Kauri
Durch den Dschungel stampft ein Elephant. Tromp, tromp, tromp. Kauri heißt er. Wie die Muscheln.
Wo er hinwill, weiß er wahrscheinlich selber nicht recht zu sagen. Er hat sich vor ein paar Tagen von seiner Herde losgemacht, weil er weiß, dass es hinter dem Dschungel noch etwas anderes geben muss als die ewige Savanne, wo seine Herde immer graste. Das will er sich anschauen, und jetzt stampft er durch den Dschungel und schaut sich neugierig um.
Als er auf eine Lichtung kommt, tritt gerade auf der anderen Seite ein kleines Mädchen aus dem Urwald. Das schaut sich genauso neugierig um, und als es Kauris Blick kreuzt, schweifen ihre Augen nicht mehr weiter, und langsam geht das kleine Mädchen auf Kauri zu.
Sie schauen sich lange in die Augen, die zwei, und dann erkennen sie einander. Das kleine Mädchen ist nämlich eigentlich auch ein Elephant, es ist nur zufällig als kleines Mädchen geboren worden. Das sieht nur nicht jeder. Kauri lächelt.
Das kleine Mädchen fasst nach Kauris Rüssel, um ihn zu streicheln, und behutsam schlingt er den Rüssel um ihre Taille, hebt das kleine Mädchen hoch und setzt sie sich auf den Nacken. Das ist gut so, denn jetzt können sie ein Stück Weges miteinander gehen, so weit sie mögen.
Wann immer einer von beiden es will, kann das kleine Mädchen aufsitzen und Kauri hinter den Ohren kraulen, oder sie kann um Kauri herumhüpfen, während er weiter gemütlich dahintrottet, weil sie es nicht eilig haben auf ihrem Weg. Sie erzählen sich etwas von sich und singen vielleicht ein Lied zusammen, denn das kleine Mädchen hat eine schöne helle Stimme und kennt viele Lieder, und Kauri trompetet dazu und stampft im Takt.
Wenn die Sonne durch das Blätterdach bricht, räkelt und dehnt Kauri sich wohlig, damit das Sonnenlicht besser in seine faltige Haut dringen kann, und das kleine Mädchen lässt sich angenehm das Haar wärmen. Es ist sehr schön für beide.
Sogar das Duschen macht Spaß. Oder kennst du das Gefühl einer Elephantendusche nicht? Die beiden sind nämlich an einen Fluss durch den Dschungel gekommen, an dem geht ihr Weg eine Weile entlang. Dort nimmt Kauri zuerst einen Rüssel voll Wasser und sprüht ihn sich selber über den Kopf, während sich das kleine Mädchen seinen Fellschurz abstreift. Dann stellt sie sich auf einen runden Stein, der aus dem Fluss herausragt, und lässt sich von Kauri abduschen. Sie reckt die Arme in die Höhe dabei, hält das Gesicht hin, kneift die Augen zusammen und sperrt den Mund auf, und prustet und quietscht vor Vergnügen und rubbelt sich am ganzen Körper sauber.
Kauri lässt das kleine Mädchen gerne auf seinem Rücken spazierenreiten. Sie hat nicht so kräftige Beine wie er, und er mag es, wenn ihre Fersen an seinem Hals herumbaumeln. Dafür hilft sie ihm bei der Futtersuche.
Elephanten brauchen nun mal ziemlich viel zu futtern, und der Dschungel gibt nicht immer genau das her, was Kauri braucht. In der Savanne bei der Herde hat es mehr Gras und Heu gegeben. So ist er oft sehr dankbar, wenn das kleine Mädchen irgendwo im Gebüsch ein paar von seinen Lieblingsnüssen aufgetrieben hat.
Wenn sie Ruhe halten, sucht das kleine Mädchen Kauris Körper nach Zecken ab, und Kauri vertreibt mit dem Rüssel die Moskitos. Nachts lehnen sie sich aneinander und spüren sich gegenseitig. Dann mögen sie am liebsten gar nie mehr weiterziehen, weil sie denken, dass es hier ist, wo sie immer hinwollten.
Ob sie sich liebhaben? Natürlich; schließlich gibt es sonst niemand anderen weit und breit, und immerhin essen und duschen die beiden zusammen. Das verbindet.
Die beiden haben ein ungeheures Gedächtnis, aus dem sie viele gemeinsame Erinnerungen heraufholen können, denn schließlich sind sie beide Elephanten und haben sich wahrscheinlich schon einmal in einem früheren Leben gekannt, wie sie irgendwann festgestellt haben. Und beide haben ein kaum stillbares Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und sie haben sich.
Das wäre fast genug gewesen für einen langen Weg durch den Dschungel, aber früher oder später müssen sich die beiden überlegen, wo sie denn eigentlich hinwollen. Der Fluss, der so lange und so ruhig neben ihnen hergeströmt ist, ist irgendwie abgebogen oder versiegt, und nichts ist mehr da, was sie in eine bestimmte Richtung geleitet hätte, und unbedingt kräftiger werden sie mit der Zeit auch nicht.
Einmal reitet das kleine Mädchen wieder auf Kauris Nacken, und der Dschungel ist kühl und schattig. Da kommt ganz weit vorne eine große Mauer in Sicht, die geht mitten durch den Dschungel hindurch und hat keinen Anfang und kein Ende. Ist es das, was Kauri hinter dem Dschungel gesucht hat, als er sich von der Herde trennte?
Man kann nicht über die Mauer sehen; nichts deutet darauf hin, was hinter ihr sein könnte, wieder nur Dschungel oder ein ganz anderes, schöneres oder verwüstetes Land, aber das kleine Mädchen zeigt mit dem ganzen Arm auf die Mauer und sagt: "Da muss ich rüber."
Kauri ist gar nicht recht wohl dabei, mit dem kleinen Mädchen hinter die Mauer zu sollen. Er wird sie alleine ziehen lassen müssen, und er hat sie doch inzwischen so liebgewonnen. Stumm trägt er sie geradewegs auf die Mauer zu und sieht nur immer die Mauer näherkommen.
An der Mauer fasst er das kleine Mädchen wieder behutsam mit dem Rüssel um die Taille, hebt es hoch und setzt es oben auf der Mauer ab. Es ist an der Zeit. Sie dreht sich noch einmal zu Kauri um und gibt ihm einen ganz, ganz zarten Kuss auf die Rüsselspitze.
"Wir sehn uns wieder", verspricht sie. Dann hüpft sie auf der anderen Seite hinunter...
Kauri wartet noch ein Weilchen, ob noch etwas von ihr zu hören ist. Irgendwann, weiß er dann plötzlich, wird er auch hinter diese Mauer müssen. Er weiß jetzt, dass es sie hinter dem Dschungel gibt. Hier muss er wieder her. Er dreht sich um, als er wieder durch seine Tränen schauen kann, noch einmal die Savanne suchen. Noch eine Zeitlang streift er an der großen, langen Mauer entlang, die nirgends aufhört, dann wendet er sich wieder mehr in Richtung dschungeleinwärts. Tromp, tromp, tromp.
Übern Fluss zur Mauer