Irish Folk Part Two

 

Den Florian kennst du. Ich hab dir mal eine Geschichte erzählt, in der ist er vorgekommen. Es ging um Barfußlaufen und Irish Folk, und Florian war ein kleiner Junge damals.
     Eine Fortsetzung zu der Geschichte erzähl ich dir aus dem einzigen kühlen Grunde, daß die Geschichte eine Fortsetzung hat. Warum also soll man sie dann nicht erzählen?


Die Sache zwischen Florians großem Bruder Norbert und der Annemarie hat nicht sehr lange gehalten. Norbert konnte nämlich ein ausgesprochenes Arschloch sein, wenn er wollte, und so konnte man mit Annemarie allerdings nicht umspringen. Die zwei trennten sich in gutem Einvernehmen und gingen ihrer Wege. Am traurigsten dabei war noch der, den es am wenigsten anging, Florian. Der hatte Annemarie lieber gehabt, als irgendjemand mitbekommen hatte.
     Das ist nun auch schon wieder etliche Jahre her. Zehn Jahre ungefähr, und Florian hat in der Zwischenzeit allerhand gelernt. Na, was soll ich dir sagen: Er hat inzwischen gelernt, die Gitarre zu handhaben.
     Er weiß inzwischen von selber, daß es verdammt viele Lieder irischen Ursprungs gibt, die in moll anfangen und in Dur aufhören, oder auch umgekehrt (doch, das gibt's - ), und er kann mittlerweile auch die Griffe dazu und weiß viele Texte. Doch, es gibt viele Lieder, die auf diese Weise immer wieder gern gehört werden. Irische Lieder wollen nämlich alle Leute immer wieder gerne hören und wissen eventuell gar nicht, wo sie herkommen. Aber sie klingen schön, samt und sonders.
     Weißt du, die traurigen Lieder unter ihnen klingen so furchtbar abgrundtief schaurig, daß dich friert, aber eigentlich mit immer wieder einem aufschimmernden Funken Hoffnung. Die lustigen Lieder schnappen jedesmal fast über, aber sie sind nie überkandidelt, sondern sie lieben das Leben, sie mögen hörbar gern auf ihren Instrumenten gedroschen werden, aber leiten ihre ihnen innewohnende Energie immer wieder in die richtigen Kanäle, nämlich nicht in Fäuste an die Maßkrüge zum Prügeln, sondern gemach in Fingerspitzen an die Achtsaitige zum schön eins Daherklampfen.
     Hörst du gern heraus, daß eine Musik noch so richtig von Hand gemacht ist? Hörst du gern eine ganz eine wieselige Flöte? Magst du Takt geklopft, ganz gegen den Takt? Gefällt dir ab und zu Text, der eigentlich gar keiner ist? Macht es dir nichts aus, wenn oft das einzige Wort, das man versteht, "Whiskey" heißt? - Ich glaub, dann bist du richtig beim Irish Folk.
     Florian zum Beispiel hat für sich die Gitarre entdeckt. Es hat ihn fasziniert, was man aus diesen gerade mal sechs Saiten alles herausholen kann, und das mußte er auch lernen. Ist ihm gar nicht schwergefallen, er war ja sehr motiviert. Was man freiwillig tut, geht schneller.
     Um zu der Geschichte zurückzukommen: Florian ist jetzt fast erwachsen, ungefähr so alt wie sein Bruder Norbert in der ersten Geschichte, also mit der Schule fast fertig und durchaus beziehungsfähig. Er ist sogar ein recht ansehnlicher Bursch geworden, hat ein einnehmendes Wesen und einen sympathischen Lacher drauf und ist bei den Mädchen gern gesehen.
     Was er damals bei Norbert und Annemarie durchs Schlüsselloch gesehen hat, na gut, darüber ist er früher oder später wohl hinweggekommen. Er weiß inzwischen recht gut, was da vor sich gegangen war, hat keine bleibenden psychischen Schäden davongetragen und kann heute sogar darüber grinsen, wenn es ihm zwischendurch mal wieder einfällt.
     Freundin hat er keine. Viele Mädchen mögen ihn ganz gerne leiden, aber es liebt ihn keine. Nicht, daß Florian sich allzuviel daraus machen würde, schließlich wird es ihm auch ohne Weiber den ganzen Tag nicht langweilig, und er ist ja auch noch ein junger Hupfer.
     Einmal hat er die Kiste schon probiert, daß man Mädchen nicht nur zum Ärgern am Zopf ziehen kann, und ein Bett nicht nur zum Schlafen da sein muß. Sybille, so hieß seine Gespielin, so ein fast durchsichtiges Vögelchen, war hinterher so verschreckt gewesen über das, worauf sie sich da eingelassen hatte, daß sie nach dem Anziehen so schnell wie möglich verschwand und Florian seither aus dem Wege ging.
     Wenn sie so verrückt reagierte, dachte Florian, mochte er ihr auch nicht allzulange nachweinen. Es war eben ein Versuch gewesen, für beide. So etwas wie Annemarie fand man halt nicht jeden Tag. Und Norbert war blöd genug gewesen, so eine zu vergraulen. Naja.
     Ja, und um das nicht zu vergessen - daß das Leben oft unfair sein kann, hatte Florian in verschiedenen Formen nun auch mitbekommen dürfen. Er steht also voll im Dasein.
     Zur Zeit jobbt er. Er muß Kisten vom Lager zum Bahnhof schleppen, weil es da keine richtige Straße gibt und es zu Fuß schneller geht, als irgendwelche Lieferwagen durch fünfzig Nebenstraßen zu quälen.
     Das gibt mehr Kohle die Stunde, als wenn er ölige Maschinen mit löchrigen Lumpen auswienert. Außerdem ist Winter, und gute Jobs sind rar. Es herrscht trübes, schneeträchtiges Wetter. Heute haben sie ihm auch noch einen knappen Zentner auf die Arme geladen (der Schubkarren war vergeben), und das zieht elend! Kein Spaß ist das.
     Es ist kein Wunder, daß er da nicht gescheit drüberschauen kann, notdürftig den Leuten auf der Straße ausweichen kann und endlich glücklich mit einer Dame zusammenrumpelt.
     Die Dame hat anscheinend auch Kisten geschleppt. Jedenfalls herrscht ein ungeheures, heilloses Durcheinander auf dem Gehsteig, in dem jeder von den beiden sein Gerümpel zusammensucht. Es ist fürchterlich, es ist peinlich. Da trifft Florians Blick die Dame.
     "Annemarie", sagt er.
     Die Dame sucht zuerst auf dem Boden weiter ihre Päckchenwirtschaft zusammen. Aber wie der Herr gegenüber sie weiterhin so anstaunt, muß sie doch aufschauen. Sie weiß zuerst gar nicht viel weiter, dann erkennt sie ihn.
     "Florian", sagt sie (Nein, "Flo" hat sie noch nie zu ihm gesagt, obwohl auch damals schon jeder Patrick Florian hieß - ).
     "Mensch, grüß dich." Ganz entgeistert.
     Im nächsten Moment, den wir mitbekommen, liegen sie sich in den Armen.
     Ich sag's ja, daß einige Zeit vergangen ist: Inzwischen nämlich ist Florian mindestens so groß wie Annemarie geworden. Sie können sich jetzt so ziemlich von gleich zu gleich drücken, passen akkurat zusammen, während um sie herum noch allerlei Gerümpel liegt, das noch aufzusammeln wäre. Aber Florian kann jetzt Annemarie weite Strecken über den Rücken streicheln, doch, das kann er.
     Jetzt geht's. Sie halten sich fest und unterhalten sich.
     Sie lassen die Päckchen Päckchen sein da auf dem Trottoir, und sie gehen, wo sie sich auf einmal so ganz unverhofft so viel zu erzählen haben, zu Annemarie nach Hause. Wahrscheinlich haben sie dann den Tag krank genommen.
     Was du bis jetzt weißt, das erzählt Florian nun auch der Annemarie. Es liegen Jahre dazwischen, mußt du sagen, und die beiden überschlagen sich mit noch und noch einem Bericht, den der andere nun auch noch wissen muß. Ein halbes Leben ist aufzuarbeiten. Bis sie alles voneinander wissen, wird es tiefe, späte Nacht.
     "Daß du dich überhaupt an mich erinnerst."
     "Aber klar."
     Sowie er erzählt hat, daß er die Gitarre erlernt hat und entsprechende Beispiele auf Annemaries verstimmtem Gerät beigesteuert, so fühlt er sich daheim.
     Irgendwas spielt er aber noch etwas ungelenk. Da fordert Annemarie die Gitarre zu sich her und probiert die Stelle selber aus.
     Über den Siebener-Akkord geht's, gar nicht schwer. Sie läßt Florian nochmal ganz genau zuschauen und spielt ganz langsam und deutlich: Da schau, soo mußt du das machen.
     Dann singen sie zusammen, fast ohne Absprache, ein verwegenes irisches Trink- und Sauflied. Vom Schlage "Whiskey in the Jar", oder ein anderes im Dreiertakt. Annemarie schrubbt ganz schön feste in die Saiten, und Florian haut auf seinen Knien den Takt dazu, daß es fetzt, auf Achtelschläge und Synkopen. Das schlaucht ganz schön, vor allem weil Annemarie ein paar wüste Baßläufe improvisiert und auch noch, in Ermangelung einer Tinwhistle, ein längeres Solo pfeift wie ein geborener gälischer Kesselflicker. - Florian weiß ein paar Wörter geschickt abzuändern, so daß spontan eine zotige Parodie, um nicht festzustellen Gaudiversion, daraus wird. Am Schluß jauchzt Annemarie ein kurzes Fade Out. Hui!
     Auftrittsreif. Eine richtige Session! Erschöpft von dem Gegröle lachen sie sich eins und schütteln sich aner-kennend die Hände - Herr Dirigent, - Herr Konzertmeister.
     Es ist alles wunder-, wunderschön. Da fällt Florian was ein.
     In einer auf natürlichem Weg entstehenden Gesprächspause, da sagt Florian:
     "Du."
     "??"
     "Sei mal barfuß."
     Annemarie muß erst kurz überlegen, damit sie hinter die alte Hacke kommt, aber dann kapiert sie. Fröhlich lacht sie auf.
     Es ist ja Winter, und sie hat erst ein Paar aufwendige, dicke, selbergestrickte Socken abzustreifen, aber sie tut es sehr geschäftig.
     Ohne viel zu überlegen oder nachzufragen warum, rollt sie ihre Socken herunter (typisch: keine Strumpfhosen), und da sind ihre Knöchel, und da sind ihre Fersen, und da wedelt sie ihre Socken in der Luft aus. - Annemarie ihre Füße.
     Wie vor Jahren im Freibad schaut Annemarie Florian abwartend an. Da steigt alles wieder auf.
     Wie damals muß Florian erst ganz schön mit seinem Schweinehund ringen, um zu sagen: "Darf ich dich mal drücken?", Pause, "ich mag dich mal drücken, wenn du barfuß bist", aber diesmal hat Annemarie schon darauf gewartet. Er rennt eine offene Tür ein, Annemarie umhalst ihn bereits.
     Es ist anders als das erste Mal. Sie sind, naja, so halbwegs, erwachsene Leute. Es knistert etwas anderes in der Luft als Sommerhitze. Das ist die Erotik.
     In der Stille hören sie sich atmen und mit den Händen an den Kleidern auf- und abfahren. Macht nichts, daß Annemarie doch ein gut Stück älter ist, macht nichts, daß Florian das Mädchen ererbt von seinem Bruder, macht nichts, denn sie kennen sich ja. Irgendetwas muß jetzt passieren.
     Florian löst als erster die Umarmung auf. Er will doch nochmal genauer einen Blick auf Annemaries Füße wenden, die ihr immer fast ähnlicher gesehen haben als ihr eigenes Gesicht. Er freut sich richtig auf den Anblick dieses aerodynamischen Fahrgestells; Annemarie ahnt es bereits und knackst ein bißchen mit den Zehenknochen.
     Und da hat sie die Zehennägel lackiert.
     Florian atmet tief ein und nickt. Das hat man ja in der Schummerbeleuchtung gar nicht richtig gesehen. Aber lackiert sind sie, eindeutig.
     Er hat noch die Hand irgendwo auf ihrem Schenkel oder hinter ihr, aber da ist es auf einmal schon verdammt spät und morgen ein harter Arbeitstag.
     "Bist hübsch, du", sagt Florian zu Annemarie. "Freu dich."
     Steht auf einmal irgendwie an der Wohnungstür, tätschelt sie ein bißchen fahrig im Gesicht, verschwindet, die Tür selber hinter sich schließend, und tschüß. Keine Telefonnummern, kein nächster Termin.
     Annemarie bleibt allein und raucht noch eine, barfuß und nachdenklich in ihren Sessel gefaltet.
     Ob sie weiß, daß man sie treffen muß, wenn man ihr von selber über den Weg läuft? Ob sie weiß, wie gern sie Florian jetzt öfter gesehen hätte, und warum das nicht geht?
     Annemarie findet statt wie ein Traum, der vor so- und sovielen Jahren einmal aufgetaucht ist. Wenn er sich zum zweiten Mal einstellt, muß man ihn nicht auf seine Wahrheit herausfordern wollen. Was von Annemaries Warte allerdings schwer einzusehen ist.
     Sonst hat der ganze Traum womöglich plötzlich lackierte Zehennägel.


Das war die Fortsetzung von der Geschichte. Reißt dich ja nicht so vom Hocker, wie? Aber so geht die Geschichte nun mal, ich sag nichts, was gelogen ist (und wieder kein Happy End).
     Noch eine Fortsetzung wird's nicht geben, "Annemarie und Florian in den Flitterwochen", "Annemarie und Florian feiern Silberhochzeit, werden Oma und Opa" und solchen Schmonzes, den kannst du dir selber ausdenken. Wäre das nicht überhaupt eine Anregung? Es läuft sich ja sonst tot, und es gibt ja noch so viele andere Geschichten. Ich erzähl dir bald wieder eine, wenn du magst.
     Versprochen.

 

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