Schadensbegrenzung:

Ich kann es einfach nicht lassen, wie es scheint. Dies ist die Fortsetzung zu "Lauries Angst", irgendwie, und ein weitergesponnenes Ende zu "Mit den Augen eines Mörders". Es handelt sich hierbei, wie immer, um eine nicht kommerzielle fan fiction, dessen Autorin es im Träume nicht einfallen würde, irgendwelche Urheberrechte zu verletzen. Die Story ansich gehört jedoch mir. Alles crystal clear...? Fein.

Mit den Augen eines Mörders
* Rays Offenbarung *

von DannyD

Ein verrückter Bankräuber zum Frühstück, ein irrer Selbstmörder zum Lunch, ein durchgeknallter Amokläufer zum Fünfzehnuhr-Kaffee - das Tagesmenü war fast komplett. Natalie MacGuire, ihres Zeichens Polizeipsychologin und leidenschaftlicher Anhänger von horrormäßigen Kriminalgeschichten à la Stephen King, hatte im Grunde keine Lust mehr auf weitere Auseinandersetzungen mit der Irrationalität und Unberechenbarkeit des menschlichen Geistes, und eigentlich war ihre Arbeitszeit fast vorbei. Sie freute sich schon auf ein heißes Bad, ein gemütliches Abendessen allein, ein an den Nerven zehrendes Buch und vielleicht das eine oder andere Gläschen Baileys. Oh, ja, das wär's, dachte Natalie und warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr. Noch zwei Minuten, dann würde sie diesem Irrenhaus den Rücken zukehren und erst in etwas mehr als zwölf Stunden wieder auftauchen. Natalie setzte ihre Unterschrift unter den soeben fertiggetippten Bericht über den Amok-Kerl und warf den silbernen Kugelschreiber mit zufriedenem Grinsen auf den Tisch.

Es war 16:59 Uhr, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch anschlug. Natalie hatte gerade ihre hochhakigen Pumps mit bequemeren Turnschuhen vertauschen wollten, als das Schrillen des Telefons das kommende Unheil - ihren geplatzten Feierabend nämlich - einläutete. Sie schloß für einen Moment die Augen. Es war klar, daß sie abheben mußte, ihr Pflichtgefühl war stärker als ihr Verlangen nach einem erholsamen Abend.

"MacGuire," muffelte sie in den Hörer und schlüpfte schon automatisch zurück in ihre Pumps.

Am anderen Ende meldete sich ihr alter Freund und Kollege Richard Thornton. "Hi, Nat," begrüßte er sie fröhlich, und das war ein klares Zeichen dafür, daß Natalie ihren Feierabend streichen konnte. Richard war niemals fröhlich, und er lächelte nur, wenn er etwas von ihr wollte. Berufskrankheit, nannte er es. Er war in seiner fünfzigjährigen Dienstzeit schon so manchem Irren begegnet, daß er verlernt hatte, fröhlich zu sein. Natalie bedauerte ihn insgeheim.

"Spuck's schon aus, Rick!" forderte sie ihn auf. Es war sicherlich kein "Hallo, wie-geht's?-Anruf", und Natalie wollte die Sache schnellstens erledigen. "Was hast Du, Al Capone, der die Freiheitsstatue klauen will, und ich soll' ihn davon abhalten?" Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

Richard schien ihren Witz nicht komisch zu finden, denn er antwortete ernst: "Es ist schlimmer." Er machte eine Pause. Um die Spannung zu erhöhren? Natalie verdrehte die Augen.

"Was ist schlimmer für euch Amerikaner als die Freiheitsstatue?" gab sie neckend zurück. Sie genoß diese kleinen Sticheleien. Sie kam aus einem kleinen Örtchen in der Nähe von Melbourne, Australien, und..... Warum schlich Richard so um den heißen Brei herum? fragte sie sich plötzlich und runzelte die Stirn. "Was ist los, Ricky-Boy?!"

*

Richard Thornton knallte den Aktendeckel auf den Tisch. Seine Miene veränderte sich nicht, als er die Fakten herunterrasselte: "Raymond Bellano, Alter 41, von Beruf Zimmermann; er nahm einen Job bei einer gewissen Laurie Fisher, Industriedesignerin, an, um ihr Apartment zu renovieren...." Er stockte mitten im Satz und sah Natalie verlegen an, die in einem Sessel vor seinem Schreibtisch saß. Natalie hob die Augenbrauen. Sie erwiderte Richards Blick und verstand.

"Sie haben sich verliebt, hatten wilden, hemmungslosen Sex miteinander, er hat sie betrogen, sie hat ihn rausgeschmissen, er war frustiert und verletzt und hat sich gerächt," fuhr sie fort. "Liege ich mit meiner Vermutung richtig?"

Richard Thornton blickte sie sprachlos an. Er warf einen Blick auf die Akte und dann auf Natalie. "Woher weißt du das?" fragte er verblüfft. Natalie schlug lässig ihre Beine übereinander. "Ich habe mein Examen mit 'sehr gut' bestanden," gab sie nur zur Antwort und bedeutete Richard, fortzufahren.

Etwas irritiert nahm Richard seinen Bericht wieder auf. "Äh, ja, du hast soweit Recht. Nachdem ihm Ms Fisher die Freundschaft gekündigt hatte, mußte sie ihn allerdings weiter beschäftigen, damit er das Apartment fertigstellte. Kurz: Er hat ihre Freundin umgebracht, mit der er vorher geschlafen hatte, und danach auch noch den Ex-Freund von Ms. Fisher...." Wieder machte Richard eine Pause. Er blätterte in den Seiten herum und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

Natalie schüttelte unmerklich den Kopf. "Ich warte noch immer auf die grausigen Details, Rick," meinte sie nur. Sie winkte einem Polizisten zu, der gerade an der Glasfassade vor Richards Büro vorbeiging. "Hi, Charlie," formte sie mit den Lippen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Richard.

"Als ein Kollege von Ms. Fisher, Max Campbell, die Baupläne des Apartments überprüfte, stellte er fest, daß Bellano zwischen den Wänden eine Art von Korridor oder Gang geschaffen hatte, in dem er hauste und die Dame des Hauses auf Schritt und Tritt beobachten konnte. Als Campell versuchte Ms. Fisher telefonisch zu warnen, wollte Bellano sie umbringen. Glücklicherweise kam die Polizei rechtzeitig, doch Bellano gelang es, zu verschwinden. --- Bis gestern. Er hat sich freiwillig der Polizei gestellt." Richard klappte die Akte zu und reichte sie Dr. MacGuire. "Jetzt bist du dran, Nat. - Hier steht noch mal alles drin, was Du wissen mußt. Die Fotos von den Opfern habe ich Dir in einen Extra-Umschlag gesteckt. Sieh' sie Dir nach Möglichkeit nicht an."

Natalie stand auf und nahm ihre Sachen. "Danke, daß du mir den Abend wenigstens auf eine angenehme Art versaut hast," meinte sie zynisch. "Wäre doch jammerschade, wenn ich mein Talent an einen simplen Trickdieb verschwenden müßte." Sie ging zu Tür. Richards Stimme hielt sie jedoch zurück.

"Ich weiß, daß es überflüssig ist, aber ich sage es trotzdem. Paß' auf dich auf!" In seinem Gesicht spiegelte sich etwas wieder, daß Natalie vorher noch niemals bei ihm gesehen hatte. Echte Besorgnis.

Natalie verließ wortlos das Büro.

 

*

Die psychiatrische Abteilung des Untersuchungsgefängisses unterschied sich nicht wesentlich von den normalen Haftanstalten. Nur ein bißchem mehr Stacheldraht, ein bißchem mehr Wachen und ein bißchen mehr Erstaunen, wenn eine atemberaubend schöne Frau wie Natalie MacGuire ihren Ausweis präsentierte und mit einem aufregenden Lächeln sagte: "Dr. Natalie MacGuire. Ich komme im Auftrag von Ricahrd Thornton und möchte mit Raymond Bellano sprechen."

Der diensthabende Beamte hatte sich als 'Clarence Grant' vorgestellt und studierte eingehend ihren Ausweis. "Ich bitte um Verzeihung, aber wir hatten hier nicht mit einem weiblichen Doc gerechnet...," entgegnete er kühl. Er musterte Natalie von oben bis unten.

Natalie wußte, daß sie Schwierigkeiten bekommen würde, aber es machte sie rasend, wenn sie derart blöde - männliche - Kommentare hörte. Ebenso kühl erwiderte sie: "Hören Sie, Grant, mir ist völlig egal, wen oder was Sie hier erwartet haben. Ich bin hier, um mich mit Mr. Bellano zu unterhalten." Mit einer eisigen Schärfe in der Stimme fügte sie hinzu: "Auf der Stelle!"

 

*
 

Das Vernehmungszimmer kam eher einer Einzelhaftzelle gleich. Keine Fenster, eine einzige Tür, ein Tisch, zwei Stühle, eine Funzel, die vermutlich eine Lampe darstellen sollte. Die Wände kalt und ungemütlich. Es war, als wäre selbst die Luft etwas kälter hier drin als auf dem Flur.

Natalie hatte auf einem der Stühle Platz genommen und wartete darauf, daß man ihr den Gefangenen vorführte. Natalie hatte die Akte gelesen. Die nüchterenen S/W-Fotos vom Tatort lagen noch unangetastet auf dem Beifahrersitz ihres Wagens. Natalie sah sich selten die Fotos der Opfer an, da sie diese Bilder sicherlich niemals vergessen würde. Ihr Gedächnis arbeitete zu neunzig Prozent fotografisch, und da war es besser, die schrecklichen Aufnahmen nicht anzusehen. Der Tod in schwarz-weiß Hochglanz. Ein ekelhafter Gedanke. Doch auch sonst eilte Natalie der Ruf voraus, besonders 'empfindlich' zu sein - was immer das auch heißen mochte.

Die Tür öffnete sich, und zwei Beamte brachten Ray Bellano herein. Ein dritter Beamte blieb neben der Tür stehen, die Hand an der Waffe. Natalie spürte sofort, daß von diesem Mann, von diesem Mörder <lt. Akte>, keine Gefahr ausging. Nein, sie wußte es sogar. Sie konnte es nicht benennen, aber sie hatte ein Gefühl. Sie stand auf.

Sie erblickte einen ziemlich gutaussehenden Mann, dem man sein Alter sicherlich nicht ansah. Dunkles Haar, das bis auf die Schultern fiel; schlank, aber muskulös; kräftige Hände, die harte Arbeit gewohnt waren. Ray trug die übliche Gefängsniskluft: Blaue Hosen, schwarze Schuhe, blaues Hemd. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt, an den Füßen rasselnde Ketten. Die beiden Polizisten dirigierten ihn auf den freien Stuhl und befestigten ein Ende der Ketten am Fußboden. Natalie schüttelte den Kopf. Sie haßte solche entwürdigenden Maßnahmen.

"Ich glaube kaum, daß wir die Fesseln brauchen werden, Officers," meinte sie ruhig, aber bestimmt. Die Beamten sahen sie überrascht an. "Das ist Vorschrift, Ma'am," erwiderete der Kleinere der beiden. Ein kleines Namensschild wies ihn als 'Officer P. Clarke' aus.

Natalie hatte keine Lust, sich auf einen verbalen Kampf mit Drohungen und derartigen Dingen, einzulassen. So nickte sie nur verstehend. "Ich werde morgen mit Ihrem diensthabenden Beamten sprechen," entschied sie. "Danke, meine Herren, ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche!" Wieder sahen sie ungläubige Augen an. Clarke öffnete den Mund zum Protest und Hinweis auf die Vorschriften, doch Natalie kam ihm zuvor. "Gehen Sie!" Die plötzliche Schärfe in ihrer Stimme ließ alle zusammenzucken, auch Ray. Die Beamten verließen den Raum. Nummer 3 an der Tür folgte ihnen.

Natalie setzte sich wieder und schloß die Akte. "Mr. Bellano, mein Name ist Natalie MacGuire. Ich bin Polizeipsycholgin und wurde beauftragt, mit Ihnen zu sprechen." Sie reichte ihm die Hand.

Langsam, ganz langsam hob Ray den Kopf. Sein Blick ruhte auf ihrer ausgestreckten Hand; dann höher...

Natalie stockte für einen Augenblick der Atem, als sich ihre Blicke trafen. Diese Augen! schoß es ihr durch den Kopf. Fast schwarz, durchdringend und doch auf unglaubliche Art sanft und zärtlich. Augen, die bis in ihr Innersten zu schauen schienen. Augen, die sie jetzt verblüfft ansahen. Natalie hielt immer noch ihre Hand zum Gruß ausgestreckt. Sie wußte, daß sie ihn damit überrascht hatte. Sie war ja selbst über ihre Geste erstaunt. Normalerweise hatte sie noch niemals einen ihrer Patienten berührt. Doch bei diesem hier war es anders. Natalie konnte es nicht benennen, aber sie hatte dieses Gefühl.

Es klirrte metallisch, als Ray seine gefesselten Hände hob und zögernd ihre Hand ergriff. In den letzten Stunden seit er hierher gebracht worden war, hatte er nur Ablehnung und abgrundtiefe Abscheu verspürt. Die Beamten hier behandelten ihn wie ein Tier, wie ein gefährliches Monster, das eigentlich nicht mehr verdiente, am Leben zu sein. Daß die gelegentliche derbe Behandlung der Wachen und Polizisten - ein Stoß in den Rücken, wenn es ihnen nicht schnell genug ging; ein zufälliger Tritt gegen die Beine - alles andere als freundlich war, konnte er sogar irgendwo verstehen. Aber diese Frau hier schien das genaue Gegenteil zu sein.

Ihre Hand war schmal und warm. Der Händedruck fest und bestimmt. Ray konnte das Parfum riechen. Blumig frisch, fröhlich. Laurie hatte ein ähnliches benutzt. Er erinnerte sich an ihr rotblondes Haar, an die fast elfenbeinfarbene Haut, an ihre zärtlichen Stunden, an das Haus.... Ray zog seine Hand zurück.

"Tut mir leid wegen der Handschellen, Mr. Bellano," entschuldigte sich Natalie lächelnd. "Ich verabscheue derartige primitive Maßnahmen zutiefst und werde mit dem zuständigen Beamten sprechen." Ray schüttelte unbekümmert den Kopf. "Schon okay," sagte er einsilbig.

"Erzählen Sie mir, was passiert ist!" forderte Natalie ihn auf.

Fünfmal.

Ray antwortete nicht, sagte kein Wort. Was hätte er auch sagen sollen? Sie würde es nicht verstehen - noch nicht.

Natalie hatte mittlerweile keine Lust mehr. Das Gespräch verlief so ganz anders als sie sich es vorgestellt hatte. Warum wollte er nicht reden? Verlieren konnte er nichts, da sie an ihre Schweigepflicht gebunden war. Selbt in einer Gerichtsverhandlung würde ihre Aussage nichts bewirken. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr zeigte halb zehn Uhr abends. Zum Teufel mit ihrem gemütlichen Krimiabend.

"Mr. Bellano, wenn Sie nicht mit mir sprechen wollen, dann werde ich Sie jetzt verlassen," schloß Natalie ihre 'Sitzung' und stand auf. Vielleicht würde sie sich an der Ecke noch eine Pizza holen, bevor sie nach Hause fuhr, überlegte sie..

Natalie griff nach ihren Sachen, die auf dem Tisch lagen, als Rays Hände plötzlich hervorschnellten und die ihren umklammerten. Natalie zuckte erschrocken zusammen und wollte reflexartig ihre Hände zurückziehen, doch er hielt sie mit eisernem Griff fest. Seine dunklen Augen blickten sie flehend an. "Sehen Sie sich die Wohnung an," bat Ray leise. Er wollte, daß sie verstand. Natalie starrte ihn an, sah seinen Schmerz in den Augen. Seine Bitte überraschte sie völlig. Sekunden vergingen. Sie blickte auffordernd auf ihre Hände, und er gab sie frei.

"Ich werde sehen, was ich tun kann," versprach Natalie und verließ hastig den Raum. Auf ihren Handgelenken zeichneten sich rote Striemen ab...

 

*
 

Natalie hatte sich die Idee mit der Pizza längst wieder aus dem Kopf geschlagen. Der Vorfall mit Ray hatte sie zutiefst aufgewühlt. Nicht, weil er sie hart angefaßt hatte, nicht weil sie für einen furchtbaren Moment Todesangst gehabt hatte... Es war dieser flehende Ausdruck in seinen Augen gewesen, der ihr nicht mehr aus dem Sinn ging. "Sehen Sie sich die Wohnung an," hatte er gesagt. Damit meinte er wohl das Apartment von Laurie Fisher. Natalie hatte aus der Akte erfahren, daß Miss Fisher eine neue Wohnung an der Eastside bewohnte, und nun versuchte, die alte Wohnung zu verkaufen. Bisher hatte sich noch kein Käufer gefunden. Außerdem hatte die Polizei das Apartment noch nicht frei gegeben.

Natalie blickte in den Rückspiegel ihres Wagens, setzte den Blinker und fuhr über die wenig befahrene Straße. Sie bog nach rechts ab und kramte mit einer Hand nach der neuen Adresse von Laurie Fisher.

Es war halb elf, als Natalie auf den Klingelknopf drückte. Natürlich war es schon spät, aber Natalie hatte plötzlich wieder dieses Gefühl , daß sie noch unbedingt heute die Wohnung sehen mußte.

Aus der Gegensprechanlage ertönte eine Frauenstimme. "Wer ist da?"

Natalie hatte keine Zeit für ausschweifende Erklärung und kam gleich auf den Punkt: "Miss Fisher? Ich bin von der Polizei und würde gerne kurz mit Ihnen sprechen!"

Am anderen Ende blieb es ruhig. Dann: "Es ist schon spät. Ich bin müde."

Natalie gab nicht auf. "Bitte, es ist sehr wichtig!" drängte sie.

Der Summer ertönte, und Natalie betrat die Wohnung.

Irgendwie hatte sie sich diese Laurie Fisher genauso vorgestellt. Klein und zierlich, äußerlich tough. Sie blieben im Flur stehen, und Laurie erkundigte sich nach dem Grund für Natalies späten Besuch.

"Miss Fisher, ich bin Psychologin und würde mir gerne Ihre alte Wohnung ansehen..." Natalie sah das Entsetzen in Lauries Augen, fuhr aber unbeirrt fort: "Sehen Sie, ich könnte mir auch die Erlaubnis vom Staatsanwalt holen, aber Sie sind die schnellere Alternative. Ich muß sie unbedingt sehen!" Natalie mußte sich zurückhalten, Laurie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln. Klar, sicherlich konnte sie nicht verstehen, welche Beweggründe Natalie dazu brachten, sich den Tatort anzusehen, aber selbst wenn sie gefragt hätte, hätte Natalie keine einleuchtende Antwort geben können.

"Okay," lenkte Laurie schließlich ein und kramte die Schlüssel aus einer Schublade hervor. Natalie dankte und verschwand in der Dunkelheit.

 

*
 

"...und ein Spukschloß zum Abendessen," unkte Natalie, als sie die Haustür zu Apartment 603 aufschloß. Es war kurz vor Mitternacht.

"Do not cross" stand in großen schwarzen Buchstaben auf der gelben Absperrfolie. Natalie bahnte sich ihren Weg ins Wohnzimmer. Sie fand den Lichtschalter und knipste das Licht an. Hell durchflutete es den Raum und beleuchtete jeden Winkel. Natalie sah sich um. Hübsch, dachte sie, und setzte sich probehalber auf die Couch, die auf der gegenüberliegenden Seite des Fensters stand. Natalies Blick fiel auf das große Fenster und das.... Sie griff sich an die Kehle und glaube, im nächsten Moment ersticken zu müssen. Das unheimliche AUGE starrte sie unheilvoll an. Es war als eine Art Oberlicht in das Fenster eingebaut worden. Ein Wächter des... Natalie schüttelte sich.

Natalie atmete tief durch und löste ihren Blick von dem AUGE. Plötzlich hatte sie den Wunsch, die Wohnung schnellstmöglich zu verlassen. Eine unerklärliche Angst beschlich sie. Wie eine eisige Kälte kroch sie an ihren Beinen hoch, erreichte ihren Rücken....

Natalie stand auf und ging in die Küche.

Aus der Akte hatte sie erfahren, daß Ray die Eingang der Vorratskammer äußerlich mit Regalen zugebaut hatte. Die Tür stand jedoch offen.

DO NOT CROSS!! Die Worte schienen eine eindeutige Warnung zu sein, doch Natalie mußte es sehen. Neugier und Abscheu wechselten sich ab. Sie betrat die ehemalige Vorratskammer und knipste auch dort das Licht an. Die Beweise und Spuren der Morde waren zwar beseitigt worden, und doch fröstelte Natalie plötzlich. Sie ließ ihren Blick umherschweifen. Sie erschauderte bei dem Gedanken, daß Ray hier so lange gehaust hatte. Es war so...unmenschlich. Was hatte ihn nur dazu getrieben?

Natalie wollte ihre Besichtigung gerade beenden, als sie das grauenerregende Stöhnen hörte. Irgendjemand anderes in dem Haus hatte wohl die Toilettenspülung betätigt, und das gurgelnde Wasser in den Rohren hallte hier wieder. Doch Natalie schien es, als spräche die Wohnung selbst zu ihr! Wortfetzen, Silben, die sie nicht zu deuten vermochte. Keine Sprache, nur Gefühle. Gefühle unerträglichen Schmerzes und unsäglicher Angst. Natalie wich einen Schritt zurück und berühte die kalte Wand hinter sich. Ein weiteres Gefühl von TODesangst durchflutete sie. Die Welt schien sich um sie zu drehen. Natalie sah ihren eigenen Schatten, der sich gespenstich an einer Wand wiederspiegelte. Die Wände schienen auf sie zuzukommen.

Schreiend.

Anklagend.

Flehend.

Drohend.

Natalies Herz klopfte bis zum Hals, als sie den rettenden Ausgang fand, durch die Küche lief, durch das Wohnzimmer --- hinaus. RAUS!!!

"'Es war dieser Ort, der zu mir gesprochen hat, der mir gesagt hat, was ich tun soll....'" Die Worte des Protokolls drängten sich in Natalies Bewußtsein zurück, als sie ihren Wagen erreichte. Mit zitternder Hand schloß sie die Tür auf und ließ sich erleichtert auf den Fahrersitz nieder. Ihr Herz pochte noch immer bis zum Hals. Sie wußte, daß es nur eine Toilettenspülung gewesen war. Ihr Verstand ließ keine Zweifel zu, und doch fühlte sie, daß sie es auch gehört hatte. Die unheimlichen Worte dieses Ortes hallten in ihrem Kopf nach.

Natalie verstand nun, warum Ray sie zu dem Apartment geschickt hatte. Er wollte, daß sie verstand; wollte, daß sie die Schönheit und dennoch tödliche Macht dieses Ortes sah... Sie hatte den Ort mit seinen Augen gesehen.

Natalie erschauderte.

Ende?

 
Back to Fanfiction Index
Back HOME

  1