Coming Out

 

... und Mutter und Tante Pelargonie lassen sogleich ihre Torte sinken: "Wer mag das sein?"

Cathrin hätte die Klingel gar nicht gehört. Erst jetzt, wo Vater den CD-Spieler endlich einen Schluck runterdreht, fühlt sie sich, als ob ein paar Pfund zähflüssige Schlacken aus ihren Ohren abfließen könnten, und die Türklingel dringt jetzt auch bis zu ihr durch.

Wer soll auch noch für andere Eindrücke empfänglich sein, wenn rundum "Die schönsten Weihnachtsmelodien" jodeln. Hat Cathrin doch schon alle Ohren voll zu tun, um wegzuhören. Diese Lieder nämlich sind keineswegs technisch unbegabt gemacht oder aus Versehen oder Unwissenheit etwas schief geraten - sondern absichtsvoll verzerrt und böswillig verunglimpft. Sie verspotten Lieder, an denen gutwillige Christenmenschen ihre Freude haben könnten. Sie lassen keine anderen Fratzen neben sich gelten und rotten alle restliche Musik ruchlos nieder.

Nimm das Transeamus usque Bethlehem. Ist das nicht ein wirklich herzergreifend schönes Lied?, jedoch in diesem Totentanz eines bösartigen Kulturbolschewismus auf derart üble Weise abgebratscht, dass... Cathrin verbeißt sich gerade noch ein hilfloses Schluchzen.

Warum sie nicht in ihr Zimmer geht, die Tür verrammelt, um die schlimmsten Hämmer abzuprallen und etwa in Ruhe ihre Kissen nasszuheulen? Weil Mutter die Tür innert zwei Sekunden wieder aufplatzen wird, mit dem Hinweis, dass es in Cathrins Stall zu stickig werde und sich "an so einem Tag" von der Familie abzukapseln "eine Unhöflichkeit bis zum Gehtnichtmehr" darstelle, "schon mal gegenüber der Tante Pelargonie". Darum.

Denn Cathrins Eltern und Tante Pelargonie machen fahrlässig gemeinsame Sache mit der seit Jahren verschworenen Bande marodierender Mikrophon-Großverbrecher, dieser ungestraft freilaufenden Mafia mit Paten wie René Kollo, Heino und Peter Alexander, Helfershelfern wie Luciano Pavarotti und Peter Hofmann und Adepten wie Patrick Lindner und Brunner und Brunner. Sie demontieren unter dem Schutze einer fadenscheinigen Legalität das musikalische Erbe der bekannten, wehrlosen Völker, allen ehrbaren Musikern zum Hohn. Ihre Gewaltstreiche tragen Projektnamen wie Unvergessene Evergreens, Unvergängliche Schlager, Abendserenade, Melodien für Millionen (Millionen wovon eigentlich?) oder eben Die schönsten Weihnachtsmelodien, und werden auch noch johlend für teuer Geld verdealt. So die raffinierte Masche der einschlägigen Täter.

Die Suchterscheinungen der User sind schon bei geringen Dosen Euphorie, eingeschränkter Gesichtskreis und verminderter Antrieb. Ach, die Welt ist so böse und schlecht, denkt Cathrin: So böse und so schlecht.

Unwillkürlich wünscht sie sich einen ausführlichen Teil "Wohnungsmarkt" greifbar herbei, mit "Zimmer in WG ab sofort frei" darin, o Herr lass es geschehen, erinnert sich aber nur vage einer Schlagzeile aus einer von Vaters letzterworbenen Zeitungsausgaben: "In Deutschland wird jedes fünfte Mädchen von Familienmitgliedern oder engen Bekannten misshandelt."

"Wer mag das sein?" fragt Tante Pelargonie auch noch so klebrigsüß wie ihr eigenes alljährliches Butterzeug. Dabei entblödet sie sich doch selber nicht, jedes Jahr über den Studenten-Servis einen verkrachten Soziologen als Nikolaus herzubestellen - für eine Vierzehnjährige! Cathrin wartet ja schon darauf, dass eines Tages ihr eigener Martin vor der Tür steht, im roten Pelzmantel mit Rauschebart und Kartoffelsack, und fragt, ob sie auch schön brav war. Ein Glück, dass der lieber in der Kneipe jobbt und die mittelständische Weihnacht nicht auch noch künstlich unterstützt.

Schon ist Mutter an die Tür geflattert, Vater versucht seine CD nicht zu leise zu stellen, Tante Pelargonie grinst Cathrin morgen-Kinder-wirds-was-geben an, und Cathrin versucht es wie alle Jahre mit Fassung zu tragen.

"Stellt euch nur vor, wer gekommen ist", kehrt Mutter ins Wohnzimmer zurück - "der Nikolaus!"

"Wer hätte das gedacht", kratzt Cathrin Kuchenbrösel von ihrem Teller und kassiert einen strengen Blick von Vatern. Und im Korridor poltert irgendwas rum. Klar: der Studi, der sich für einen Dreißiger die Stunde vor fremden Leuten zum Affen macht. Geld stinkt halt nicht. Schon gar nicht zu Weihnachten.

Und da steht er auch schon in der Stube, der diesjährige Pausenkasper. Holla, einen Großen haben sie heuer rausgesucht, einen Langen, Stattlichen, großmächtig in seinem Scharlachmantel, fast wie...

"Martin??" verschluckt sich Cathrin, und Vater tritt ihr nur dieses eine Mal noch nicht vors Schienbein.

"Von drauß vom Walde komm ich her", fängt Martin zu deklamieren an, "ich kann euch sagen, ich mag nicht mehr."

Cathrin hätte gar nicht gemerkt, dass sie das Gedicht im Kindergarten mal irgendwie anders gelernt haben muss, nur Tante Pelargonie starrt den von ihr finanzierten Weihnachtsmann entrüstet von ihrem Sofaplatz aus an. Mutter steht mit verschränkten Armen und gefrorenem Grinsen in der Wohnzimmertür, und Vater wartet erst mal ab, was das werden soll.

"Allüberall in den Sofaritzen seh ich fette Weiber sitzen", berichtet Martin. Mutter und Tante Pelargonie formulieren bereits ihr Beschwerdeanschreiben.

"Und aus jedem Garagentor bricht ein vollbeladner Mercedes hervor."

Langsam schnappt auch Vater nach Worten. Normalerweise, wie Cathrin aus Erfahrung weiß, lässt er von BMW-Fahrern und Studentenvolk nicht viel auf seinen 200 kommen.

"Und wie ich so strolcht' und wie ich so sann, merkte ich endlich: Ihr kotzt mich so an."

"Junger Mann", spricht Tante Pelargonie endlich gefasst, "Sie kommen sich offenbar ungeheuer progressiv vor. Sie werden das hübsch bleiben lassen. Sofort. Vor dem Kind da." Mit einer Handbewegung zu Cathrin.

"Genau", springt Mutter ihr bei, "mit diesen zornigen jungen Leuten Ihres Schlages hätte man früher kurzen Prozess gemacht." Wenn Vater seine 'Hörzu' nicht schon vor fünf Jahren gekündigt hätte, würde er jetzt heftig damit rascheln.

Nikolaus Martin setzt seinen Kartoffelsack ab und schaltet auf Prosa um: "Ihr Spießer glaubt anscheinend, weil ihr für mich bezahlt habt, könnt ihr euch auf eure fetten Ärsche niedersetzen und zuschauen, wie ich eure höhere Tochter beschere."

Martin! Höhere Tochter! Jetzt übertreib's mal nicht! - Aber doch, genau das, für ihr gutes Geld einer Bescherung ihrer Tochter resp. Nichte beiwohnen zu können, haben Mutter und Tante Pelargonie geglaubt.

"Ihr Spießer lernt's doch nie", schüttelt Martin verächtlich seinen falschen Rauschebart, "ihr meint, für dreißig Mark die Stunde könnt ihr meine Seele kriegen. Kaufen, kaufen, kaufen! Aber den Gefallen tu ich euch nicht. Ich sag auch weiterhin die Wahrheit."

"Was Sie für die Wahrheit halten, junger Mann", stochert Tante Pelargonie mit ochsenblutrot lackiertem Zeigefinger in die Luft, "ist ein Vergehen an dem Marktunternehmen, das Ihnen vertraut hat, an uns, an der kleinen Cathrin und letzten Endes auch an sich selbst."

"Ach leckt mich" - und beginnt das Innerste seines Kartoffelsackes nach außen zu stülpen. Leer, stellt Cathrin jetzt doch ein bisschen enttäuscht fest.

"Die Bescherung entfällt heuer", sagt Martin entschlossen, geht mit zweidrei Stiefelschritten in seinem wehenden roten Mantel auf Mutter zu, packt sie im Genick, staucht sie in die Knie, schlägt ihr den Sack über den Kopf und stellt ihn mit Mutter darin wieder aufrecht hin. Weg ist sie.

"Nun werden Sie nicht auch noch ordinär", wollte Tante Pelargonie ihren Nikolaus gerade zurechtweisen, da ist er auch schon bei ihr am Sofa, packt sie mit demselben Griff am Kragen und lässt sie in seinem Sack verschwinden. Vater ist in Sorge, dass Tante Pelargonie seine Kaffeetasse vom Wohnzimmertisch kickt.

"Und du, Opa, hilf mir mal tragen."

Vater lässt von seinem Plan ab, sich ein weiteres Stück Nusstorte zu angeln, schüttelt zwar den Kopf, erhebt sich jedoch umständlich vom Sofa und hilft Martin den schweren Kartoffelsack schultern, dem man aber immer noch beim besten Willen nicht ansieht, dass darin zwei ausgewachsene Damen zappeln und wimmern sollten.

In der Wohnzimmertür dreht Martin sich noch einmal zu Cathrin um. "Was ich dir sagen wollte. Ich bin nämlich schwul. Is nicht persönlich. Hat nix mit dir zu tun, Cathrin."

Die beiden Mannsbilder schleppen ihre Last in den Korridor hinaus: "Hast' deine Mercedesschlüssel dabei, Opa?"

"Hast denn die Rute auch bei dir?"

"Har har."

Cathrin hört noch die Tür ins Schloss wummsen.

Wenn man erstmal auf die fünfzehn zugeht, ist Weihnachten auch nicht mehr das, was es mal war. Und bestimmte Sachen auf der Welt kann man auch anders sagen.

Vaters CD leiert noch. Kurze Pause - und jetzt die Regensburger Domspatzen mit "Stille Nacht".

Klingeling!

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