Aresch Yawari, 29.12.95
Lange Schritte brachten ihn über die Brücke, unter der still ein Fluß dahinfloß. Tief versunken in seine Gedanken achtete er
nicht auf den Weg. Zu oft war er ihn damals gegangen, als er auf dem Weg zu seiner Arbeit war. Zwei Straßen weiter lag das
kleine Theater, in dem er mit seiner Karriere angefangen hatte. Viele Jahre hatte er dort gearbeitet und schließlich wurde auch
er entdeckt von einem dieser Agenten, die sich nächtelang in den kleinen Sälen rumtrieben und fähige Darsteller suchten, um
sie mit zwielichtigen Verträgen zu ködern und auszubeuten. In der Zeit war das Kino gerade in seinen Anfängen, aber es
zeichnete sich ab, das dieses Medium zu einem Riesenerfolg würde, und so versuchte jeder sich ein Stück von dem Kuchen
abzuschneiden.
Er vergrub seine Hände tief in den Manteltaschen. Die Kälte drang trotzdem bis an seine Finger. Mit diesen spielte er als
jungen Mensch perfekt Klavier, aber danach hat nie einer gefragt. Wichtig war das Aussehen, nicht das Können. Die Frauen
sollten ihm zu Füßen liegen, und das taten sie dann auch.
Bei dem Gedanken an seine damalige Freundin wurden seine Augen feucht und einen Seufzer konnte er auch nicht
unterdrücken. Tief in ihm tobte diese Unzufriedenheit mit sich selbst, die er in all den Jahren des Ruhms und der Erfolge nie
unterdrücken konnte. Bei vielen dieser Spaziergänge drängte sich immerwieder dieser einfache Gedanke in seinen Kopf: Er
könnte doch jetzt einfach immerweiter gehen und einfach nicht mehr in sein Haus zurückkehren. Seine Frau - ja diese Frau,
die mit ihm in einem Haus wohnt, die hat er wahrscheinlich nie richtig geliebt. Aber sie war ja so förderlich für die Schlagzeilen.
Jedenfalls hat ihm das sein Agent gesagt. Was war denn mit seinen Gefühlen, die er sich so leicht hat abkaufen lassen? Er war
sich nicht mal sicher, ob er überhaupt noch welche hatte.
Er hob seinen Blick und sah das Café in dem er sein erstes Filmangebot gefeiert hatte. Damals hatte er noch viele Freund.
Und er hatte sie. Er blieb stehen und eine Träne lief über seine Wange, als durch die Fenster in den verdunkelten Raum sah
und sich selbst erkannte, wie er mit ihr im Arm zu einem langsamen Walzer tanzte und leise etwas in ihr Ohr flüsterte. Leise
wiederholte er jetzt die Worte, so als wenn er sie eben erst ausgesprochen hätte.
Voller Wut auf sich selbst ballte er seine Faust und schlug mit aller Kraft gegen die Scheibe, die zu seinem Schreck nachgab
und laut zersprang. Großen Scherben fielen auf den Boden und brachen. Eine großer Splitter schnitt ihm glatt in den Unterarm,
doch von seinen Schock wie gebannt bemerkte er es nicht.
Schnell wandte er sich um und vergrub seine Hände wieder tief in den Taschen. Mit seinen langen Schritten überquerte er die
Straße und verschwand im Eingang des Friedhofs, der schon seit er denken konnte hier bestand. Als Kind war er hier oft mit
seinen Freunden am Tage gewesen und sie hatten sich gegenseitig erzählt was hier wohl in der Nacht für Gestalten
umherwandern würden. Jetzt war er eine dieser Gestalten. Tiefer Schmerz erfüllte sein Herz, als längst vergangene Bilder ihn
ihm aufstiegen.
Hier auf dem Friedhof war auch ihr Grab. Viele Jahre schon war er nicht hier gewesen, aus Angst alte Geister könnten ihn
holen und ihn mit sich ins Dunkle ziehen.
In seiner Tasche sammelte sich Blut aber er spürte es nicht, oder vielleicht wollte er es nicht mehr spüren.
Hier war er Zuhause, endlich daheim, bei seiner Liebe. Um nichts in der Welt wollte er jetzt wieder hier weg.
Er wurde müde und langsam verließen ihn seine Kräfte. Als er vor ihrem Gab stand, konnte er die Tränen nicht mehr
zurückhalten. Sie liefen ihm über die Wangen und er fühlte sich erleichtert sich nach all den Jahren richtig auszuweinen. Er
kniete nieder und streckte seine Blutverschmierte Hand nach ihr aus. Wie ein kleiner Schuljunge heulte er vor sich hin und von
ihm fiel alle Last. Jetzt war er wieder mit ihr vereint. Fast sah er sie durch die frisch blühenden Blumen der anderen Gräber
schreiten, ihn mit offenen Armen empfangen. Sie lächelte ihm zu und tanzte und er umschlang sie und mit einem kindlichen
Lächeln flüsterte er ihr wieder die Worte ins Ohr: "Ich liebe Dich, ich gehöre zu Dir!"
Das Lächeln war auf seinem Gesicht. Er fühlte die Wärme, die von ihr ausging, und er schlief ein.