir herüber und wippten mit den Bundeswehrstiefeln. Der vierte band seinem Schäferhund das Bandanna neu fest.
"Wir sind hier ne politische Gruppierung und wollen nicht für irgendwelche Hetzkampagnen missbraucht werden", maulte der Dürre weiter.
Worum musste man heutzutage denn nicht noch alles um Erlaubnis fragen. Um das Recht am eigenen Bild natürlich, vor allem bei Schnorrern, die sich ihre Rasselketten bei Cartier kauften. Ich hatte keine Mark und schob ernsthaft demoralisiert ab.
Montag, 15 Uhr 02. Kaufingerstraße.
Im Treiben zwischen Stachus und Marienplatz rempelte mich jemand von links hinten an. Es fühlte sich an wie Absicht.
Ein unrasierter Kerl im braunen Anzug, etwa zwei Köpfe länger als ich, entblößte demonstrativ zwei Reihen blendend gelber Zähne, zerrte seine struppigen Brauen bis zum Haaransatz hinauf und deutete nachdrücklich auf meine Kamera, die ich vor dem Bauch in Bereitschaft hielt. So spazierte er in die Brust geworfen langen Schrittes neben mir her.
Ich lächelte von der plötzlichen Situation überfordert zu ihm hinauf und schüttelte ebenso stumm wie er den Kopf.
Sofort ersetzte er seine Zahnreihen durch einen Seehundsschnurrbart, hob die Anzugschultern hoch, breitete bedauernd seine Hände wie zwei leergegessene Teller aus und drehte bei.
Ich mochte ihn.
Donnerstag, praktisch kurz vor Wochenende, gegen 17 Uhr. Ecke Dienerstraße-Marienplatz.
Einer aus dem Rudel japanischer Geschäftsmänner, durch das ich mich stromlinienförmig mogelte, knipste mich seinerseits.
Auf dem Brunnenrand rechts vor dem Rathaus lümmelte Volk. Ich entschied mich für zwei junge Damen in hellblauen Jeansanzügen, begann so unverfänglich wie möglich um den Brunnen zu flanieren und tat, als ob ich irgendwelche Motive in der Ferne suchte. Die Tauben über dem fünften Stock von Hugendubel zum Beispiel. So ein Zoom-Objektiv von 70 bis geschlagene 300 Millimeter ist ja auch nicht für die Katz.
Als ich schräg gegenüber den beiden Damen ankam, stützte ich die Ellenbogen auf den Brunnenrand und legte scharf an.
Ausschnitt.
Blende.
Belichtungszeit.
Ein Blick zur Sonne: Mit der Beleuchtung stimmte was nicht.
Ich verschob etwas meinen Standpunkt. Legte erneut an. Der Ausschnitt war viel besser, denn von hier aus sprenkelten zwei Wasserstrahlen mitten durch den Vordergrund, das hatte so was Künstlerisches. Das konnte ein gutes, lebendiges Bild werden: vorne verschwommen zwei sich kreuzende Brunnenstrahlen, dahinter scharfgestellt auf zwei helle junge Damen, die sich unterhalten. Natürlich musste ich warten, bis mindestens eine lachte. Schwarzweiß, ganz sparsam mit Eiweißlasur handkoloriert, wird einem so ein Ding von jeder Galerie aus den Fingern gerissen. In meinem Sucher blinkte rot die Belichtung: Perfekt!
Es geschah wie immer in solchen Momenten: Die Damen veränderten ihre Haltung. Die linke warf die Beine von der Brüstung und beugte sich verschwörerisch zu der rechten hinüber.
"Du, da drüben fotografiert uns einer!" flüsterte sie ihr mit dem Handrücken vor dem Mund ins Ohr.
Von einem Wimpernschlag zum andern glotzte mir die rechte Dame erschrocken voll ins Objektiv. Frontal, groß, weit, entsetzt, ausgeliefert und großflächig nackt.
Ich hatte gelernt, sehr schnell die Einstellung zu wechseln, und mit einer Handgelenksdrehung stracks auf Porträt gestellt.
"Klack!" machte es und wurde ganz kurz finster.
Siebzehn Uhr 33, außerdem immer noch Donnerstag. Stachus.
Da lief sie mir mitten durchs Bild.
"Hoppla", sagte sie und blieb stehen.
"Danke", sagte ich. "Hättest du nicht die hundertfünfundzwanzigstel Sekunde lang auch noch warten können?"
"Tut mir ja auch leid. Hab ich ja nicht ahnen können, dass du hier wildfremde Leute knipsen willst."
"Was dachtest du denn, was ich vorhab? Spatzen schießen?"
Sie lächelte. "Wär ich dir dann am Rohr vorbei?"
"Lass mein Rohr in Ruhe. Mein Model ist jedenfalls auf und davon."
"Nochmal: Tut mir leid." Sie legte mir sacht die Hand auf die Kamera.
"Kann ich das Bild von mir haben? Ich hab einen Good Hair Day."
Ich dachte nach. "Brauch ich aber deine Adresse", sagte ich endlich, aber sie schulterte schon ihren Lederrucksack ab und kramte darin herum. Ich sah ihr zu, wie sie ihre Adresse auf einen Notizblock schrieb, eine Blumenblüte dazukritzelte, das Blatt abriss und mir in die Kamerahand drückte.
Ich las ihn. "Wird aber schwarzweiß", – spick - "... Sabine."
Ihr Gesicht knipste die Sonne an: "Um so besser! – Das ist in Neuhausen", sagte sie und tippte auf die Stelle auf ihrem Zettel in meiner Hand.
Sabine hatte einen Berg brünetter Locken, knallgrüne Augen, auffallend glatte Haut und große, leicht gerillte, farblos lackierte Fingernägel, einen dunkelbraun gemusterten Shetlandpullover als Jacke und viel zu weite Jeans, unten eingeschnitten, über Stahlkappenschuhe geschlagen.
"Die Masche muss ich mir merken", hörte ich mich sagen.
"Tschüs", sagte Sabine. Über die Schulter weg winkte sie nachlässig, ohne sich umzuschauen, in die Luft, als ob sie wüsste, dass ich ihr nachschaute.
Der nächste Sonntag, 16 Uhr 20. Immer noch Frundsbergstraße.
"Ach was", sagte sie, und Strapse anziehn soll ich wohl auch noch."
"Das wär's", sagte ich.
Sabine ordnete sorgfältig meine Fotos und klopfte sie mit der Längskante auf dem Wohnzimmertisch zusammen:
"Ich glaub, dein Bus geht, du Spanner."
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