Interlude
Wir sitzen noch. Das haben Tom Waits und Johnnie Walker und ich auch ein bisschen durchgesetzt.
Die Kneipe leert sich langsam, denn die meisten Kinofilme und Arbeitswochen sind bereits durchgehechelt, und ein Rudel weithin besoffener Rabauken ist vorhin hinter einem säuerlich dreinblickenden Mädchen mit einem Autoschlüssel in der Hand ausmarschiert, nicht ohne Absingung des schönen alten Liedes "Ja, mir san mit'm Madl da". Seitdem zieht nur noch ein Blues seine gemächlichen Bahnen.
Unter uns ist auf natürlichem Wege eine Gesprächszäsur entstanden. Wir schauen zu, wie Marzipan Wildfang energisch mit ihrer Kippe im Aschenbecher herumrührt. Die Realität ist eine abstrakte Illusion verlorener Ideale - woher ist das?
Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Che Guevara eine in weitläufiges Schwarz gewandete Buchhändlerin zwei Tische weiter beobachtet, die Graphisches Gestalten und Visuelle Kommunikation studiert und schon mal ein Kinderbuch illustriert hat. Auf den Typ springt er an.
Sie diskutiert mit ihrer Tischnachbarin über die Handlungsführung in "Natural Born Killers" (director's cut), redet mit den Händen, lächelt mit der Nase und trinkt gleichzeitig Weißwein und Mineralwasser. Che Guevara ist fasziniert bis sterblich verliebt. Er überlegt, ob er nicht hinübergehen und irgendwas zu ihr sagen soll. Aber was?
Ich sehe Che Guevara aufstehen, sich zu der reizenden Buchhändlerin setzen und ihr eine charmante Torheit ins Ohr flüstern. Sie lacht glockensilbern auf, ihre Zähne funkeln geschmeiden in dem verruchten Zwielicht, und ein paar rotschwarze Haarsträhnen fallen ihr über die Augen.
Sie legt den Arm um Che Guevara, flüstert ihm etwas zurück oder küsst ihn sogar hinters Ohr. Dann stehen sie auf, überlassen die erstaunte Tischnachbarin, Wein und Wasser ihrem Schicksal und schieben eng umschlungen zu ihr.
Ich werde aus Loyalitätsgründen später Che Guevaras Zeche übernehmen. Vielleicht zur Feier des Tages eine allgemeine Runde gleich mit dazu. Ich bekomme Lust, unser Frollein Wirtshaus Sabina mit a zu umarmen, zu küssen, am Ärmel zu rupfen und begeistert zu fragen: Ist das nicht stark? ist das nicht toll?
Nach zwei Wochen legt uns Sabina mit a eine Postkarte vor, die besagt, dass wir nicht länger auf Che Guevara warten sollen. Er hat mit der bezauberndsten aller Buchhändlerinnen erst eine Woche in ihrer Wohnung zugebracht, ohne sie auch nur einmal zu verlassen, und dann einen kommunistischen Buchladen in Bolivien mit ihr gegründet. Nebenher schreibt er Essays, und sie designt und illustriert seine Kampfschriften. Die Postkarte ist abenteuerlich bunt bestempelt, die Blonde und Banjo kabbeln sich um die Briefmarke. Unser aller besten Wünsche begleiten Che Guevara.
Marzipan Wildfang rührt immer noch den Aschenbecher um und um. Che Guevara stößt mich in die Rippen, deutet mit dem Kinn zu der schwarzen Buchhändlerin zwei Tische weiter hinüber und raunt mir zu: "Sooolche Titten!"
Prost.