Kunitzburger Eierkuchen
Als ich einst in einer Praterbude ein trikotiertes Frauenzimmer in der Luft schweben sah, was, wie ich heute weiß, durch eine Spiegelung erzeugt wurde, und ein Leierkasten spielte dazu die "Letzte Rose", da ging mir das Auge der Schönheit auf und das Ohr der Musik, und ich hätte den zerfleischt, der mir gesagt hätte, das Frauenzimmer wälze sich auf einem Brett herum und die Musik sei von Flotow.
Karl Kraus
Der Weise, so wie er mehr denkt als er sagt, genießt auch mehr, als er ausdrücken kann und will... Meine Hand im Schlaf auf eine Falte eines seidenen Vorhangs geschlagen, diese Empfindung kann zu einem Traum aufwachsen und blühen, dessen Beschreibung ein Buch erfordert.
Georg Christoph Lichtenberg
Ach Kind, wenn du ahntest, wie Kunitzburger Eierkuchen schmeckt!
Joachim Ringelnatz
Eine Geschichte? Aber du hast doch erst gestern... Also gut, komm her.
Weißt du, es war einmal ein armer, armer Dichter, der hauste in einer Dachkammer hoch über allen anderen Dächern der Stadt, darin war es duster und feucht und kalt und klamm und gab es im Winter kein Holz, um einzuschüren. Zwölf oder vierzehn hohe steile Treppen führten dahinauf; in der schmalen Tür musste man sich bücken, um einzutreten, und wer eintrat, war fast immer ein bisschen enttäuscht, wie wenig es da zu sehen gab. Der Vermieter hatte die Kammer vormals benutzt, um seine Kartoffeln einzulagern. Es kam aber sowieso selten jemand.
Der Dichter lebte nämlich ausschließlich von dem, was seine Gedichte ihm eintrugen, und das war nun wahrhaftig nicht besonders viel, mein Kind, denn er war sehr gutgläubig, wie Dichter zu sein pflegen, und hatte einen hartherzigen Verleger, der auf seinen Schnitt bedacht war und immerfort darnach trachtete, den Dichter übers Ohr zu hauen.
Jüngst hatte sein Lektor ihn besucht, dem hatte er einen Stuhl angeboten und etwas von dem kalten Hagebuttentee von gestern, und damit war es ihm schließlich gelungen, den Herrn Lektor davon zu überzeugen, dass man des Dichters Druckkostenzuschuss in nächster Zeit nun wirklich nicht erhöhen dürfe. Der Lektor war froh, aus der engen, niedrigen Dachkammer zu entkommen und versprach sogar, als er dem Dichter die Hand schüttelte, mit dem Herrn Verleger über eine Erhöhung der Tantiemen zu sprechen.
Schon einmal nämlich hatte der Dichter einen größeren Posten seiner eigenen Gedichtbände zum Selbstkostenpreis aufkaufen müssen, weil die Menschen nicht die gesamte Auflage kaufen mochten und der Verleger die Bücher, die er druckte, schließlich irgendwem verkaufen musste. Auch er musste rechnen. Und da die Lagerkosten ein Erhebliches ausmachten, hätte man die Bücher, die doch für die Ewigkeit gemacht waren, einstampfen müssen, was natürlich niemandem so leid tat wie dem Verleger. Und dem Dichter. Er bekam die Bände natürlich zu einem Freundschaftspreis, denn er hatte sie ja geschrieben, und auch der Verleger war ein Mensch.
Nachdem der Dichter jedem seiner Freunde zum Geburtstag und zu Weihnachten je ein Exemplar geschenkt und trotzdem noch sieben mal siebzig und eines zurückbehalten hatte, da begann er, da es gerade wintern wollte, seinen Ofen damit zu heizen.
Wo sonst hätte er hinsollen mit all den Büchern, konnte er sich in seiner bescheidenen Bude doch ohnehin kaum rühren, auch lesen wollte er sie nicht mehr, weil er sie spätestens seit der dritten Korrektur der Druckfahnen auswendig kannte, und außerdem waren sie auf sehr gutem Papier gedruckt, gar nicht billig in den Läden, und brannten sehr lange, dass es eine Lust war.
So hatte der Dichter sich diesen Winter einiges an Heizkosten gespart und einen Computer leisten können, den er voller Stolz die zwölf oder vierzehn hohen steilen Treppen zu seiner Mansarde hinaufgeschleppt hatte.
Die nächsten paar Tage konnte man den Dichter viel mit den Tasten klickern und des öfteren leise fluchen hören, als er sich mit dem sehr verzwickten Geräte langsam vertraut machte. Doch studierte er gewissenhaft die Gebrauchsanweisung und schlug fleißig in den dicken, schweren Fachbüchern nach, die er sich weise dazugekauft hatte. Und nach Ablauf kaum einer Woche hatte er schon einen ganzen Zyklus neuer Gedichte auf dem Computer getippt, zentriert, formatiert, geblocksetzt und wieder gelöscht, in Dutzenden verschiedener Schriftarten und mittels Tintenstrahl so oft ausgedruckt, wie er nur begehrte.
Sie gerieten wohl, diese Gedichte. Fast noch schöner als auf dem Papiere konnte der Dichter sie auf dem Bildschirm vor sich sehen, nicht in seiner kühnen Charakterklaue, sondern in wie gestochenen Proportionalschriften, und geheimnisvoll schimmerten sie, zumal des Nachts, bernsteinfarben in seine dumpf erleuchtete Dachstube hinein.
Die Gedichte aber handelten vom Frühling, von Musik, vom unmäßigen Konsum von Bier und Zigaretten, auch von hübschen Mädchen, vom Tod in jungen Jahren, vom Widerstreit des Guten mit dem Übel, von der Befreiung der Arbeiterklasse und vom armen Dachstubenpoeten, so in seiner Klause sitzt und dichtet.
Alsbald jedoch packte den Dichter der Drang nach Höherem. Eine Festplatte mit Hunderten von Gigabyte war entschieden zu schade, um sie nur für schwindsüchtige Gedichtchen zu gebrauchen, dachte bei sich der Dichter; schließlich spielte man auch keinen Ringelreihen auf der Kirchenorgel.
Da stieg der Dichter auf die Straße hinunter, um besser überlegen zu können.
Bücher, dachte er, richtige große Bücher kann man nicht schreiben, indem man in muffigen Dachstuben hockt und sein Schreibzeug anödet. Wenn man sein Lebelang nur abwechselnd ein weißes Papier und einen schwarzen Bildschirm begafft, kann man nur bald alles vergessen, worüber zu schreiben sich lohnt. Man musste vielmehr hinaus in die Welt, um etwas zu erleben und sich den Wind da draußen ein gehörig Stück um die Nase wehen zu lassen! Die Themen liegen auf der Straße, nicht im Bett!
Wer wartete, dass eines Tages die Muse sehnsüchtig an sein Fenster klopfe, um ihn selig zu küssen, versäumte solange das pralle Leben draußen unter den Menschen. Und die Menschen, sie waren überall. Wo man hinschaute. Sie liefen auf der Straße umher, fuhren in den Autos hin und wider, kauften in den Geschäften ein, verbrachten ihre Zeit in Fabriken und Büros, telephonierten miteinander, unterhielten sich, stritten sich und liebten sich und aßen Suppe.
Die Mitmenschen sind unter uns. Man musste nur auf die Straße hinuntersteigen, sie zu erblicken. Den Dichter, wie er so in ihrer Mitte mitpulsierte, beachteten sie nicht, aber wohl faszinierten sie ihn. Als ob er sie zum ersten Mal sähe.
Sehr nachdenklich oder offen erhobenen Hauptes, das weiß ich nicht, mein Schatz, ließ er sich tragen von ihrem Strom, etwas verschüchtert oder auch ein lustig Liedlein auf den Lippen, ganz bestimmt aber sehr, sehr aufmerksam beobachtend, wem er da alles begegnete, ließ sich schwemmen und treiben durch die halbe, die hellwache Stadt, bis sie ihn langsam in immer ruhigere Seitenstraßen und Gässchen spülten, mitten in eine einladende Kneipe hinein.
Der Dichter erklomm einen Barhocker, am besten gleich an der Theke, und bei einem kräftigen Schnaps gelangte er zu der Einsicht, dass, wer Bücher schreiben wollte, richtige große Bücher, sich vor allem einmal niedersetzen und Bücher schreiben musste. Richtige große Bücher. Daran führte ihn kein Weg vorbei. Ob er das nun tat, nachdem er sich den Wind da draußen in der Welt ein gehörig Stück um die Nase hat wehen lassen, oder in banger Erwartung seiner Muse und deren Kuss am Dachfensterchen - wichtig war doch, dass sein Bleistift gespitzt war und sein Hauptspeicher zweihundertfuchzig Gigabyte besaß. Mindestens.
Welchen Unterschied machte es da, ob draußen die Muse klopft oder drinnen der Computer klappert? Zur gegebenen Zeit würden beide schon aufhören, und, wer weiß, vielleicht waren diese zwei sogar ein und dieselben? Letztendlich musste man sein Buch sowieso für sich in aller Einsamkeit schreiben, egal, wer so freundlich wäre, einen zu inspirieren. Auf seinem Hosenboden ist jeder allein.
Als des Dichters Blick zufällig den der Bedienung traf, deutete er noch einmal auf sein leeres Schnapsglas. Die Bedienung lächelte.
Sie war hübsch. Gerade spülte sie Pilsgläser aus, energisch und sehr geläufig aus dem Handgelenk. Ein junges Bäumchen, ungewöhnlich hoch und gerade gewachsen.
Die Kneipe war gut besucht, denn längst war der Abend angebrochen, vielleicht war es auch Freitag oder Samstag, aber die Bedienung hatte mühelos die Wünsche eines jedes einzelnen Gastes im Griff. Gelegentlich spannte sie jemand durch ein kurzes Wort oder auch nur eine unwidersprechliche Geste für einen Handlangerdienst ein, was jedes Mal sofort und mit allem Eifer befolgt wurde. Sie streckte etwa fordernd die Hand in Richtung eines Aschenbechers aus und schnippte hoppla mit den Fingern, da überschlugen sich die Gäste geradezu, ihr den Aschenbecher zum Leeren hinüberzureichen.
Eine Prinzessin, die ebenso souverän wie milde regierte, denn der gesamte männliche Teil der Kneipenbesetzung war ein klein bisschen verliebt in sie. Vielleicht sogar auch der weibliche, weiß ich's denn?
Sie musste den Laden ganz alleine schmeißen, musste selber einschenken, musste sogar selber Schmalzbrote schmieren und durfte sich nebenbei noch nicht verrechnen. Aber die Leute freuten sich, von ihr bedient zu werden, würden sie nie im Leben betrogen haben und tanzten notfalls gerne nach ihrer Pfeife.
Sie schwebte mit ihrem Tablett leichtfüßig wie ein fleißiges Bienchen in Birkenstocksandalen zwischen Theke und Tischen hin und her und hatte für jedermensch ein Lächeln oder ein warmes Wort überig. So machte sie die Leute immer ein klein bisschen glücklicher. Als ob der Job ihr Freude machte. Einmal hörte der Dichter sie mit Nadja angesprochen.
Nadja. Auch das noch.
"Nadja?" rief der Dichter sie an.
Dieser Blick.
Der Dichter bestellte sich Schreibzeug bei Nadja, um einige seiner Einfälle festzuhalten. Sie überließ ihm einen Rechnungsblock mit einer arabesken Brauereiwerbung darauf, sowie ihren Kugelschreiber.
Da schrieb der Dichter an seiner Theke ein langes, elegisches Gedicht über einen - ja, über einen geradezu besessenen Schriftsteller, der wie in einer Sucht Seite um Seite mit seinen Geschichten bedeckt. Das muss er: er muss es tun, er kann nicht anders: Dadurch spürt er, dass er lebt. Er hat sich fast ganz von der Welt und den Menschen zurückgezogen und spricht schon lange mit niemandem mehr, weil er immer und immer nur schreiben und schreiben muss. Er arbeitet sich auf und zugrunde bei seiner Schriftstellerei, nämlich um all den Spießern da draußen endlich einmal zu sagen, was ihnen eigentlich schon lange kund gehörte. Die Hand schmerzt ihn höllisch, die Augen wollen ihm zufallen und der Geist versagen, jedoch er schreibt mit allem ihm möglichen Einsatz, hungernd, fiebernd, vom holden Wahnsinn trunken, in seine eigne Welt versunken, dem Leben und dem Licht entflohn, ein Träumer, ein verlorner Sohn, und dann war der Rechnungsblock zu Ende.
Danach war der Dichter erschöpft und sehr zufrieden mit sich.
Noch einmal, wann ihn dürstete, fing er sich Nadjas Blick ein, auf sein leeres Schnapsglas deutend, und wiederum lächelte Nadja. Versonnen knipste der Dichter den Kugelschreiber an und aus und beschloss endlich, das Ding mitzunehmen. Zu klauen. Warum nicht. Den Blicken mancher Menschen hierinnen nach zu schließen, hätten die ihr noch ganz andere Sachen gestohlen. Um etwas von Nadja zu behalten. Rein um - .
Ohnehin war es schade genug, dass er so gar nichts anderes von ihr mitnehmen konnte. Ihren Namen etwa, ihren wie Schokoladenkonfekt auf der Zunge zerschmelzenden Namen.
Einen reinen Binnenreim, eine ideale Vokalharmonie mit Nasalem und sanft gleitendem Palatal darin, und auslautend ein zart sich öffnender Doppellaut. Die Zunge macht einen grazilen Hüpfer den Gaumen hinunter, einen Namen wie diesen in ein Kissen zu hauchen - : Na-dja - - - .
- oder ihr Lächeln zum Beispiel. Oder die Kurve, die sie sich zuweilen mit der ganzen Hand durch die Haare fuhr. Die Anteilnahme, mit der sie einem Gast die Beschaffenheit und Qualität der erhältlichen Baguettes erhellte. Oder den unnachahmlichen Schwung, mit dem sie im Gehen ein Stück von der Musik mitträllerte, welche mehr oder weniger dezent die rauchige Atmosphäre untermalte.
Solche Sachen kann man nicht mitnehmen, resignierte der Dichter. Deswegen heißen sie ja unnachahmlich. Entweder man braucht die ganze, komplette Nadja dazu oder zahlt und geht nach Hause.
Letzteres tat der Dichter, Nadjas Kugelschreiber an seinem Busen bergend. Wie wohl ist dem, der dann und wann sich etwas Schönes dichten kann. So dichtete der Dichter den ganzen Heimweg rauf und runter. Wenn was dabei rauskommt, nennt man das Sublimieren.
Am nächsten Morgen in aller Frühe, denn es hielt ihn nicht länger auf dem Lager, stierte der Dichter lange schwer verkatert und lustlos und mit herabhängenden Armen seinen Computerbildschirm an.
Von der vergangenen Nacht hatte er eine ellenlange Elegie, auf lausigstes Papier geschmiert, einen abgekauten Kugelschreiber und ein geschätztes halbes Promille Restalkohol zurückbehalten. Das Wichtigste, nämlich Nadja, diesen Idealfall einer Kneipenbedienung, musste er sich sozusagen freihändig, ohne Netz und doppelten Boden, auswendig merken.
So etwas war natürlich unbefriedigend für einen Dichter wie den Dichter. Und er beschloss, Nadja in einer ganz besonderen Geschichte erstehen zu lassen, so dass sie immer da war, sobald man in der Geschichte nachlas.
Ein Bild von ihr, günstigstenfalls ein Akt, sofern dies in ihrem Fall kein Sakrileg bedeutete, müsste auf immerdar einen Augenblick in ihrer Bewegung einfrieren; in einem Film mit ihr könnte man ihr eine Romanze andichten, wie man sie selbst gerne erlebt hätte, und auf ewig würde sie darin so jung wie heute erscheinen; in ihrem Lied, besser noch in einem Musikvideo, würde bis in alle Zukunft ihre liebe Stimme fortklingen, den Menschen und dem Dichter - esultate jubilate - zur ewiglichen Freude!
Dazu genügte es nun nicht, sie in irgendwelche ausgesuchten Metaphern zu kleiden, denn keineswegs war sie wie die Wintersonne, die nur an manchen Tagen scheint, oder etwas auch nur annähernd Ähnliches. Sondern sie war Nadja aus Fleisch, Blut und Charisma, die auf Erden wandelte, und man konnte ihr unmöglich gerecht werden, indem man sie kurzerhand mit Zauberwesen und Naturerscheinungen verglich.
Das mochte gut gewesen sein für einen mittelalterlichen Minnesänger, welcher selbst bass erstaunte, wie glücklich sich "Herz" auf "Schmerz" reimte, und seiner Wege zog, diese seine Kunde zu eigener und anderer Wohlfahrt an den Höfen der Welt zu verbreiten. Der Dichter aber besaß immerhin einen Computer! - und schaltete denselben ein.
Auch mochte es nicht genügen, so eine Geschichte in erlesene Reime zu fügen, sie mit Musik zu unterlegen oder sie zu illustrieren. Es war alles zu mager, zu dürftig, zu an den Haaren herbeigezogen, und für eine Nadja einfach beleidigend. Nadja lebte schließlich, und er wollte sie schon rein aus Respekt vor der Schöpfung nicht zu billig gestalten.
Jedoch durfte man sie auch nicht nur so dahinverfilmen. Es traf sie eigentlich einfach überhaupt gar nichts. Der Dichter probierte an ein paar Tasten herum.
Vollständig neue stilistische Mittel mussten gefunden, wo nicht eigens geschaffen werden für sie, denn Nadja sollte leben, lachen, tanzen, trällern, lieb sein, Schnäpse einschenken und über Köpfen hinweg umherjonglieren, mit langen Wimpern blinzeln, warm pulsen, wenn man sie berührte, atmen und nach Nadja riechen!
Ein grandioses Gesamtkunstwerk musste geschaffen werden, in welchem Nadja dem Leser, insoweit man im Rahmen eines dergestalten Pandämoniums, wie es der Dichter vorhatte, noch von Lesern, Hörern, Betrachtern und Benutzern sprechen durfte, unmittelbar entgegentrat und persönlich in die Augen sah!
Ein Weltgedicht, ein globales Lied, ein universales Bild, ein intergalaktischer Film, ja ein allumfassendes Medium schlechthin musste her, darin einer Nadja durch absichtsloses Schauen, durch bare sinnenübergreifende Rezeption, durch meditative Kontemplation begegnen konnte - einfach deswegen, weil sie da war.
Ein Multimedium, jawohl. Das musste gehen. Egal wie. Großes harrte das Licht der Öffentlichkeit zu betreten. Der Dichter klickerte wie verrückt auf den Tasten.
Hatte er nicht schon mal einen Film über so etwas gesehen? In dem eine bildschöne Traumfrau einem Computer entsteigt und die Hauptpersonen nacheinander durcheinander bringt? Aber was, solche Sachen waren sicher woanders schon lange möglich und mit handelsüblichen Programmen machbar. Manche Leute leben in der virtuellen Wirklichkeit aus irgendwelchen Höllenmaschinen besser, lieber und öfter als in der anderen. Wo sollte da überhaupt der Unterschied liegen? Wirklich ist jeweils das, was man gerade sieht, oder nicht? Des Dichters Verdienst nun würde es werden, dass man keine abenteuerlichen Brillen oder irgendwelche verwegenen Kopfhörer mehr aufsetzen musste. Nadja pur, ohne Filter.
Natürlich wollte er sie auf diese Weise "besitzen", wie man so sagt, na klar, wer wollte das nicht. Aber es war eine ausgesprochen keusche Weise, auf die Nadja ihm sodann gehören würde. Viel zu wertvoll war sie ihm, ihr unnötig Gewalt anzutun. Für sich haben und überall mit hinnehmen zu wollen, was man begehrt, war doch ein nichts mehr als natürlicher Drang.
Des Abends kehrte der Dichter wiederum in der Kneipe ein, darin Nadja bediente. Wie am Tage zuvor trug sie ihre schulterlangen rotbraunen Locken mittels zweier Spangen über die Ohren zurückgefasst, einen viel zu großen, weit, grob und einfach gestrickten Pullover unbestimmter Farbe und Form, worin sie größtenteils verschwand, mit hochgeschobenen Ärmeln, aus denen ihre gelenkigen, nervigen Hände mit den fichtenholzgeschnitzten Knöcheln hervorkamen, einen imposanten Geldbeutel hinter fast zu enge, schwarze Jeanshosen geklemmt, und natürlich Birkenstocksandalen. Riesengroße Ohrringe, solche große kreisrunde einfache silberne, bammelnde Affenschaukeln, zwecks der Show. Rauchte Camel. Kaum getraute sich der Dichter, sie anzusprechen, so schön war sie.
Nach dem einen oder anderen Glase Schnaps aber endlich, vielleicht auch nach beiden, fand er es nur noch recht und billig, Nadja von seiner künstlerischen Unternehmung wortreich Zeitung zu tun. Immerhin betraf sie Nadja mindestens ebensosehr wie des Dichters Verleger, welcher ja ebenfalls irgendwann davon erfahren musste. Und so verwickelte er Nadja in einen Disput, nie gedacht habend, dass er sich so weit trauen würde.
Er arbeite an einer Erzählung über sie, eröffnete der Dichter. Nadja machte sehr große Augen. Eine Geschichte!
So richtig eine Geschichte, wo sie drin vorkommt, und um was es denn geht? Und wann es denn fertig ist? Und wie es denn ausgeht? Und ob sies denn auch mal lesen darf?
Wie es ausgeht, nein, wisse er selber noch nicht so recht, beschwichtigte der Dichter, und eigentlich sei es keine wirkliche Geschichte. Es sei gleichzeitig auch noch ein Lied und ein Bild und ein Film und eine Symphonie und eine Skulptur und eine Photographie und Theater und was nicht noch alles. Ein wahres Multimedium eben.
Sein gesamtes Computersystem habe er revolutionieren müssen dafür, bis runter auf Betriebssystemebene, aber es lohne sich, und wenn es fertig sei, dürfe sie es ganz, ganz bestimmt auch mal lesen oder anhören oder sich selber den Puls fühlen oder je nachdem. Wenn nicht sie, wer dann.
Nadja hörte interessiert zu. Dass sie beim Aufpassen immer den Mund ein klein bisschen offenhielt, damit ihr nur ja nichts entging, musste er auch noch irgendwo unterbringen.
Viel zu bald musste sie wieder an die Arbeit; zum Schluss der Unterhaltung wünschte sie ihm gutes Gelingen, löste wohl die Ellenbogen von der Theke, stellte dem Dichter unaufgefordert noch einen Schnaps hin und nahm von neuem die zahlreich gewordenen Nadja-Rufe allzumal wahr.
Nadja, dachte sich der Dichter wieder zu Hause, Nadja muss eine Fee sein. Diese Augen sind eindeutig.
Er gedachte ihres Segenswunsches und stellte noch kurz den Computer an, um einige Verbesserungen bis morgen nicht zu vergessen.
Nadja ohnegleichen, Segensreiche gebenedeit unter den Mädels, neige dein Antlitz gnädig meiner Not.
Wirst schon sehn, sogar Wünsche kann sie erfüllen, gemahnte ihn der letzte rotzfreche Schnaps vor Lokalschluss, welcher sich ums Verrecken noch nicht ganz hinunterschlucken lassen mochte - und warf den Dichter alsdann rüde auf seine Pritsche.
Genau, bestätigte der große dicke Computer mit seinem freundlichen Gesicht, und summte und brummte daraufhin behaglich die ganze Nacht durch.
Eine Nacht, in welcher so recht die Geister unterwegs waren. Sowas gibt's. Unter der Decke aber, der Dachstube, des Dichters, mein Schatz, waberte milde lächelnd ein Nebel mit langen rotbraunen Locken, zu dem der Dichter im Wegschlafen noch einmal hinaufgrüßte - .
Wie staunte der Dichter da, als ihn sein Lektor wieder einmal persönlich aufsuchte. Welch Glanz in seiner Hütte. Leider konnte er ihm heute außer einem Stuhle rein überhaupt nichts anbieten, denn er hatte seine Nahrung die letzten paar Tage nur noch bei Nadja in der Kneipe zu sich genommen und gar nichts eingekauft, denn es gab dort bei Nadja eine hervorragende hausgemachte Gulaschsuppe feil. Außerdem hoffte der Dichter, dass ihm aus der Diskette über Nadja ein hübsches rundes Sümmchen entspringen möge, und konnte sich das leisten.
Der Lektor aber begann besorgt das Haupt zu schütteln und hub in dem nämlichen Sinne an, dass die Zusammenarbeit bisher doch recht vernünftig funktioniert hätte und dergleichen, und dann jetzt so etwas.
Damit meinte er die Diskette über Nadja. Es handle sich bei diesem Machwerk, und immer noch meinte er die Diskette über Nadja, um eine recht artig vorgetragene kleine Arbeit, mit einigen recht überraschenden und netten Ideen darin, doch werde er, der Dichter nämlich, wohl einsehen, dass ein renommierter Verlag wie der ihrige, des Lektors nämlich, solchen pornographischen Schund unmöglich ins Programm aufnehmen könne.
Ja, besonders die eine Stelle, sprach der Lektor und drohte schelmisch mit dem Finger, wo das Mädchen den armen Kerl ins Bettchen zerrt und am ganzen Körper abküsst, und die Knospen stehen ihr schon, und ganz feucht ist sie schon, und aalt sich und balgt sich mit ihm und und hilft ihm mit den Händen hinein, und kratzt sogar und beißt, und schreit wie wild und turnt immerzu herum und will oben liegen - also kurz: sowas geht natürlich nun wirklich nicht.
Man könne ja schon etwas knisternde Erotik mit reinnehmen, sowas geht immer und schließlich sind wir ja alle keine Kostverächter, nicht wahr, aber bitte ein bisschen weniger Saft.
Und das Mädchen sollte lieber, der Lektor sprach mit leuchtenden Augen und weitausladenden Gesten, nicht gar ganz so unbeherrscht und agil und geschmeidig, blutjung, frech, weich und warm sein. Die kleine hungrige Königstigerin könne sie in Grundzügen ja weiterhin bleiben.
Mann o Mann, was sich doch in den hiesigen Betten und unter den Duschen des Landes doch jeden Tag so abspielt. Mein lieber Schwan, da ist was geboten.
Der Lektor hatte sich richtig in Feuer geredet, denn auch er war ein lebendiger Mann mit Gelüsten von Fleisch und Haut, der durchaus einmal einen derben, zotigen Spaß zu schätzen wusste. Wie wir alle, mein Engel.
Schon im Aufbruch begriffen, gab der Lektor noch seiner Hoffnung und Zuversicht Ausdruck, bald wieder ein brauchbares Bändchen Gedichte von dem Dichter auf seinen Schreibtisch zu bekommen. Und ob der Dichter dieses Unstück von Diskette da überhaupt wiederhaben wollte (ja, er wollte), und er empfahl ihm somit den Herrn Verleger und dann auch sich selbst.
Erstaunlich, dachte der Dichter bei sich allein, wie unerwartet gut sein Computerprogramm funktionierte. Solche Sachen, wie sie ihm der Herr Lektor da ganz unwillkürlich vorgeschwärmt hatte, wären ihm auf seiner Diskette gar nie, aber nie! bewusst untergekommen.
Vielleicht hätte er das Ding gerechterweise doch zuerst einmal Nadja überlassen sollen? Niemanden ging es schließlich so sehr an wie gerade sie. Sie hatte ja keine Ahnung, was sich die Leute alles aus ihr und mit ihr machten, wenn sie sie erst einmal unbeobachtet für sich alleine hatten! Denn wie es schien, seinem Reden nach, hatte sie mit ihm geschlafen, hatte der Herr Lektor mit ihr geschlafen, hatte tatsächlich via Diskette mit Nadja geschlafen. Und wie es schien, hatte es ihr gar gefallen, hatte sie es gar sehr gern getan, hatte sich mit Wonne diesem wollüstigen Pressack hingegeben, auf dem Wäscheboden oder Himmelbett oder in wer weiß was für welchen Positionen - und wusste nichts davon.
Der Dichter drehte noch eine Weile nachdenklich seine Diskette in den Fingern herum und machte sich schließlich abermals auf in die Kneipe.
Dort saßen Leute, die rauchten und tranken, deren jeden der Dichter in den Verdacht nahm, heimlich seine Diskette und damit Nadja missbraucht zu haben. Kein Gedanke seitens des Dichters, sie so ausgesprochen schamlos geschändet zu haben, wie mancher Gast in anwesender Runde das unbemerkt tausendmal in Gedanken getan haben mochte. Und niemand mochte ein Wort davon wissen. Virtuelle Vergewaltigung: Der Fortschritt macht nicht halt.
Aber bisher hatte ja nur der Herr Lektor sie gehabt, oder? - Vielleicht auch der Herr Verleger, und der Verleger unterhielt seinerseits Beziehungen zu allen möglichen Leuten, denn er war ja Verleger. Der Dichter fühlte nach der Diskette in seiner Innentasche und hielt sie ganz, ganz fest.
Plötzlich war es ihm gar nicht mehr so recht, dass jedermann sich nach Belieben Nadjas bedienen konnte - auch wenn er, der Dichter, sie höchstselbst nach seinem Bilde neu erschaffen hatte, wie ihm beliebt hatte.
Vor lauter Ehrfurcht hatte er Nadja ja noch nicht einmal selber ausprobiert, wenn er sie auch sogar bis in die Kneipe mitschleppte. Vielleicht, um auch auf dem Heimweg nicht ohne sie sein zu müssen. Sondern sie viel zu eilig an den Herrn Verleger geschickt, und jetzt...
Und jetzt inzwischen begrüßte Nadja ihn schon lange als besonders guten Kunden mit einem extra warmen Lächeln. Irgendwann hatte er ihr ein geradezu unanständig hohes Trinkgeld zugesteckt, weil er sich für das verantwortungslose Benehmen eines sinnlos betrunkenen zufälligen Zechkumpanen entschuldigen zu müssen glaubte, wo er doch selbst immer so einen angenehm stillen Zecher abgab.
Manche Leute soffen sich ausschließlich nieder, nur um von Nadja bedient zu werden: denn fast immer ist man seiner Bedienung dankbarer, als man ihr sagt.
Manches lose oder neckische Gespräch war schon mit ihr zustandegekommen, was der Dichter hinterher regelmäßig auf dem Computer zu verarbeiten wusste.
Wie beiläufig erkundigte sie sich des öfteren nach ihrem Multimedium, welches Wort sie stets sehr gedehnt und wie in Anführungszeichen auszusprechen pflegte, und ob sie es dann auch mal ausleihen könnte; so auch heute.
Mit aller gebotenen Grandezza angelte der Dichter seine Diskette aus der Tasche, wedelte ihr damit kurz vor der Nase hallo und eröffnete lakonisch, klar sei das Ding fertig. Sogar schon vom Verlag abgelehnt. - Aus welchem kühlen Grunde, eröffnete er nicht.
Nadja freute sich spontan. Ein Sturm Jubel!, den Dichter aufgerichtet und auf die Schulter gehaut! - Schade, klar, dass sie's beim Verlag nicht haben wollten, aber's war ja auch der erste Versuch in der Richtung, und man kann ja schlecht erwarten, dass undsoweiter. Und ob sie's denn nun auf ein paar Tage haben könnte?
Der Dichter versteckte gewaltsam seinen Stolz, wie so sehr sie ihn mit ihren Worten aufrichtete, und zuckte nur betont kurz, jedoch mit einladender Geste, mit den Schultern.
Nadja, die Diskette verstauend, schubste ihn vertraulich mit dem Ellenbogen an und legte ihm noch ans Herz, heute ausnahmsweise mal nicht so viel zu saufen, okay?
Da blühte der Dichter innerlich auf vor Glück.
Sie war eine Fee, ohne Zweifel, sie war eine Fee. Er konnte noch gar nicht richtig daran glauben, dass sie nun wirklich leib- und wahrhaftig bei ihm in der Dachstube saß, zwölf oder vierzehn hohe steile Treppen über allen anderen Dächern der Stadt, um ihren Glorienschein bis in die hinterletzten Winkel seines düsteren Zimmers auszusenden, aber es war schon nicht anders.
Er mochte immer nur dasitzen und sich an ihrer Erscheinung weiden. Er war selig. Sein Herz erglühte und erblühte und trieb Ranken auf sie zu, die man nicht sah, die sie aber umschlingen und alsbald zuwuchern mussten, entsprungen aus Glück und aus Liebe, der Sonne entgegen.
Warum sie mitgekommen war? Wo der Dichter ihr die Diskette doch bereits in der Kneipe überlassen hatte? - Nun, mein Sonnenschein, die Feen tun oft Dinge, so wir Sterblichen ohne weiteres nicht ergründen können, um uns den Himmel zu bereiten oder in die Hölle zu stürzen. Je nachdem. Sie kommen zu uns und folgen ihrem eigenen Plan. Wer denselben ausbaldowert hat, sind oder wissen sie nur selber. Nadja wird also gewusst haben, warum. Außerdem, stell dir vor, hatte sie vielleicht keinen Computer zu Hause.
Nun drückte sie dem Dichter die Diskette in die Hand und befahl ihm, diese einzulegen. Was der Dichter, ohne den Blick von Nadja zu wenden, tat.
Da begann der Computer wieder zu summen und zu brummen und zeigte blitzschnell ein paar seiner schönsten Bilder her. Das war ein Zucken und Flimmern, ein Spucken und Schimmern!
Der Dichter drückselte noch an ein paar Tasten herum, bis schließlich auf dem Bildschirm in schönen, großen Lettern der Name NADJA leuchtete. Nadja schien's zufrieden.
Warum er das geschrieben habe, fragte sie dann.
Der Dichter schluckte.
Ob er nicht wüsste, fragte sie weiter, dass es lästerlich sei, dem Herrgott in sein Handwerk dreinzupfuschen. Der Künstler sei der Schöpfer schöner Dinge, nicht aber der Schöpfer schlechthin - nicht erdreiste er sich! Und der Dichter schlug die Augen nieder.
Nadja hatte sich geradehin zu einer unheilkündenden Erscheinung ausgewachsen, strahlend und schrecklich in ihrer fürchterbaren Schönheit und Herrlichkeit. Indem der Dichter noch beschämt das Haupt gesenkt hielt, gewann sie jedoch allmählich ihr altes liebevolles Wesen zurück. Sie beugte sich zu dem Dichter hinüber und strich ihm sanft übers Haar.
Er habe es ja gut gemeint, das wisse sie ja, und außerdem an sich seine Sache gar nicht mal so übel gemacht. Und küsste ihn auf die Wange. Da wagte der Dichter wieder aufzublicken.
Um den menschlichen Schöpfer, fuhr Nadja fort, ist es einmal so bestellt, dass er über ein gewisses Maß an Schaffenskraft nicht hinausgelangt. Wo doch, da führt dies zu Unheil und Verderben. Der Mensch bescheide sich, von der Schönheit der Dinge zu singen und sagen, von mir aus auch vom Gegenteil davon, sie abzubilden, vertonen oder sonstwas, davon verstehst du mehr als ich, aber es steht ihm nicht und nicht an, die Welt neu zu erschaffen. Etwa einen Lehmklumpen zu formen und ihm das Leben einhauchen zu wollen. Da kannst du hauchen solang du willst, Er - sie sandte einen Blick zur Decke - mag nun mal keine Kollegen haben, die an Ihn heranreichen. Das müsstest dabei gerade du recht gut verstehen, du Künstlerseele. Sei froh, dass du überhaupt soweit Sein Ebenbild sein darfst, Pygmalion. Was Er zu Seiner Ehre braucht, das wird Er Sich schon selber erschaffen, da mach du dir mal keine Sorgen über das. Des Weibes Leib ist ein Gedicht, das Gott der Herr geschrieben, hast du einen von deinen Kollegen sagen hören. Wenn du dir nun auch was Hübsches zusammenstellen willst, na bitte, greif zu, aber wenn du dir Blumen malst, musst du sie nicht auch noch in die Vase stellen wollen. Und mich schon gleich gar nicht, ja? Dir muss genügen, wenn deinesgleichen deine zurechtgepatzten Lehmklumpen angucken oder respektive deine Gedichtchen lesen will. Damit, guter Freund, hast du mal gerade genug Macht! Soviel, wie dir eben von Ihm aus zusteht. Und hat Er's schon mal schlecht mit dir gemeint?
Schau, vor ein paar Wochen hast du so ein goldiges Lied geschrieben, das hast du deinem Kumpel vorgespielt - sie zeigte auf eine vergessene, betagte Guitarre, die hinter des Dichters Bett hervorragte - und, schau her, nach ein paar Strophen hat er's mitgesungen, und so eine Gaudi habt ihr zwei dabei gehabt; am nächsten Tag ist er noch mit dem Lied im Ohr aufgewacht. Reicht dir das nicht?
Und wie war das denn, als du bei dieser Illustrierten volontiert hast? Jede Woche haben sie dich das Kreuzworträtsel herstellen lassen, und so- und soviel hundert Leute haben es jede Woche aus freien Stücken gelöst - und mit einem Feuereifer manche davon, was soll ich dir sagen - und alle, alle haben sie ihren Spaß dabei gehabt, versprech ich dir. Sag bloß: Ist dir das zuwenig?
Und deine Satire im Regionalblättchen damals: In der Woche darauf hat ein Familienvater in der Südstadt seinen Zweitwagen abgeschafft. Das wolltest du doch bloß, oder nicht?
Vielleicht handelst du mit deinem Verleger ja mal einen fairen Vertrag aus? Vielleicht gehst du ja mal zu einem koscheren Verlag, bei dem du nicht bloß deine eigenen Bücher zusammenkaufst? Sondern irgendwen erreichst, der vielleicht sogar eines schönen Tages zu dir kommt, dir auf die Schulter poltert - sie tat es - und dir sagt: Mensch, Alter, das hast du mal toll da hingebracht, echt, hat mir richtig was gegeben, Herrschaftszeiten, wie machst du das immer bloß, hat mir gut gefallen: hey danke, du!?
Aber diese selbe Freude, die du spürst, wenn du mich anschaust, die spürst ausschließlich und einzig du.
Weil du wohnst in niemand anderem außer in dir, und niemand außer dir in dir (falls du mir folgen kannst). Die Mittel sind dir nicht gegeben, dass du sowas irgendjemandem rüberbringst. Da stehst du allein, Kapo.
Der Dichter konnte nur gebannt Nadjas Worten lauschen, die sie so unbekümmert wie irgendein Zum Wohl vorbrachte.
Auch als sie meinte, du machst bloß unnötig alles kaputt mit deinem ungebändigten Ehrgeiz. Wirst schon sehen, was du mit solcherartigen Programmen anrichten kannst. Will doch nicht jedermann so und so genau wissen, warum du so lustig oder so traurig bist.
Müssen denn aber auch alle Leute gleich mit ihrer Bedienung schlafen, bloß weil sie dir gefällt!
Das letzte war keine Frage.
Drück mal auf Return, befahl Nadja schließlich, der Dichter drückte auf Return, und das Programm nahm seinen Lauf.
Bevor er sich's versah, hatte er Nadja auf seinem Schoße sitzen. Die eine Hand noch am Computer, hatte er die andere schon hast du nicht gesehn an ihrem weitläufigen Pullover, ja, guck hin. Und sie küsste ihn. Sie küsste ihn!
Mitten auf den Mund. Ganz, ganz lange, und öffnete mit ihrer Zunge seine Lippen und tastete damit in seinem ganzen Munde herum. Die Zunge sah sich um wie ein kleines, neugieriges Tier auf Besuch. Alles voller Speichel. Nadja!
Endlich durfte er ihr mit allen zehn Fingern durch das Haar pflügen, sie ganz und gar in die Arme nehmen und ihr, denk dir nur, sogar unter den Pullover fahren. Endlich durfte er den Reißverschluss ihrer Jeans herunterziehen, ihr den riesigen großmächtigen Pullover über den Kopf stülpen helfen, und sich selber dazu ausziehen durfte er auch.
Sie war bestürzend schön in ihren Dessous. So ungeheuer lang und rank und so milchkaffeefarben. Er durfte ihr die schwarzen Strumpfhosen herunterrollen und küsste sich wieder die langen, gar nicht endenwollenden Beine hinauf. Nein, so viel Nadja, so viel Nadja.
Sie atmete laut. Kleider lagen nun allerorten und zuhaufen im Zimmer verteilt, auf dem Bette umspielten sich zwei flatternde Körper, den Computer bedeckte ein Wust Wäsche.
Nur als ein Stück von ihm in sie eindrang, ließ sie einmal kurz seinen Blick los, welchen sie sonst unverwandt gefangenhielt. Sie fasste ihn fest umbeint, und als er sich in ihr zu bewegen begann, da fühlte er vor allem ihre Schenkel an seinen Seiten scheuern und ihre Fersen auf seinem Kreuze verschränkt. Ja, und ihre Hände, die seinen Rücken auf und ab wanderten. Ein paarmal, mochte er schwören, stieß er ihr bis auf den Grund. Oft stöhnte sie leise. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dass sie dann Wörter wie "Tiefer", "Fester", "Mehr" oder "Schneller" flüsterte.
Jetzt hielt sie die Augen geschlossen, hob nur zuweilen den Kopf, um ihm kleine geschwinde Küsse ins Gesicht zu mogeln.
So einen wunderherrlich falben und samtenen Mädchenkörper hatte Nadja, so angenehm feucht und eng gebaut da unten, so handlich und praktisch und doch einfach nirgends, nirgends zu Ende. Er fühlte sich so stark wie nie in seinem alten Leben, wie er in ihr immer noch mehr anwuchs und nie mehr wieder aufhören würde. Leder, leder, leder.
Gelegentlich unterbrachen sie ihren Ritt, um sich gegenseitig entdecken zu gehen. Denn Nadjas Körper war von oben bis unten voll der süßesten und köstlichsten Details, und man konnte wunderbar auf ihm spazierenschnüffeln.
Darauf balgten sie sich ein wenig gleich jungen Hunden herum, lachten mitsammen über irgendetwas, und hinterher führte sie das kostbare Teil persönlich wiederum ein und federte sofort wieder im richtigen Rhythmus mit. Die Bettwäsche lag schon lange auf dem Boden.
Besonders lieb von ihr fand er, dass sie sich nicht aus barem Pflichtgefühle ihm hingab, sondern ganz offensichtlich auch ihr eigenes Vergnügen dabei suchte. Sie stand, so wie sie war, zu ihrer Körperlichkeit, und war immer und überall sehr bewusst Frau mit allem Drum und Dran.
So lief das Programm wie geschmiert. Nadja vögelte mit einer Begeisterung wie beim ersten Mal, einem Einfallsreichtum wie beim tausendsten Mal und einer Hingabe wie beim letzten Mal. O Jammer - warum war das nur so schön?
So aber, wie er Nadja an die Matratze nietete, wusste er, dass er sie ein Leben lang in Erinnerung behalten würde: Ihr Gesicht von unten, wie sie den Kopf hin-und herzuwerfen begann und immer heftiger japste, wie sie sich vom Bett abstemmte und in seinen Schultern festkrallte - wie sie auf einmal schrill kreischte!, zu weinen anfing und mit ihrem Geschluchze um die Wette lachte und am ganzen Leibe schwitzte - wie sie auf einmal unter ihm ihren Unterleib beutelte und schüttelte, so dass er Mühe hatte, sich noch auf ihr zu halten, und mit den Beinen strampelte und sie wieder weit von sich spreizte und nicht wusste, wohin mit sich, als habe ihr letztes Stündlein geschlagen - wie sie sich dann da unten zusammenzog und losließ, zupackte und losließ, noch und noch einmal, als wollte sie ihn leersaugen, während er immer und immer noch einmal zustieß, erlahmend allmählich, aber niemals am Ende, so als gälte es sein Leben, immer noch und noch einmal - bis endlich er sich tief in ihr verlor: Da hatte er sie so grenzenlos und unsäglich lieb.
Sie seufzte noch einmal auf, als er sich aus ihr zurückzog. Sie lagen nahe beieinander noch eine lange Zeit und ließen die Erinnerung, dass es schön war, noch lange, lange nachtröpfeln. Es musste keiner von ihnen ein Wort sprechen.
Alsdann kam Nadja mit all ihrer Zärtlichkeit plötzlich über und über ihn her, ihn noch ein wenig zu herzen und zu küssen. Eine kleine große Schmusekatze, die das jetzt brauchte.
Da sie aber dabei wieder ein Bein um des Dichters Lenden schlang, fühlte derselbe sich abermals erschreckend, unbändig anwachsen. Und bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte, fuhr dasselbe Stück von ihm in sie hinein. Flüssig und widerstandslos - und zuerst genossen sie es beide.
Katastrophen brechen zuweilen mit ungeahnter Naturgewalt über uns herein; wir wissen nicht, wann die Sterne explodieren oder wie weit der Andromedanebel an uns heran will; wir stecken da nicht drin, wo die Erde bebt oder uns der Himmel auf den Kopf fällt; manchen Frevel sehen die Götter, die unendlichen, uns Menschen, den nichtigen, uns schwachen, im Staube kriechenden Kreaturen, ohne nachzufragen nach: Denn ein einzig Mal darf man ja so vieles, lässt man ja so manches durchgehen. Feen steigen manchmal zu uns hernieder vom Elysium und meinen es gar nicht mal unbedingt so böse mit unsereinem - oder meinst du es übel mit den Feldmäusen?
Aber eine von denen Feen zu multiplen Orgasmen zu treiben, das heißt das Feuer vom Himmel holen.
Es fuhr nämlich, diabolus ex machina, ein Blitz in des Dichters Dachstube. Das heißt: So kam es ihm später vor; obwohl das Wetter so ganz überhaupt nicht danach gewesen war. Die Versicherung sprach sich vernunfthalber für einen Kurzschluss im Computer aus, was zwar eine sehr natürliche und durchaus einsichtige Erklärung ist. Ebenso wahrscheinlich ist eine Implosion des Monitors aufgrund mechanischer Einwirkung, weil Nadja dem Dichter etwa einen stumpfen Gegenstand übers Haupt gezogen haben mochte, jedoch der Dichter war nicht von seinem Blitz aus heiterem Himmel abzubringen.
Tatsache ist jedenfalls, dass unversehens die Dachstube so hoch über allen anderen Dächern der Stadt in hellen Flammen stand, die ganze Stadt sah es; ein wütendes Feuer loderte in den Himmel hinein, kein irgendwie fahrlässig gestifteter oder auf sonst nachweisbarem Wege entstandener Dachstuhlbrand, sondern aber eine urplötzlich losgebrochene Ekpyrosis. Die Feuerwehr konnte nichts mehr retten.
Man fand den Dichter ein paar Stockwerke unter seiner ausgekokelten Wohnung kauern, nackt wie bei seiner Geburt, auf der Treppe neben seinem offiziellen Auf-dem-Stockwerk-Klo zusammengebrochen, von Weinkrämpfen geschüttelt.
Zum Glück erkannten ihn die Hausbewohner, denn ansonsten war ihm gerade so viel Hab und Gut geblieben wie den Tieren des Waldes.
Man lieferte ihn auf die Neurologische ein, weil er sich gar nicht besänftigen lassen wollte; körperlich fehlte ihm nämlich gar nichts. - Ein Nachbar musste für ihn bürgen.
Er erwachte in einem großen weißen Raume in einem ebensolchen Bett und blinzelte zuallererst in das Gesicht des Lektors. Derselbe sprach gerade etwas. Er hätte sich mal wieder bei ihm melden wollen, erzählte der Lektor, und habe erleben müssen, dass des Dichters ganzes, aber auch ganzes, Obergeschoss niedergefackelt sei. Alles sei ausgebrannt, alles.
Die gesamte Einrichtung, Tisch und Bett, Kleider und Papiere, Manuskripte, der teure Computer mitsamt allen Disketten.
Allen? fragte der Dichter.
Allen, knirschte der Lektor zwischen den Zähnen.
Der Dichter atmete auf.
Er legte sich in seinem Bette zurecht und überlegte, was er gelernt hatte.
Nadja, du regenbogenfarbene Fee am grauen Himmel über der Stadt, o bist vielleicht in Flammen auf- oder in das Große Sein eingegangen – oder beides – aber umsonst sollst du doch nicht hienieden geweilt haben.
Nämlich wissen wir nun, dass ein noch so lebendig gemaltes Glas Schnaps niemals gut schmecken kann. Dass man in sein Lieblingslied nicht und nicht mit einsteigen kann und beim Versuch dazu höchstens den Lautsprecher beschädigt. Dass man sich mit seinem Monroe-Poster nur sehr einseitig unterhalten kann. Und dass man die Mädchen auf dieser Welt so nehmen muss, wie man sie vorfindet, sich jedoch keines selber backen kann. Und dass nicht mal die Mona Lisa lacht. Nicht mal lächelt. Nicht mal die. Ein Mädchen ist nämlich kein Musikvideoclip. Aber trotzdem auch manchmal, wenn auch nur manchmal, ganz schön: Das hatte der Dichter nun gelernt.
Ja, doch, irgendwie lebt das Zeug alles schon, mein Goldstück, solange man sich's vorstellen kann und mag, aber eben doch nicht so richtig. - Nicht wahr?
Und dass man höchstens eine Geschichte schreiben kann über das, was man gelernt hat. Im Idealfall. Von der Muse inspiriert, die bei einem ans Fenster klopft, oder auch vom Leben, das man sich hat um die Nase wehen lassen. Oder von beiden. Oder so ähnlich. Oder so.
Und das, mein Kind, tat der Dichter.
Als der Dichter wieder als geheilt aus der Neurologischen entlassen war und sich halbwegs eine bescheidene neue Existenz geschaffen hatte, indem seine alten Nachbarn für ihn sammeln gegangen waren, da führte ihn sein erster Weg wohin? In seine alte Lieblingskneipe natürlich, in der Nadja bedient hatte. Arschklar.
Und Nadja war da. Sie war gerade sehr beschäftigt, musste mindestens wenn nicht noch mehr Jobs gleichzeitig erledigen und war ganz schön am Rotieren. Sie lächelte ihm gehetzt zu.
Na, alte Saufnase, sagte sie, lässt dich auch mal wieder blicken. Setz dich nieder, gib Ruhe und sei schön brav, ich komm gleich mit deinem Schnappes.
Der Dichter setzte sich nieder, gab Ruhe und war schön brav. Legte sich für alle Fälle Schreibzeug zurecht und wartete auf seinen Schnappes. Nun war alles wieder beim alten.
Und du schläfst jetzt nicht, wenn ich mit dir rede, hörst du, sondern schiebst schön langsam ab in dein Bettchen. - Ja?
Für die Margit
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