Kefir
Der Sonnenschein meiner Tage hat mir einen Kefir geschenkt.
Ich weiß nicht, was sie dazu getrieben hat, denn mir wird allein beim Gedanken an Milchprodukte, die man mit dem Löffel essen muss und die nicht nur in Beschaffenheit und Geruch allzu leicht mit Tapetenkleister zu verwechseln sind, körperlich schlecht. Anscheinend habe ich etwas an mir, das ihr sagt, Kefir wäre das richtige Geschenk für mich, weil sie das Dankbarkeit heischende Spenderlächeln dessen, der sich Gedanken und Mühe gemacht hat, lächelte. Also war ich dankbar und freute mich. Schließlich meinte sie es nur gut, und immerhin handelte es sich nicht etwa um einen gewöhnlichen Becher Kefir, wie man ihn stapelweise aus den Kühlregalen der Welt käuflich erwerben kann, sondern um eine große gläserne Schüssel voll Milch. Und darin schwamm er.
Hallo, schien er mir sagen zu wollen, ich zieh jetzt zu dir. Werden schon auskommen miteinander, was, alter Junge, ha ha ha...
Er sah frappant aus wie ein Klumpen Grieß oder ein fortgeschrittenes Magengeschwür, obgleich der Sonnenschein meiner Tage mir gesagt hatte, dass er ein Pilz sei; so aber sah er beim besten Willen nicht aus. Eher noch wie ein kleines Gehirnchen, und das ist wohl auch am wahrscheinlichsten.
Man musste ihn immer in schön frischer Milch halten, instruierte mich der Sonnenschein meiner Tage, und ab und zu vorsichtig mit dem Finger drehen, damit er von allen Seiten in seinem Element schwelgen konnte, dann wuchs er und gedieh, und man konnte sich zuweilen ein Schüsselchen wohlschmeckenden, gesunden Kefirs munden lassen. Da hatte ich den Salat. Ich stellte die Milchschüssel mit dem Kefir ganz unten in den Kühlschrank und wünschte ihm angenehme Ruhe.
Einmal fragte ich den Sonnenschein meiner Tage, woher sie denn den Kefir habe. Sie zuckte etwas ratlos die Schultern und entsann sich vage einer alten Bekannten, die ihr den Batzen eines Tages in einer großen gläsernen Schüssel voller Milch zum Geburtstag überreicht hatte. Wo sie ihn ihrerseits herhatte, ließ sich nicht mehr nachvollziehen, denn sie hatte vor Jahren nach Phoenix/Arizona geheiratet, und der Zettel mit ihrem neuen Namen war lange verschollen. Um dort drüben besser ein neues Leben anzufangen, hatte sie ihren Kefir in liebevolle Hände abgeben wollen. Soviel erfuhr ich. Jedenfalls: kaufen kann man keinen.
In den folgenden Wochen musste ich plötzlich erleben, dass nicht wenige meiner Bekannten einen Kefir ihr eigen nannten. Wie es so geht, wenn man sich für etwas zu interessieren beginnt: Mit einem Mal begegnet man dem Gegenstand seines Interesses allenthalben. Einen Kefir zu Hause zu haben schien etwas erstaunlich Alltägliches.
Die wenigsten der Befragten mochten Kefir, und keiner von ihnen konnte mehr genau angeben, wo er den seinen herhatte.
Ich betrachtete lange meinen Kefir, aber er dümpelte nur freundlichen Gesichts in seiner Milchschüssel herum und wollte ebenfalls nicht verraten, wes Geistes Kind er war. Er wuchs einfach. So fuhr ich fort, zum Nachtisch allenfalls eingemachtes Obst zu verzehren und ließ meinen Kefir sich fröhlich im Rückenschwimmen üben.
Irgendwie war er mir unheimlich. Wenn er tatsächlich lebte, aber durchaus keine Vorfahren hatte: wo kam er dann her, und vor allem, wo ging er hin? War er ein Abkömmling des Ur-Kefirs, der möglicherweise kurz nach der Scheidung von Land und Meer auf dem Planeten erschienen war und sich seither von Generation zu Generation weiterverbreiten ließ? War er am Ende unsterblich, solange er nicht aufgegessen wurde? Lebte er davon, dass jeder ihn weiterverschenken kann, aber niemand ihn essen will - ein raffinierter Parasit an menschlichen Gepflogenheiten? Die andere intelligente Spezies auf der Erde sind nicht die Delphine, auch nicht die Klasse der Primaten - der Kefir ist es! Worauf war er aus? Auf das Ewige Leben? Strebte er die Weltherrschaft an? Ein seit undenklichen Zeiten bestehender Plan eines übermächtigen Pilzes, der sich viel, viel Zeit lassen konnte? Eine einzige, in Jahrtausenden nicht verlöschende Lebensform? - Sie sind unter uns!
Schon war er ein beträchtliches Stück gewachsen, schließlich erging es ihm bei mir nicht übel mit meiner stets frischen Milch, und musste sich beileibe keine Sorgen machen, etwa in einem Anfall von Heißhunger verspeist zu werden. Mir schien, da blinzelte er mir verschmitzt zu.
Ich habe ihm Männchenmachen beigebracht und gebe ihm inzwischen sogar regelmäßig ein Gutenachtbussi. Einmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich mich vorzeitig unter fadenscheinigen Vorwänden von einer Einladung verdrückte, weil ich ihm heute noch nichts Nettes gesagt hatte.
Ja, wir sind jetzt richtig gute Freunde geworden. Ich esse ihn nicht auf, und er usurpiert mich nicht. Vielleicht ist es wirklich nur das, was der Kefir auf der ganzen Welt will: in Ruhe gelassen werden, in Frieden bei einem netten Menschen wohnen und leben und leben lassen.
Einen Ableger von ihm habe ich einem Arbeitskollegen mit Nickelbrille und Norwegerpullover geschenkt. Ich fand, die beiden passen zusammen. Die werden schon sehen, was sie davon haben.
Der Sonnenschein meiner Tage versteht sich noch sehr gut mit ihrem alten Kefir. Als sie sich einmal nach einem Besuch von ihm verabschiedet hatte, prustete er sogar übermütig einen Strahl Milch in die Höhe.
Vielleicht lasse ich uns nächstens zur Gesellschaft einen Joghurt schenken.
eins zurück