Das Taijiquan besteht in seiner Ausführung aus zahlreichen kreis- und spiralförmigen Bewegungen, die fließend ineinander übergehen. Eine alte Regel besagt, daß man die Bewegungen in der gleichen Art durchführen sollte, wie man auch einen gesponnenen Seidenfaden von einem Kokoon ablöst. Diese Regel hat viele Bedeutungen und eine dieser ist, daß das Loslösen langsam, kreisförmig und kontinuierlich stattfinden muß. Ziehen wir den Faden mal hierhin, mal dorthin, ziehen wir ihn ruckartig, zu schnell oder zu langsam, dann reißt er ab oder löst sich nicht. Die spiralförmige Bewegung jedoch kann variieren, man kann die Kreise größer oder kleiner ausführen. Dieses Beispiel führt uns zu den Kreisen des Taiji. Manche Lehrer erzählen, daß man zu Beginn mit großen ausladenden Kreisbewegungen beginne und später dann, wenn die Technik beherrscht würde, zu kleineren Spiralen überginge.
Äußerlich betrachtet erscheint dies richtig. Dem Wesentlichen auf den Grund gelangen wir, wenn wir den Prinzipien des Taiji folgen. Letztendlich fließt die Kraft bzw. Energie der Bewegung von unten durch die Füße in die Leibesmitte, ins Dantian und wird, dort gebündelt, in die einzelnen Körperregionen ausgesandt. Dabei steuert diese Mitte die Aktionen, das Dantian ist Ausgangspunkt aller Bewegungen. Deshalb spricht man hier auch gerne von der sog. Zentrumsbewegung.
Für den Einsteiger ist es fast unmöglich, hiermit anzufangen. So konzentriert er sich zunächst auf die äußeren Bewegungen der Arme und Beine und bemüht sich um die äußere Form. Ein anderes traditionelles Bild für diese Form des Lernens der chinesischen Künste ist hier sehr treffend. Der Schüler lernt zuerst, die Kontur des Drachen zu malen, dann malt er ihn aus und dann erst wird durch den Lehrer das Auge des Drachen eingesetzt, welches ihn lebendig macht und in die Lüfte aufsteigen läßt.
Wenn dem Übenden die Kontur wichtig ist, so wird er viel Wert auf die Ausführlichkeit legen, und er wird sie groß und deutlich umschreiben. So ist es auch im Taiji. Beherrscht er die Lenkung aus dem Dantian, so bedarf es keiner großen ausladenden Arm- und Körperbewegungen, ja sie können sogar winzig und unmerklich sein und dennoch große Energie freisetzen.
Im Taiji gibt es den chinesischen Begriff "jia", das bedeutet soviel wie Rahmen, Raster, Form oder auch Kreis. Da wir es im Taiji durchweg mit Kreisen zu tun haben, wird hier der Kreis als Übersetzung verwendet. Am Anfang stand der "laojia", der alte Kreis, wie er von der Chen-Familie tradiert wurde. Aufgrund o.g. Ausführungen wird nun verständlich, daß der eine die Bewegungen so, der andere so ausführte und sich in dieser Variationsbreite verschiedene Kreise entwickeln konnten.
Dies geschah denn auch mit der Verbreitung des Taiji über die Familie Chen hinaus ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Chen Qingping entwickelte z.B. aus dem "laojia" zwei Formen mit dem "xiaojia", dem kleinen Kreis, der auch weiterhin in dieser Linie über Wu Yuxiang bis zu Sun Lutang tradiert wurde. Yang Luchan unterrichtete öffentlich zwei Formen des "dajia" - des großen Kreises - und sein Sohn Yang Jianhou entwickelte daraus den mittleren Kreis, den "zhongjia". Dessen Sohn Yang Chengfu prägte wiederum den "dajia", wie er heute noch im Yang-Stil weitestgehend praktiziert wird.
Yang Luchans älterer Sohn und Nachfolger Yang Banhou jedoch übernahm aus den Lehren seines Vaters den "xiaojia", den kleinen Kreis, und dessen Schüler Quan You, der Begründer des Wu-Stiles, unterrichtete den kleinen und den großen Kreis und sein Sohn Wu Jianquan wiederum nur den kleinen Kreis.
Vermutlich mag sich manchem Leser nun der Kopf vor lauter Kreisen drehen, jedoch wird hierdurch vielleicht einmal mehr verständlich, wie und warum es zu den verschiedenen Stilen gelangte, oder - wie der Laienmund es so markant kommentiert: "Das Taiji von Lehrer X sieht aber ganz anders aus als das von Lehrer Y! Welches ist denn nun das echte?"
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