KULTUR-ANSICHTEN
subjektive Kultur-Praxis in 'Welt der Waben' - oder wie man Kultur schreibt (von Werner Arend)
Nachdem ich nun, als Spieler und Spielleiter von 'Welt der Waben' von beiden Seiten einige Erfahrungen mit dem gemacht habe, was so herrlich vereinfachend als 'Kulturberichte' bezeichnet wird, halte ich es für angebracht, meine diesbezüglichen Ansichten denjenigen mitzuteilen, die ein paar Tips nicht gleich als Bevormundung auffassen. Dieser kleine Artikel ist als Anregung gedacht, insbesondere für die Spieler, die neu anfangen und sich Gedanken darüber machen, wie sie denn ihre Kultur aufbauen sollen. Da Kultur eine subjektive Angelegenheit ist, beanspruchen meine hier geäußerten Ansichten keine Allgemeingültigkeit, sondern sollen als Diskussionsgrundlage dienen, und ich würde mich freuen, wenn über dieses oft vernachlässigte Thema eine Diskussion in Gang käme.
Am Anfang steht eine Frage: Kultur? Was ist das eigentlich? Die
Antwort ist einfach: Alles, was das jeweilige Land ausmacht, ihm ein
individuelles Gepräge gibt, das es von allen anderen Reichen
unterscheidet (oder auch nicht), gehört in den Bereich Kultur.
Zu Beginn habe ich mir als Spieler die Frage gestellt: Wie soll das
Reich aussehen, welche Ansichten sollen die dort lebenden Menschen
von ihrem und anderer Leben haben? Jeder Spieler wird hier auf seine
eigenen Vorlieben, Ansichten, Einstellungen zum Leben zurückgreifen,
wenn er eine Kultur aufbauen will, die wirklich glaubwürdig ist.
Denn: Es ist unmöglich, eine Kultur aufzubauen, an die man nicht
glaubt!. Diese Behauptung mag zunächst sehr absolut klingen und
den 'schauspielerischen' Fähigkeiten eines Spielers
unangemessen. Dabei läßt man jedoch unberücksichtigt,
daß man selbst als Spieler in die eigene Kultur hinein wachsen
muß, denn mit der Zeit wird die Kultur immer komplizierter und
dann für denjenigen, der nicht 'in ihr lebt', wenn er über
sie schreibt, unverständlich. Das merkt man selbst nicht so gut,
aber spätestens wenn man nach jahrelanger Kulturausarbeitung
einen REP anwerben will und dieser nach stundenlangen Erklärungen
und zig Seiten Briefwechsel immer noch nicht weiß, worum es
eigentlich geht, wird man sich seiner eigenen Verstricktheit in die
eigene Kultur bewußt. Und deshalb ist auch eine Illusion, zu
glauben, daß ich, wenn ich nun einmal in der realen Welt
glaube, daß 'Gut' und 'Böse', 'Licht' und 'Finsternis' nur
von Menschen gemachte Unterscheidungen sind, die nicht absolut sind
und mit der 'Realität' wenig zu tun haben, daß ich dann in
einem fanatischen Lichtreich oder Finsterreich glaubwürdig
Kultur schreiben kann. Auch ein Finsterreich hat seine auf seine Art
glaubwürdige Philosophie, und Reiche, die das wahllose Umbringen
von Menschen fördert, bezeichnen sich zwar zu Recht als finstere
Reiche, aber glaubwürdig wirken sie deshalb noch lange nicht:
Was haben sie schon davon? Ein Reich wirkt nicht finster oder licht,
weil es sich entschließt, sich so zu verhalten, sondern weil
die dahinter-stehende Weltanschauung kein anderes Verhalten zuläßt.
Weltanschauungen aber sind geschichtlich gewachsene Strukturen und
haben meist einen praktischen Aspekt - am häufigsten den des
Machterhalts. Was ist praktisch am wahllosen Umbringen von Menschen?
Wenn man alle umgebracht hat, hat man niemanden, den man regieren
kann, niemanden, den man in seine Kriege schicken kann (vom
Standpunkt eines Finsterreichs aus gesehen), etc.. Soviel also zum
Thema Glaubwürdigkeit. Kommen wir nun zu der Frage, die für
mich DIE zentrale Frage einer Kultur ist: Wie gehen die Wesen, die in
ihr Leben, miteinander um. Einige Beispiele sollten verdeutlichen,
was damit gemeint ist: Angenommen, der Bauer Avaric erschlägt
seinen Nachbarn Balur, weil der ihn beleidigt hat (dieses Motiv habe
ich nur gewählt, um vom 'realen' Standpunkt her die Schuldfrage
eindeutig sehen zu können). In verschiedenen Reichen wird die
Frage, was denn nun mit dem Mörder passiert, sehr ver schieden
beantwortet. Fragen wir zunächst einen Rechtsgelehrten aus
Artakakima. Sein Kommentar:
"Balur erzeugte für die
Gemeinschaft, in der er lebte, einen bestimmten Nutzen. Dieser ist
nun nicht mehr da. Also muß Avaric für den Rest seines
Lebens den Nutzen, den Balurs Gemeinschaft durch den Mord verloren
hat, zusätzlich erbringen, das heißt, er muß doppelt
so viel arbeiten wie bisher." Wie man sieht, eine ganz eigene,
phantasievolle Lösung des Problems (die man, nebenbei gesagt,
auch mal in der 'realen' Welt ausprobieren sollte). Der Kommentar
eines Elrhadain aus Rhyandi (Rechtsgelehrte gibt es dort keine, da es
kein geschriebene Gesetz gibt) fällt da schon anders aus: "Der
Mord ist zwar bedauerlich, aber was die Freunde und Angehörigen
damit machen, ist ihre eigene Sache. Es gibt keine Reichsorgane, die
sich darum kümmern könnten und wollten. Warum hat Baldur
nicht besser aufgepaßt? Aber Avaric wird merken, daß man
ihm von nun an in vielen Orten mit Mißtrauen empfängt, und
vielleicht entschließt er sich ja freiwillig, auszuwandern oder
auf einem Abenteurerschiff anzuheuern..." Eine solche Ansicht
erklärt für jemanden, der die Kultur kennt, den Kult, den
man in Rhyandi um Waffen treibt, denn jemand, der sich nicht selbst
verteidigen kann, ist in Zweifelsfall hilflos. Ein Rhyandi ohne Waffe
käme sich auf offener Straße etwa so vor wie jeder von
uns, wenn man ihn nackt auf die Straße schicken würde. Da
Rhyandi mein eigenes Reich ist, dazu noch eine Bemerkung: Meiner
Ansicht nach ist dies die einzige Methode, um die Anzahl der
Mordfälle effektiv zu verringern, denn sie ist die einzige, bei
der der Mörder nicht nach der Tat erwischt werden muß,
sondern das größte Risiko bereits darin besteht, daß
der andere sich zu gut verteidigen könnte. Denn: welcher Mörder
rechnet schon damit, erwischt zu werden???? Keiner! Kommen wir nun zu
dem Kommentar eines Juristen aus Muscae. Er wird sagen:
"Das
ist ein eindeutiger Fall, für den unser Gesetz vorschreibt, daß
der Mörder zum Tod verurteilt wird." (Ob das stimmt, weiß
ich im Moment nicht so genau, denn ich habe Muscaes Gesetzesschrift
nicht im Kopf, sie steht aber im MBM (2 oder 3). Eine das gleiche
Ziel anstrebende, aber doch völlig andere Sichtweise äußert
sich hier, die wohl den meisten von uns aus der 'realen' Welt bekannt
sein dürfte. Diese Beispiele zeigen sehr deutlich, was die
Begriffe 'Ordnung' und 'Chaos auf der unteren, nämlich der
politischen Ebene (in der Tat die unterste Ebene, die es gibt!!),
bedeuten. Muscae ist, sofort erkenntlich, ein Reich, in dem 'Gesetz
und Ordnung' herrschen. Artakakima ordne ich neutral ein, denn man
urteilt nach einem Prinzip, dem des Nutzens für die
Gemeinschaft, ohne sich aber auf eindeutige Gesetze festzulegen.
Rhyandi ist hier chaotisch: Reichsorgane gibt es nicht für
solche Vorfälle, 'der Staat' kann, da es ihn nicht gibt, auch
nicht urteilen. Zwischen diesen Extremen gibt es natürlich
unzählige Abwandlungen, und es soll der Phantasie jedes Spielers
überlassen bleiben, seine eigene Note zu finden. So, jetzt ist
der kulturbewußte Spieler bereits sehr weit in seinen
Gedankengängen fortgeschritten. Sehr viel von den weiteren
Kulturausarbeitungen ergibt sich von allein, bedingt etwa durch die
geographische Lage. Auf diese Möglichkeiten werde ich zu
gegebener Zeit zurückkommen. jetzt soll uns ein anderes Echtes
Problem. beschäftigen: Namen. Es gibt wenige Dinge in der
Entwicklung einer Fantasy-Kultur, die so schwierig sind wie das
Finden von passenden, einigermaßen gut klingenden und trotzdem
nicht geklauten Namen. Man beschreitet hier mit Elan den Weg der
freien Assoziation, nur um festzustellen, daß 90% der Namen,
die man findet, nicht passen. Deshalb verlegen sich viele Spieler
darauf, ihre Namen aus der Literatur zu entnehmen und schlagen somit
den unpassendsten Weg ein, den es gibt. Eine Kultur, die Namen aus
der Fantasyliteratur in großem Umfang verwendet, wird niemals
glaubwürdig wirken, denn die Namen werden nicht mit der neuen
Kultur, sondern mit der Literatur assoziiert, so daß sie in der
neuen Kultur an Eigenständigkeit verlieren. Wie also Namen
erfinden? Es gibt hier zwei Wege. Der erste: Ich suche mir eine wenig
bekannte real existierende Sprache, deren Klangfarbe mir ansprechend
erscheint, suche mir Worte aus dieser Sprache und verändere sie
leicht in Schreibweise, Klang oder Aussprache. Als Beispiel hierfür
offenbare ich das Geheimnis der Entstehung meines bevorzugten
Fantasynamens 'Scaith mac Luand'. Der erste Teil, gewissermaßen
der Vorname, ist gemäß oben beschriebener Methodik aus dem
englischen Wort für 'Katze', 'cat', abgeleitet, der hintere Teil
aus dem Namen einer irischen Stadt: Atha Luain (anglisiert
'Athlone'). Später stellte ich fest, daß 'De Luain' im
irischen 'Montag', also 'Mond-Tag' bedeutet, und freute mich darüber,
ein weiteres wichtiges Symbol meiner Kultur in meinem Fantasynamen
wiederzufinden. Der zweite Weg, Namen zu finden, ist der bereits
erwähnte Weg der freien Assoziation. Es ist zunächst
leichter, zeigt aber erst nach längerem herum probieren
akzeptable Ergebnisse. Hütet Euch davor, zu glauben, gut
klingende Namen kämen auf geheimnisvolle Art und Weise von
allein aus Euren Gehirnen - das ist der seltenste Fall (s.u.). meist
hat man die Idee zu irgendeinem Wort, aber muß es noch zehnmal
im Mund herumdrehen, damit es klingt. Auf diese Weise sind in meiner
eigenen Kultur die Worte 'Elrhadain', und 'Rhyandi', der Reichsname
selbst, entstanden. Das hervorstechendste Merkmal solcher Namen ist,
daß man ewig lange braucht, um sie zu finden, und wenn man sie
schließlich hat, beim besten Willen nicht mehr sagen kann,
woher die Idee gekommen ist. Drittens gibt es, gewissermaßen
außer Konkurrenz, den seltenen Fall einer Eingebung, die man
plötzlich hat. Plötzlich und scheinbar unmotiviert weißt
du, so und nicht anders muß es heißen, denn es gibt kein
anderes Wort, das den ganzen Inhalt dessen, was du benennen willst,
in sich trägt. Dann hast du gewissermaßen einen 'Wahren
Namen' gefunden (für dich jedenfalls). ich selbst bin auf diese
Weise zu den Namen der in Rhyandi verehrten Göttin 'Ildru'
gekommen. Eingebungen lassen sich schwer oder gar nicht steuern, doch
ist es auch hier möglich, die Assoziationskraft (das 'magische'
Wissen) durch intensive Beschäftigung mit alten Kulturen oder
ausgewählten Werken der Fantasyliteratur zu erhöhen. Namen
sollten innerhalb einer Kultur zueinander passen. Wenn man etwa im
'Herrn der Ringe' die Sprache Mordors mit der Sprache der Elben
vergleicht, so wird man sofort feststellen, daß sie - man
verzeihe mir den Ausdruck aus der EDV - nicht kompatibel sind. Das
heißt, ein Wort aus der Elbensprache würde inmitten von
vielen Worten aus der Sprache Mordors wie ein ausgesprochener
Fremdkörper aussehen. Solche Fehler sind tunlichst zu vermeiden
- es ist meiner Ansicht nach keineswegs abwegig, wenn man sich mit
der eigenen Sprache an eine real existierende anlehnt, aber
gefälligst nur in der Klangfarbe, und niemals in den Worten! Da
wir schon einmal beim Klauen sind, ein paar Worte darüber, wie
man Kulturideen bekommt. Meiner Erfahrung nach gibt es hier eine
Regel: Jeder Spieler hat viele Ideen - die wenigsten davon, nämlich
die besten, sind ausschließlich auf seinem eigenen Mist
gewachsen. Die allermeisten Ideen, ob gut oder schlecht, haben
irgendwo ein Vorbild. Schlecht wird es nur, wenn eine 'Idee' einfach
abgeschrieben wurde. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Es gibt auf Corigani das Reich Lonador, in welchen eine sogenannte
Naturgeistlehre existiert, die auf einzigartige Weise die Grundlage
einer sehr stark natur- und pflanzenbezogenen Kultur bildet. Dies
allein, und die Tatsache, daß sie wie selbstverständlich
in die Kultur paßt, macht diese Lehre zu einer ausgezeichneten,
meiner Ansicht nach einer der besten Kulturideen. Darüber hinaus
kenne ich kein real oder in der Literatur existierendes Vorbild für
diese Idee - sie gehört in der Kategorie der wirklich neuen
Dinge! Natürlich, ich kann niemals alles lesen, was an möglichen
Vorbildern existiert, aber, und das ist der zweite Punkt, darauf
kommt es nicht unbedingt an. Was gute Kultur auch auszeichnet: sie
darf in Ansatz geklaut sein, aber sie muß sich so gut in die
bereits bestehende Kultur einfügen, daß man es entweder
nicht merkt, oder daß es nicht darauf ankommt, weil alles so
gut zusammenpaßt. Kreativität in Kulturideen bedeutet
nicht nur, möglichst viele wirklich neue Ideen zu haben, sondern
auch, zu erkennen, wie gut existierende Ideen in die eigene Kultur
hineinpassen! Ein weiteres Beispiel zeigt uns, wie weit das Klauen
etwa gehen darf: Die Sozialstruktur des Reiches Aron Lon Dorinam
orientiert sich in starkem Maße an den Büchern 'Kinder der
Stürme' von G.R.R.Martin/Lisa Tuttle und 'Herrin der Stürme'
von Marion Zimmer Bradley: Die 'Windreiter', zuoberst die
Herrscherin, stehen, ähnlich wie die Flieger in 'Kinder der
Stürme' und die PSI-begabten in 'Herrin der Stürme', an der
Spitze einer Hierarchie. Ansonsten aber ist keine Terminologie
übernommen worden, die 'Windreiter' haben auch nicht die
gleichen Probleme wie die in 'Kinder der Stürme' oder 'Herrin
der Stürme'. Obendrein paßt sie (die Sozialstruktur) sehr
gut zu der Verehrung der Winde, wie sie in Aron Lon Dorinam betrieben
wird, und zuletzt paßt auch die Tatsache, daß es Druiden
gibt, in den Gesamtaufbau, denn der Gott des Windes, Dondra, hat als
Priester Druiden. Alles paßt zusammen, und ich bezeichne es
noch als gut. Was mir weniger gefällt, ist, daß der Name
der Herrscherin auch aus 'Herrin der Stürme' entnommen ist. Das
sollte die Spielerin schnellstens ändern. Die dritte Kategorie
beinhaltet all jene mißglückten Ideen, die nicht so recht
passen wollen oder ziemlich komplett übernommen sind. An dieser
Stelle würde ich das Reich 'Cuicuilco' (Karnicon) einordnen, das
eine ziemlich genaue Kopie der Aztekischen Kultur ist - die Namen aus
der aztekischen Mythologie, unverändert als Herrschernamen
übernommen, und die unverändert aus den Geschichtsbüchern
entnommenen Abbildungen in der im MBM6 veröffentlichten Kultur
des Reiches sprechen für sich. Das, lieber Spieler, falls du
dies lesen solltest, ist eine schwache Leistung, und ich als
Spielleiter hätte das nicht so ohne weiteres durchgehen lassen.
Aber nimm's nicht persönlich - schließlich kenne ich dich
gar nicht - oder doch? Unsere Schlußfolgerung also: Kulturideen
dürfen nie ganz, wohl aber im Ansatz aus einem Vorbild
hervorgehen. Die besten Ideen sind nichtsdestoweniger die ganz neuen,
welche aber sehr selten sind. Und warum diese Beurteilung? Wenn ihr
in der Literatur oder in Berichten über Alte Kulturen Dinge
findet, von denen ihr sofort erkennt, daß sie hundertprozentig
in eure Kultur passen, so wäre es schade, die Ideen sausen
lassen zu müssen, nur weil sie nicht neu sind. Aber: Verändert
sie, paßt sie Eurer Kultur ein wenig an, verändert Namen,
Zeiten, Orte etc.. Manchmal kann auch etwas unverändert
übernommen werden. Hierfür ein Beispiel aus diesem MBM: Auf
der ersten Seite des 'Boten von Rhyandi' steht ein Spruch von
Nietzsche. Diesen habe ich unverändert übernommen, weil ich
bisher keiner so treffenden Charakterisierung der Rhyandi begegnet
bin, die zugleich so poetisch formuliert ist. Da ich zu einer solchen
Formulierung derzeit nicht fähig bin und der Spruch
hundertprozentig paßt, habe ich ihn einfach übernommen und
einem rhyandischen Dichter zugeschrieben. Ehrlicherweise sollte aber
die reale Quelle nicht verschwiegen werden, wenn wörtliche
Zitate übernommen werden. Genug dieser Problematik, wenden wir
uns nun dem Zentrum einer Kultur zu, nämlich dem Wertesystem und
der Religion. Eine Religion repräsentiert das vorherrschende
Wertesystem einer Kultur und ist aus diesem Grunde in fast jedem
Ausdruck der Kultur symbolisch enthalten!. Sie ist nicht immer ein
transzendentaler Überbau, muß keine personalen Gottheiten
postulieren, sondern einzig und allein die Frage beantworten: Wie
soll der Mensch leben? Da dies die wichtigste Frage im Leben der
Menschen ist, findet man die Religion auch in jeder Kulturäußerung
wieder. Man kann sogar anhand der Frage, welche Themen in einer
Kultur am ausführlichsten behandelt und besprochen werden,
Rückschlüsse ziehen auf die Religion. Im späten
Mittelalter etwa gab es kaum eine künstlerische Ausdrucksform,
die nicht christlich geprägt war. Und seht Euch unsere 'reale'
Welt an: Versucht einmal, einen Kulturbereich zu finden, in den
wirtschaftliche Fragen nicht auftauchen! Es gibt sie fast nicht! Eine
Nuance des 'wirtschaftlichen Denkens' ist immer da! Das Geld, so
schließe ich, ist der Gott unserer heutigen Welt, Verkaufs- und
Gehaltsverhandlungen sind religiöse Rituale mit eigenem
magischen Gehalt, das gefüllte Bankkonto der Talisman und
Glücksbringer, und die Banken sind Tempel - nicht nur vom
Aufwand her, der um ihren Bau betrieben wird. Nicht zuletzt sind die
Banken heute genauso allmächtig, wie die Kirche es im
Mittelalter war - und genauso machtgierig und skrupellos. Aber zurück
zu 'Welt der Waben'. Bei der Entscheidung. welcher Art die Religion
einer Kultur sein soll, befrage man ausschließlich die eigene
lntuition, den eigenen Verstand! Die Frage, ob es eine Gottheit geben
soll, und erst recht, ob diese Gottheit eine der in der WDW-Regeln
enthaltenen 'Alten Götter' sein soll, ist völlig
unerheblich, denn eine Religion wirkt nicht dadurch. daß eine
Gottheit vorhanden ist, sondern daß an Werte und u.U. eine
Gottheit geglaubt wird! Indem man glaubt, erkennt man eine Wirkung
desjenigen, woran man glaubt, auf die eigene Persönlichkeit an,
und diese Wirkung ist auch dann da, wenn das geglaubte nicht
existiert. Im Grunde ist der letzte Satz sogar ein Widerspruch, denn
es gibt alles, woran geglaubt wird. Ich sage: 'Gott schuf der Mensch
nach seinem Bilde', und wenn ich glaube, daß eine Gottheit
existiert, dann handle ich so, daß die Werte, die diese
Gottheit repräsentiert, berücksichtigt werden. Die
imaginäre Gottheit hat also eine Wirkung auf mich. Was aber eine
Wirkung hat, ist real, existiert! Die Unsitte der zentralen
Spielleitung, in bestimmten Kulturen entstandene Gottheiten als bloße
Inkarnationen einer begrenzten Anzahl real existierender Götter
zu betrachten, verkennt diese Tatsache und versucht, das unendliche
Spektrum menschlicher Wertvorstellungen in ein starres Korsett aus
Konventionen zu zwängen. Eine Gottheit ist höchstens die
kollektive Inkarnation des Volkes, das an sie glaubt! Wer also seiner
Kultur eine Religion verpassen will (und wer will das nicht?), der
tut gut daran, Kapitel 7 der Spielregel vorher nicht. zu lesen, oder
als phantasievolle Anregung zu betrachten. Aus der Religion heraus
können einige kulturelle Fragen beantwortet werden. Da ist
zunächst die Frage nach der Orientierung zwischen Chaos und
Ordnung auf höherer Ebene. Glaubst du an eine höhere
Ordnung? Glaubst du gar, daß diese Ordnung absolut und
unveränderlich durch den Menschen ist? Dann bist du ein
Vertreter des Prinzips der Ordnung. Glaubst du, daß es keine
höhere Ordnung gibt, daß die persönliche Freiheit
alle höhere Ordnung verneint und verneinen soll? Glaubst du
daran, daß das Veränderungspotential der Welt unendlich
ist, daß anstatt des statischen 'Sein' das dynamische 'Werden'
wichtig ist? Glaubst du daran, daß es keine absolute Wahrheit,
keine absoluten Werte gibt? Dann bist du ein Vertreter des Chaos!
Glaubst du daran, daß wiederum diese Urteile von Menschen
gemachte Unterscheidungen sind und mit der Realität nur wenig zu
tun haben, oder daß es sie gibt, daß aber der Ausgleich
zwischen beiden notwendig ist" Dann bist du ein Vertreter der
Neutralität zwischen Ordnung und Chaos! Ferner beantwortet die
Religion zumindest tendenziell folgende Fragen:
Wie verhält
sich die Bevölkerung zu Andersdenkenden?
Welcher Art ist im
Normalfall die Außenpolitik des Reiches?
Welche Verbrechen
werden hart, weiche weniger hart bestraft?
Gibt es Tabus, und
wenn ja, weiche und warum?
Gibt es große Unterschiede im
Sozialstatus der Menschen?
Worauf beruhen unterschiedliche
Sozialstati?
Welche Chance haben 'Aussteiger' in deiner Kultur,
unbeschadet zu überleben?
Diese Fragen nur als Anregung, es
gibt ihrer viele. Ein Beispiel dafür, wie diese Fragen, die
Wertstruktur einer Kultur berühren: Wie ist eine Kultur zu
beurteilen, in der das Falschen von Geld schärfer bestraft wird
als das Vergewaltigen einer Frau? Was sagt uns dies über die
vorherrschenden Werte? Was sagt uns die Tatsache, daß ein Reich
am ehesten außenpolitisch nieder gezwungen werden kann, wenn
man droht, den Handel mit ihm einzustellen? Undsoweiter, etcetera
pp....
Damit wäre ich nun fast am Ende meines kleinen Artikels.
Die bisher aufgeführten Dinge diene dazu, den Kern einer
schlüssigen Kultur aufzubauen, deren einzelne Komponenten
zueinander passen und an die man glauben kann. Die folgenden Fragen
hingegen tragen mit ihrer Beantwortung zum Reichtum einer Kultur bei,
dazu, daß die Kultur lebt, daß die in ihr lebenden
Personen, über die REPs hinaus, zum Leben erweckt werden. Macht
Euch mal Gedanken zu:
Welche Tätigkeit übte Deine
Spielfigur aus, bevor sie Herrscher/Fürst wurde? Hat Deine
Spielfigur eine Freizeitbeschäftigung? Welche?
Warum ist
Dein Reich so geworden, wie du es beschreibst?
Welche Freunde,
Bekannte, Geliebte, Feinde etc. hat deine Spielfigur?
Was
passiert eigentlich sonst noch in deinem Reich?
Wovon lebt man in
deinem Reich?
Ist die Sozialstruktur: Familienorientiert?
Kollektivorientiert? Individuumorientiert? Wenn all dies nicht, wie
ist sie dann?
Wie feiert man in deinem Reich: Ernst?
Oberschäumend? Exzessiv? Unterschiedlich?
Was ißt man
und wie kocht man in deinem Reich? Wie leben Kinder in deinem
Reich?
Weiche Materialien werden in deinem Reich verwendet, etwa
zum Bau von Häusern? Oder gibt es gar keine Häuser?
Wie
sehen Städte aus? Gibt es überhaupt welche?
Man könnte die Liste unendlich fortsetzen, aber nach 5 Seiten denke ich, daß ich aufhöre. Ich hoffe, daß meine Worte bei vielen Spielern zu erhöhtem Kulturreichtum und - vor allem anderen - zu einer freien Kulturgestaltung führen. Wer Beiträge zu diesem Thema hat, oder andere Meinungen äußern will, der ist hiermit aufgefordert, sich an mich zu wenden: Werner Arend,Im Eichengrund 8, 72138 Kirchentellinsfurt). Alsdann, bis zum nächsten Mal...
Übrigens, eine letzte Frage: Würdest du in deiner Kultur leben wollen??
Dieser Artikel ist Copyright © by Werner Arend 1985, 1998. Jegliche Änderungen, auch in der Schreibweise und durch redaktionelle Bearbeitung, behalte ich mir vor.