Die Weiße Frau

 

Aber die Wilde Frau hielt dem Bauern seine treulose Verleugnung vor und sprach zu ihm: "Hätte deine Frau bösen Hass und Ärger gegen mich zu erkennen gegeben, so würdest du jetzt unglücklich sein und nicht mehr von dieser Stelle kommen; aber weil deine Frau nicht bös war, so liebe sie fortan und hause mit ihr getreu und untersteh dich nicht mehr, daherzukommen, denn es steht geschrieben: 'Ein jeder lebe getreu mit seinem getrauten Weibe', obgleich die Kraft dieses Gebots einst in große Abnahme kommen wird und damit aller zeitlicher Wohlstand der Eheleute. Nimm diesen Schuh von Gold von mir, geh hin und sieh dich nicht mehr um."

J. & W. Grimm, 1816

 

Als ob dergleichen heute noch jemanden interessierte: In der Stadt ist eine Weiße Frau gesichtet worden. Die Zeiten sind modern, hart und schnell - auch im Rückwärtsgang. Alles dabei. Sogar die Romantik.

 

*

Laut unserem Lokalkäseblatt soll die Weiße Frau seit dem letzten Vollmond mit Vorliebe durch die Altstadt geistern, in wallenden, weißen Gewändern, die angeblich sogar fluoreszieren. Laut Augenzeugen ist sie wunderschön, blickt Passanten aus großen Augen unheimlich melancholisch an und spricht sogar mit manchen ein paar Worte.
      "Es ist wie ein Mädchen aus uralten Zeitungen". Ich verlas es mit großer Wichtigkeit, als ob ich den "Siebten Sinn" gäbe.
      Gabi hatte gerade zum fünfzigsten Mal ihren geringelten Lieblingssocken gestopft. Sie setzte meine Brille ab und reichte sie mir wieder herüber. Dabei steht sie ihr um Klassen besser. Dann bückte sie sich, um sich den Socken wieder über den linken Fuß zu streifen, und ächzte dabei:
      "Lies das lieber nochmal richtig."
      "Entschuldige", las ich nochmal nach, diesmal mit der Brille auf, "'ein Märchen aus uralten Zeiten' muss das heißen."
      "Eben", schlüpfte in ihre Birkenstocks, probierte ihre Zehen durch und topfte sich um, zu mir an den Küchentisch.
      Ich hatte die Zeitung zur Seite gefaltet und schnippelte wieder Knoblauch für meine nächste Flasche Knoblauchwodka.
      "Heißa. Was soll denn das geben" fragte Gabi, auf zwei Fäuste gestützt.
      "Ist gesund. Probier mal!"
      Gabi wich zurück. "Gesund?? Wogegen soll das helfen? Gegen ungebetene Gäste?"
      "Possen. Gegen alles. Gicht, Sommergrippe, Impotenz. Was man so hat. Und wenn man mal nix hat, ergibt es eine ideale Suppenwürze."
      "O ja. Und wenn es lange genug durchgezogen hat, kann man sich die Schuhe damit putzen. In meine Suppe kommt mir diese Schweinerei jedenfalls nicht. Und wenn du mir davon noch lüsterner wirst als sowieso schon, musst du dir voraussichtlich schon selber behelfen."
      Aber sie half mir trotzdem, die Knoblauchschnipsel in die Bouteille Gorbatschow zu praktizieren, gemäß Hausrezept von meiner Oma. Das ist nämlich ein ziemlich zeitraubendes Gefiesel. Fünf vollständige Knollen in eine zu einem Drittel geleerte Flasche.
      Ob sie das mit der Weißen Frau glaubte, fragte ich Gabi.
      "Wieso nicht", zuckte sie die Schultern und sammelte Knoblauchschnipsel vom Boden auf, was bei diesem Rezept die meiste Zeit einnimmt. "Verrückte Weiber gibts immer." Na, das hätte ich mal sagen sollen. Frauen dürfen alles, nur Gabi noch mehr.
      Eine weitere Stunde lang saßen wir einträchtig und stumm und schnippelten und stopften Knoblauch in den engen Flaschenhals und nahmen gelegentlich einen Schluck, wenn Herr Gorbatschow überzulaufen drohte.
      Als es auf Mitternacht ging, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich stemmte mich in meine Allewetterjacke, meine Docs trug ich damals sowieso den ganzen Tag, und winkte Gabi durch die Tür: "Ich schau mal nach, ob das Express noch offen hat."
      Gabi wusch mein Mördermesser unter der Spüle von Knoblauchhäutchen frei und winkte nass zurück: "Manitu leuchte dirr heim, Weißerr Mann. Grroßes Medizin kann ja noch nicht sein Arrbeit tun. Fliehe das Kicherrwasserrtipi und kehrre zurr Squaw zurrück, bevorr weißes Sherriff Büffelhäute forrderrt."
      "Tschüss, Squaw", sagte ich und zog aus, die Weiße Frau zu finden:
      "Howgh!"

 

*

Es war einmal ein Bauersmann, der nach getaner Arbeit in die Schänke trachtete. Er wusste, im tiefen, tiefen Wald, da lauerte die Weiße Frau den Bauersleuten auf, die nach getaner Arbeit in die Schänke trachteten, um sie mit ihrem Kusse zu verführen. Er war ein braver, getreuer Mann, aber leider lag das Express in einer unbeleuchteten Wohngegend, und vorne an der Ecke stand eine bleich funkelnde Gestalt in einem wehenden, weißen Gewand.
      "Komm!" flüsterte die Weiße Frau. Tatsächlich: Sie fluoreszierte sogar.
      Ich schritt auf sie zu. Vielleicht konnte ich der Dame behilflich sein?
      Sie wehte mich eisig kalt an. Sie sprach mit geschlossenen Augen zu mir.
      "Du musst mich dreimal küssen", hauchte sie, "dann bin ich erlöst."
      Natürlich ließ ich mich nicht lange lumpen. Wir getreuen Bauersmänner sind ja grundsätzlich hilfsbereit.
      Nach dem ersten Kuss löste sich die Frau von mir und himmelte: "Dreimal! Du musst wieder hierher zum Kreuzweg kommen!"
      Ich machte im Express Polizeistunde.

 

*

Gabi tapste noch tapsig in der Küche herum und gähnte: "Wie war's im Express?"
  "Keine Büffelhäute", sagte ich.
   "Mhm."
   Den Tag über häckselte ich weitere sechs Knollen Knoblauch zu Mus und trank einen weiteren Drittelliter Gorbatschow aus, um einen Vorrat zu haben. Gabi war im Schlafzimmer mit unser beider Bügelwäsche beschäftigt. Am Abend wurde Gabi stutzig, als ich sagte: "Ich geh noch auf einen Schnabus ins Express."
      "Was, heute??" äugte sie vom Herd herüber, Ravioli mit Buttermilch versetzend.

 

*

Die Weiße Frau erwartete mich an der bekannten Hausecke. Sie trug diesen Abend zusätzlich einen weiß wehenden Havelock: Es wurde kalt. Ich kam meinem Job innig nach. Die Weiße Frau hatte eisig kalte Lippen und war schrecklich wunderschön. Wieder entschwand sie in die entgegengesetzte Richtung als ins Express.
      Nach Polizeistunde erwartete mich Gabi in der Küche und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
      "Naaaa?" sagte sie.
      "Naaaa?" sagte ich und plumpste bäuchlings mit meinen Docs ins Bett.

 

*

Am selben Nachmittag machte ich mich zurecht: Ich putzte mir die Zähne und suchte mein abgestandenes Rasierwasser hinter Gabis Pillen hervor. Gabi beobachtete es.
      Knoblauchwodka kann man nie genug haben, erzählte ich Gabi und schnippelte Knoblauch und soff Gorbatschow wie ein Schimpanse auf Speed.
      Bei Einbruch der Dunkelheit erhob ich mich sehr umständlich vom Tisch des Hauses und sprach: "Ich geh..."
      "... ins Express?" kam Gabi mir freudig zuvor. "Nimmst' mich mit?" und fiel mir um die Schultern. Das hab ich gerne, wenn ich gerade nichts besseres vorhabe.
      "Männersache", knurrte ich und knöpfte mir Gabis Arme aus dem Genick.
      Sie schnappte mich abermals von hinten um die Allewetterjacke, trommelte mir feste mit den Fäusten darauf herum und rief, plötzlich ganz verzweifelt: "Nie nimmst du mich mit! Gib mir doch auch mal einen Schnabus aus!"
      "Andersmal", und war schon zum - Wumm. - Treppenhaus hinunter.

 

*

Die Weiße Frau winkte mir schon weitem zu. Sie war so schön wie nie zuvor. Ich wankte so gerade, wie ich noch konnte, auf sie zu und schloss sie in die Arme. Es war der Himmel. Ich riss ihr brutal das weiße Gewand vom Leib. Sie leistete keinen Widerstand. Ich küsste ihr einen Kuß in den Schlund, der Kaiser Barbarossa erlöst hätte. Sie antwortete. Ich fühlte in ihrem Schritt nach. Sie war schon feucht. Ich löste mitten auf der Straße meinen Gürtel. Sie lenkte mich zu einer Kühlerhaube, die da bis jetzt sinnlos in der Gegend herumparkte, und zog mich auf sich nieder. Bevor ich längelang über meine Hose stolperte, drang ich in sie ein wie in ein Fass Honig. Ihre handlichen, festen, jungen, lebendigen Brüste wetzten an mein Hemd. Dann brachte ich sie zum Atmen wie eine Marathonläuferin. Ich sah ihren Körper unter mir auf der Kühlerhaube auf und ab gehen. Sie umbeinte mich mit glasigem Blick und stöhnte leise, ein paarmal laut. Ich wurde rücksichtsloser und stieß meine Lust, meinen Frust, meine Kraft und meinen Saft in sie. Sie genoss es. Ich ritt auf ihr davon und sah noch, wie ein Nachbar in einem oberen Stockwerk sein Fenster zudonnerte. Ich wollte nochmal. Sie aalte sich auf der Kühlerhaube.
      "Und?" fragte ich sie und ordnete mein Hemd in die Hose, um im Express nicht schon allzu zerrauft anzukommen, "bist du jetzt endlich erlöst?"
      Die Weiße Frau war fest in ihr Gewand gehüllt und bewegte zur Antwort ihren Kopf, indessen sie entschwob. Ja: So schön hätte es sein können.
      Kann man rein geistig untreu sein? Ich fürchte, dass ja. Plötzlich lag ich vor unserer Haustür. Wer war wieder so freundlich gewesen, mich nach Hause zu tragen? Mein Geldbeutel lag in Reichweite; es fehlte nur der Betrag meiner durchschnittlichen Zeche. In meine Mütze gleich daneben hatte eine mitfühlende Seele sogar 23 Pfennig geworfen. Wo ich schon mal da war, sperrte ich auf. Wie ich mich auf Gabi freute.

 

*

"Grüß dich! Irgendwas erreicht, Heinrich von Ofterdingen?" prostete Gabi mir mit ihrem Teehumpen zur Begrüßung zu. Holla, so fröhlich heute? Und:
      "Schau mal, wer da ist!"
      Schnitt: Ins Bild trug die Weiße Frau höchstselbst aus der Ecke vorsichtig einen dampfenden Teehumpen zum Küchentisch, damit sie nur ja, nur ja keinen Tropfen verschüttete.
      "Yasmin! Der Lange!" stellte Gabi uns vor. "Ihr kennt euch ja!"
      Yasmin hatte sich behutsam hingesetzt.
      "Der küsst gar nicht schlecht, dein Langer", zwinkerte sie kokett.
      "Gelle?" schlürfte Gabi... was eigentlich? Tee??
      "Aber sein Atem!" Die zwei Weiber schubsten sich vor Kichern in die Seiten und kannten sich selbst nicht mehr.
      Ich schälte mich aus meiner Allewetterjacke, setzte mich dazu, bekam keinen Humpen Tee angeboten, erfuhr aber nach und nach, dass die Weiße Frau Gabis alte, esoterisch ausführlich bewanderte WG-Kollegin Yasmin war, die zur Zeit eine Fotoserie für ihren Derzeitigen ausrichtete.
      "Der Arko macht doch im Moment wieder Praktikum", berichtete Yasmin aufgekratzt, "diesmal beim Kunstfotolabor. Da hab ich ein paarmal im Kostüm die City abgeschritten, um zu sehn, wie das farblich kommt. Der Lange hat mir gezeigt:", anerkennende Bewegung mit dem Ellenbogen in meine Richtung - : "'s geht so."
      Es geht so, es geht so! Gabi hatte das Knie über der Eckbank eingeklemmt und verschüttete vor Gelächter Tee auf ihre Lieblingsringelsocken.
      "Dann versteh ich aber immer noch nicht...", versuchte ich mich einzuklinken, "dass das gleich in der Zeitung..."
      "Oooch", lachte Yasmin, "denk dir nix, Langer, irgendwas müssen die doch drucken. Außerdem..." und sie stellte vorsichtshalber ihren Humpen auf dem Tisch ab, "außerdem ist demnächst der Jürgen nochmal fällig. Der macht nämlich grade Praktikum beim lokalen Käseblatt. Und der braucht da doch auch was zu schreiben." Mach einer was gegen die Schwesternschaft der Frauen. Das Leben kann ein Schwein sein.
      Gabi versuchte sich zu fangen. Sie angelte eine Flasche unter dem Tisch hervor und mit der anderen Hand einen weiteren Humpen aus dem Küchenbord hinter sich.
      "Da", sagte sie versöhnlich zu mir, "trink du auch was von deinem Knoblauchwodka. Gegen Gicht, Sommergrippe und Impotenz. Er duftet sonst aus."
      Die Flasche war non solum bis zum Bodensatz ausgeleert, sed etiam angewärmt.
      "Ihr Schweine!" rief ich.

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