Zum Hintergrund unseres Kurses:
Wenn
man wissen will, warum ein Autofahrer in keiner deutschen Stadt an seinen
Ausgangsort zurückkommt, wenn er viermal links abgebogen ist, dann macht es
wenig Sinn über die Intelligenz der Städteplaner zu spekulieren, - man
braucht einfach historisches Wissen: Die Straßen in einer deutschen
Innenstadt existieren seit dem Mittelalter, als man zu Fuß ging oder auf
einem Pferd saß; sie haben diese Straßen nicht für uns gebaut, sondern für
sich. So wie wir heute Computer bauen, - für uns, und nicht
für die Nachwelt (von der wir doch überhaupt keine Ahnung haben).
Ich
finde es hochinteressant, zurückzuschauen in die geschichtlichen Abläufe, um
zu verstehen, was unser Leben heute ausmacht. Wenn man sich die richtigen
Dinge anschaut, ist das - im Gegensatz zum üblichen Geschichtsunterricht -
nicht im geringsten langweilig. Was die normalen Menschen in ihrem
normalen Leben in den vergangenen Zeiten gemacht haben, ist äußerst
spannend. Viel spannender als zu erfahren, welcher König wann und wie lange
regiert hat.
Die LITERATUR hat
hier eine ganz spezielle Funktion: Sie nimmt uns mit auf die Reise in die
Vergangenheit, ohne uns auf die Schulbank zu setzen, denn sie erzählt uns
eine Geschichte, so als ob sie gerade passieren würde, selbst wenn sie uns
Figuren und Schauplätze aus vergangenen Jahrhunderten vor die Augen stellt.
Wir brauchen keine Kenntnis der Geschichte, um solche Geschichten in ihrer
Intensität zu empfinden.
ABER:
Diese Geschichten - wenn sie nicht aus der jetzigen Zeit stammen - sind in einer historischen Konstellation entstanden, die
anders war als unsere, und wenn wir sie gut verstehen wollen, dann
müssen wir ihrer freundlichen Aufforderung nachkommen und uns ein wenig
kümmern um die Bedeutung von ledigen Müttern, Holzdiebstahl im Wald eines
Aristokraten, Soldatenleben um 1800, Hunger in der Nachkriegszeit, die
sexuellen Tabus in der viktorianischen Zeit usw., usw. Wenn wir solche historischen
Fakten verstehen, dann sprechen die Texte doch noch ein wenig deutlicher und
farbiger zu uns.
Man
kann sich ja vielleicht vorstellen, dass jemand in 200 Jahren eine Geschichte
aus unserer Zeit liest und nicht weiß, dass es damals keine Hotels auf dem
Mond gab, dafür aber Telefone ohne Bildmonitor, Autos, die Benzin brauchten und
Leute, die gern in der Sonne saßen, weil das Ozonloch noch klein war. Dieser Leser hat dann einfach nicht das Wissen,
um die Situationen in den Texten zu verstehen. Im Prinzip ist das für alle
Menschen normal, jedenfalls zunächst einmal: So wie wir als Kinder nicht
wissen, das andere Kulturen andere Sprachen haben, so wissen wir als Erwachsene
nicht, dass eine Familie vor 500 Jahren etwas völlig anderes war als
heute; wir müssen erst lernen, dass wir unsere Sicht der Welt nicht für die
Welt halten dürfen.
Das ist ein
großes Anliegen dieses Kurses: Den Blick zu öffnen für das was in unserer
heutigen Welt nicht mehr existiert, - damals aber selbstverständlich da war. In
unseren Zeiten ist es vielleicht besonders wichtig, Egozentriertheiten in Wissen
umzuwandeln.