Aresch Yawari, 1.06.96
Nun war es mal wieder soweit. Draußen leuchtete diese große hell-gelb-weißlich-bläuliche Scheibe, die aus
was für einem Grund auch immer, fast die ganze Menschheit Mond nannte, wie schon gesagt hell durch die
Nacht. Er nannte sie einfach nur helle gelb-weißlich-bläuliche-Scheibe-am-Himmel. Er konnte auch nicht
nachvollziehen, was sich die Gehirnwindungen macher Menschen dabei dachten, sich so zu verdrehen, daß den
Leuten, denen diese armen bemitleidenswürdigen Zellansammlungen gehörten, die wildesten Gedanken beim
Anblick dieses Mondes kamen. Glücklicherweise kreisten diese Hirnstrominduktionen bei dem größten Teil der
Bevölkerung nur um Liebesspiele im Freien und romantische
"Ich-schau-Dir-in-die-Augen-Kleines"-Gespräche.
Früher war das natürlich anders. Da lauerte hinter jeder Ecke, und er meinte wirklich hinter jeder, ein kleiner
Pockengesichtiger, mit Holzpflöcken und Silberkugeln bewaffneter Mensch, der scheinbar nichts besseres zu
tun hatte, als jede Nacht, bei Wind und übelstem Wetter Vampiren und Werwölfen hinterherzujagen. Nicht,
daß er von einem völlig neutralen Standpunkt aus behauptet hätte, es gäbe solche Kreaturen der Nacht, nur,
und das war ihm auch erst nach fast dreihundervierundfünfzig Jahren klar geworden, diesen neutralen
Standpunkt konnte er leider nicht vertreten, denn er gehörte einer dieser Zünfte an. Also, wenn man es genau
betrachtete, war es weniger eine Zunft, also ein Haufen von, na sagen wir mal: Skatbrüdern, die sich ab und an
mal auf ein lustiges Glas Blut trafen. Natürlich mußte man das Blut irgendwo herschaffen.
Heute war das kein Problem. Ein bis zwei Krankenpfleger pro Jahr wurden auf die eigene Seite gezogen, man
konnte fast schon sagen, auf die eigene Seite gesaugt, und dann hatte man freien Eintritt zu den Blutkonserven
die sich diese kleinen Menschen anlegten, wofür auch immer. Als wenn ihnen ein paar Liter Blut helfen würden,
wenn sie auf einem Motorad mit zweihundertvierzig Sachen frontal mit einem überholenden Tieflader
zusammenstießen, der noch dazu zwanzig Panzer transportierte, die dann natürlich alle auf den Motorradfahrer
fielen.
Aber bis vor wenigen Jahrzehnten mußte er sich jedesmal sein Blut selber besorgen. Er mußte zu
nachtschlafener Zeit aus dem Bett und auf irgendwelche wehrlose Menschen losgehen. Man, wie er das hasste.
Allein schon das aufstehen nach Mitternacht, wo er doch so gerne früh ins Bett ging. Am nächsten Morgen war
er dann fast nicht zu gebrauchen, weil er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Außerdem quälten ihn die
Gedanken an diese armen Leute, die nur wegen ihm ihr Leben verloren. Anfangs hatte er sich immer bei ihnen
entschuldigt, einmal hatte er sich sogar mit einem Opfer auf eine Parkbank gesetzt und ausführlich über den Sinn
des Lebens diskutiert. Aber alles half nichts. An jedem Morgen danach schmeckte sein Kaffee nicht, was aber
auch daran liegen konnte, daß er beim Heimkommen immer vergaß sich die Zähne zu putzen. Das schlimmste
für ihn war der Moment in dem er zubeißen mußte. Alles bis dahin war fast schon spannend und aufregend.
Als erstes mußte er sich einen Klienten aussuchen. Er nannte seine Opfer oft Klienten. Das machte die Tat
weniger schrecklich. Meist suchte er sich leicht angetrunkene junge Männer. Nicht das er schwul wäre, also das
bestreitete er immer sehr energisch, aber wenn er an die knackigen, jungen, muskolösen
Männerhalsschlagadern dachte, dann lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Er beobachtete seine Klienten
dann eine Weile und folgte ihnen unauffällig wenn sie den Heimweg antraten, oder besser anschunkelten. Ihnen
zu folgen war nicht besonders schwer, hatte er doch diesen wahnsinns Trick drauf, sich in eine Fledermaus zu
verwandeln. Davon war er jedesmal selber begeistert. An manchen Tagen stand er oft stundenlang vor dem
Spiegel und verwandelte sich hin und her. Das kostete dann soviel Kraft, daß er sich danach immer fünf Pizzen
bestellte und zwar die ganz scharfen mit viel Knoblauch und Tunfisch, oh er liebte Tunfisch.
Wenn sein Opfer dann an einer dunklen Stelle angekommen war, dann verwandeltet er sich direkt vor ihm
wieder in einen echten Vampir. So einen wie man ihn aus alten Filmen kennt, mit eingefallenen Wangen, damit
die Backenknochen hervorstehen, mit einem langen schwarzen Umhang, der von innen mit rotem Samt gefüttert
war. Damit seine Wangen auch eingefallen wirkten mußte er leicht mit seinem Mund die Luft ansaugen, was
dazu führte, daß er nicht so toll aussprechen konnte, was er wollte. Ursprünglich hatte er sich einen
wunderbaren Satz zurechtgelegt, den er seinen Opfern entgegenschmettern wollte. Er enthielt etwas von
"schlimmsten Alptraum" und dem "Licht am Ende des Tunnels wird Rot sein". Aber nachdem ein junger Mann
beim Vortragen seines schauerlich-fürchterlichen Satzes eingeschlafen war, so daß er als stolzer Vampir zu
deprimiert war diesen jetzt noch zu beißen, hatte er sich lieber für die eingefallenen Wangen entschieden und
auch den Satz gekürzt, damit er noch aussprechbar bliebe. Alles was übrig blieb war "Halt!", was sich aber
beim Luftansaugen und Mundverengen eher wie "Hold!" anhörte, weshalb die meisten immer erstmal
nachfragten mit "Hääää?" oder "Wie bitte?". Das alles war schon sehr erniedrigend und an solchen Tagen fragte
er sich auch oft nach dem Sinn seines Daseins. Einmal hatte sogar einer angefangen laut zu lachen, worauf er
ihm eine scheuerte was zu einer kleineren verbalen Auseinandersetzung führte, wobei auch sämtliche
Familienverhältnisse angesprochen und spekulative Verwandschaften zu irgendwelchen Tieren behauptet
wurden. Nachdem sie sich gegenseitig in Grund und Boden geredet hatten, zog er als vorrausschauender, alles
einplanender Vampir-der-Nacht seine 45er und schoß ihm zwischen die Augen, ließ ihn dann aber liegen, weil
er fürchtete das Blut könnte ansteckend sein. Manchmal klappte sein Auftritt aber perfekt, manchmal, nicht sehr
oft, also eigentlich bisher schon dreimal.
Hatte er diese armseligen Würmer dann endlich davon überzeugt, sich von ihrem Blut zu trennen, und auch zwei
kleine Löcher in den vollkommen heilen, wenn auch nicht immer sauber rasierten Hälsen zu akzeptieren, dann
mußte er sich auch noch dazu überwinden seine Eckzähne auszufahren, was immer ein seltsam kreischendes
Geräusch von sich gab, so als wenn man mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel kratzt. Das Geräusch war
zwar nicht sehr laut, aber es hallte in seinem Kopf wieder und versuchte irgendwie rauszukommen, wobei es
wohl auch umbedingt das Mittagessen mitnehmen wollte, und da sich dieses nicht vom Abendbrot trennen
konnte, kam es auch direkt mit. Man, er konnte wirklich nicht mehr diesen Anblick ertragen, wenn sein Opfer
schlagartig nüchtern wurde und angeekelt mit seinem Mittag- und Abendessen am Hals nichts besseres zu tun
hatte, als das ganze Bier, das er den ganzen Abend bezahlt und im Magen aufbewahrt hatte in die weite Welt zu
verteilen. Spätestens jetzt hatte er genug Vergnügen gehabt und leicht deprimiert und selbstmordgefährdet
machte er sich auf den Weg nach Hause.
In früheren Zeiten hatte er sich einmal nach so einer Nacht auf einen Feldweg gelegt und gewartet bis ein
anderer angetrunkener Bauer mit seinem Karren über ihn hinwegfuhr. Statt dessen kam eine nächtliche
Patroullie von zweiundachzig Soldaten. Alle auf Pferden und ein paar Munitionswagen waren auch dabei.
Nachdem sie über ihn hinweggeritten und gefahren waren ging es ihm echt schlecht. Mit einem mal war ihm
klar, daß ihm nicht klar war, wo seine Rippen jetzt schon wieder steckten, und auch seine Leber mußte wohl an
einem Pferdehuf hängen geblieben sein. Als wenn der Abend nicht schon sinnlos genug gewesen wäre. Da im
Dreck liegend hatte er eindrucksvoll miterlebt, und die Unterseiten der Pferde wohl auch, daß er nicht zum
Sterben geboren war. Er hatte sich nach Hause geschleppt, mit den Resten, die er irgendwann einmal Arm
genannt hatte und war in seinen Sarg gefallen, nachdem er vorher noch die Kellertreppe hinuntergefallen war
und sich auch noch drei Halswirbel gebrochen hatte, die die Pferde wohl irrtümlicherweise übersehen hatten.
Dieser ganze In-einem-schwarzen-Sarg-liegen-Mist war natürlich nur ein Spleen von ihm, weil er, nachdem der
Film erfunden wurde, so sein wollte wie Nosferatu. Am nächsten Morgen war er wieder völlig in Ordnung,
jedenfalls was seinen Körper betraf. Er hatte einen Kater, wie noch nie und dazu noch einen Hunger, der nach
all dem verlangte, was er gestern so großzügig unter die Natur gebracht hat. Nach drei Kannen Kaffee und vier
Pizzen fühlte er sich wieder soweit in Ordnung, daß er sich eine Strategie für den nächsten Abend überlegen
konnte.
Aber das alles lag in der Vergangenheit. Heute hatte er das Vampiersein zur hohen Kunst entwickelt. Er und ein
paar Freunde aus den guten alten Zeiten. Sie trafen sich einmal in der Woche bei einem anderen, immer Reihum
und machten Pizza und tranken aus schönen Karaffen das Blut aus der Konservenbank. Dabei machten sie
Witze und gedachten der vergangenen Tage. Wie sie gemeinsam Napoleon überstanden hatten und auch die
Weltkriege. Wie schecklich die Prohibition war, weil dann die Opfer weniger alkoholisiert waren, und sie
dachten an all die Vampirjäger, denen sie im Laufe ihres Lebens oder Todes, wie man will, begegnet waren.
Einer seiner Freunde hatte sich das Hobby zugelegt, über all diese Jäger Buch zu führen und sie auf dem
Sterbebett aufzusuchen um ihnen für dieses lustige Jagdspiel zu danken. Denn was keiner dieser Jäger bis zu
seinem Tode wußte war, daß diese ganze Sache mit den Kruzifixen, dem Koblauch, den Silberkugeln und den
Pfählen aus Eichenholz nichts weiter war als eine geschickt über Jahrhunderte aufgebaute
Falschmeldungskampangne, mit der alle auf den Arm genommen wurden.
Schaffte es tatsächlich ein Jäger einen Vampir mit einem Pfahl zu erlegen, dann zerfiel dieser immer auf
dramatische Weise zu Staub oder verging im Rauch, der aus seinem Körper aufstieg. Natürlich war das nur ein
kleiner Teil dessen, was ein Vampir so drauf hatte.
Hier in der neuen Welt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gab es keine Jäger mehr. Aber sie hatten
trotzdem noch viel Spaß.
War der Abend fortgeschritten, wurden die Vergnügungsspielchen immer extremer. Von Mäxchen-Würfeln mit
Salzsäure bis zu Russischem Roulette mit nur einer freien Kammer war ihnen nichts zu komisch, bis zu dem Tag,
an dem etwas wirklich schlimmes passierte: Einer der Vampire verliebte sich und als er seine Liebste küsste
verschwand er auf der Stelle, was bei allen Vampiren eine Todessehnsucht auslöste und sie sich auf die Frauen
stürzten um sie zu küssen und mit einem Mal wurde die Weltbevölkerung um ein viertel reduziert, nachdem 750
millionen Vampire verschwunden waren und die anderen 750 millionen Frauen vor lauter Herzschmerz
Selbstmord begangen hatten.
Von da an war das heulen der Werwölfe bei Vollmond lauter als das Schlagen der Fledermausflügel, das die
Luft erfüllt hatte.