Es klingelte. Ich ging zur Tür und öffnete.
"Mutter, um Gottes Willen, wo kommst du denn her?"
"Hallo, mein Liebling, wie geht es dir? Du siehst gut aus!
Ich bin schon seit gestern hier in Berlin, aber du warst wohl
gestern nicht zu Hause?"
"Nein, ich - äh - war nicht da." (Zugegeben, nicht
gerade eine sehr informative Antwort, aber ich wollte ihr nicht
unbedingt auf die Nase binden, daß ich eine unglaublich
heiße Nacht mit einem meiner Gelegenheitslover verbracht
hatte!)
"Ja, das habe ich auch gemerkt! Ich mußte die Nacht
in einer ziemlich schäbigen Pension verbringen, es ist ja
wirklich furchtbar schwer, hier ein erschwingliches Zimmer zu
bekommen!"
Ich kam erst jetzt dazu, sie mir genauer anzuschauen: Rotes Kostüm, weißes Top, weißer Sonnenhut mit rotem Band, weiße Handtasche, weiße Pumps, große Perl-Ohrclips, passender Ring, natürlich Modeschmuck, eine neue Frisur (mit neuer Farbe: Mahagoni!) und dezent geschminkt war sie auch!
"Mutter, du siehst phantastisch aus! (Das war die Wahrheit,
wenn ich an früher denke!) Wirklich! Zehn Jahre, ach was,
fünfzehn Jahre jünger!"
"Du kleiner Schmeichler! Naja, was sollte ich denn gestern
anderes machen, als einzukaufen? Ich bin also ins KaDeWe und habe
mich neu ausstaffiert! Ich darf gar nicht daran denken, was das
alles gekostet hat, aber ich habe mir schon so lange nichts mehr
geleistet. Das letzte Mal waren es die schwarzen Sachen zur Beerdigung
deines Vaters."
" Ach, Mutter, das ist doch o.k."
"Sei ehrlich, findest du es nicht zu gewagt, ich meine für
daheim? Aber hier in der Stadt wollte ich einfach nicht wie zu
Hause 'rumlaufen, da sieht man mir den Dorftrottel ja meilenweit
an!"
Da hatte sie allerdings recht!
"Nein, es ist doch wunderbar! Und es steht dir super!"
Seit Vaters Tod vor zwei Jahren war sie wirklich aufgeblüht. Ich glaube, das empfand sie genauso. Und da sie jetzt finanziell einigermaßen gut dastand, konnte sie sich zwischendurch auch mal etwas leisten. Ich war froh, daß sie das auch tat.
Es klingelte erneut. Wieder ging ich zur Tür.
"Hallo Tilly, mein Schatz!"
Oh nein, ich hatte vergessen, daß Charlotte vorbeikommen wollte - jetzt war es zu spät!
"Hach, du kannst dir gar nicht vorstellen, was in der Stadt los ist! Jede Menge Touristen unterwegs! Schrecklich, diese Landeier! Oh, wen haben wir denn da? Guten Tag, ich bin Charlotte, Tillys beste Freundin, nicht wahr, mein Schatz? Hach, das ist aber ein niedlicher Fetzen, den Sie da tragen! Spätes Woolworth, würde ich sagen!"
Mutter schaute Charlotte ungläubig mit großen Augen an: Schwarze Radlerhosen, hautenges, oranges Adidas-T-Shirt, wasserstoffgebleichte, kurze Haare, geknickte Amphore mit angedeutetem Dekolletégriff, ebenfalls dezent geschminkt.
"Charlotte, darf ich vorstellen: Meine Mutter!" sagte
ich resignierend.
"Ach, ähem, das ist ja nett, Sie endlich mal kennenzulernen!
Mein Gott, Till, das ist mir aber peinlich! Das hättest du
mir aber auch wirklich früher sagen können!"
"Wann denn?"
"Ja, ähem, und ich bin Tillys, äh, ich meine Tills
Mutter. Jansen, guten Tag!"
"Nehmen Sie meine Bemerkung über Ihr Kleid bloß
nicht zu ernst, gnädige Frau! Wissen Sie, es ist für
meinen Geschmack einfach ein wenig zu konventionell. Aber es paßt
zu Ihnen, wirklich! Sie werden damit in wo-war-das-doch-gleich
bestimmt Aufsehen erregen!"
Nun entstand eine lange Pause. Betretenes Schweigen.
"Ja, nun setzt euch doch erst einmal." Ich wußte
auch nicht recht, wie ich eine möglichst harmlose Unterhaltung
in Gang bringen sollte.
"Und, Frau Jansen, wie gefällt Ihnen Berlin?" Auch
Charlotte war offensichtlich an einer harmlosen Unterhaltung interessiert.
"Och, ja, ganz gut. Ein bißchen viele Baustellen und
Dreck, aber es wird bestimmt 'mal sehr schön!"
"Naja, da habe ich so meine Zweifel, aber Sie haben recht,
es wird Zeit, daß die hohen Herren aus Bonn endlich anrücken,
mit all ihren Sekretären, Chauffeuren und Bodyguards. Das
tut der Szene hier bestimmt gut. Hier kennt man doch jeden! Wissen
Sie, Berlin ist ein Dorf! Ja, damals nach der Maueröffnung,
da gab es plötzlich so viele neue Leute in der Szene, aber
inzwischen habe ich die doch auch schon alle abgegrast. Nicht
wahr, Till, das geht dir doch genauso?"
"Nicht ganz, liebe Charlotte, nicht ganz!" Langsam wurde
ich auf Charlotte und ihr loses Mundwerk sauer.
"Ah, ich verstehe, falsches Thema. Hach, ich kann einfach
mein kleines Plappermäulchen nicht im Zaume halten, quel
dommage! Sind Sie noch länger hier in Berlin?"
"Das überlege ich mir gerade. Sie sind mit Till eng
befreundet?"
"Oh ja, enger geht's ja fast nicht! Nein, also wir sind nicht
zusammen, falls Sie das meinen. Und die paar Male, die wir...
Äh, ja, ich wollte sagen: Wir sind nur gut befreundet!"
"Ah, ja." Meine Mutter wirkte recht säuerlich,
wenngleich sich Charlotte wirklich große Mühe zu geben
schien.
"Till, möchtest du deiner Mutter nicht endlich etwas
anbieten? Du bist mir vielleicht ein Gastgeber! Wissen Sie, meine
Liebe, ich vertrete Sie hier in Berlin nämlich sozusagen.
Das habe ich Rick versprechen müssen, kurz bevor er starb.
"Charlotte," hat er gesagt, "gib mir auf den Kleinen
acht!" Und das habe ich immer getan! Die Szene hier ist manchmal
ein ganz schön heißes Pflaster, da ist es gut, wenn
sich jemand mit Erfahrung um ein solches Küken wie Till kümmert.
Und als Rick das nicht mehr konnte, habe ich eben die Mutterrolle
übernommen, wenn Sie verstehen, was ich meine! Ich kratze
jedem die Augen aus, der etwas Böses von Till will, das können
Sie mir glauben!"
Eigentlich wollte "das Küken" folgsam in die Küche gehen und einen Kaffee kochen, doch nun blieb ich doch, denn ich wußte ehrlich gesagt nicht, wie Mutter reagieren würde nach dieser Eröffnung, eine solche Stellvertreterin zu haben.
"Wirklich? Das haben Sie Richard, ich meine, Rick versprochen?
Das finde ich hochanständig von Ihnen - äh - Charlotte!
Wissen Sie, ich mache mir oft Sorgen um Till, hier in der Großstadt
lauern doch viele Gefahren auf einen jungen Menschen!"
"Mais oui, madame, und in viele davon wäre er auch beinahe
geraten. Aber die gute Charlotte konnte ihn immer davor bewahren,
nicht wahr, Schätzchen?"
Ich verdrehte nur die Augen und ging in die Küche. Die größte Gefahr schien gebannt, sie hatten einen Gesprächsstoff gefunden: das arme kleine Küken Till! Als ich wieder mit Geschirr, Kaffee und einigen Keksen bewaffnet ins Wohnzimmer kam, saßen die beiden einträchtig auf der Couch nebeneinander und unterhielten sich angeregt. Charlotte gab meiner Mutter Shopping-Tips, und diese merkte gar nicht, daß ich wieder da war, sondern nahm ganz automatisch die Tasse Kaffee, die ich ihr hingestellt hatte, so war sie ins Gespräch mit Charlotte vertieft. Es wurde noch viel geredet an diesem Nachmittag, hauptsächlich von Charlotte, ich versuchte vergebens, mich ein paar Mal in die Unterhaltung einzuschalten, schließlich gab ich es auf und beobachtete stattdessen fasziniert meine beiden Mütter, die sich prächtig amüsierten.
Ein Beispiel für meinen Status während des ganzen:
"Und wenn Sie gesehen hätten, meine Liebe, ich darf
Sie doch Else nennen - Was für ein schöner Name! - Till,
mach' noch mal Kaffee! Und bring' mir Zigaretten mit, ich darf
doch rauchen, nicht wahr? Danke, meine Liebe! - was der gute Till
für ein dummes Gesicht gemacht hat, als...."
Der Nachmittag verging wie im Flug, und als es dunkel wurde, meinte
Charlotte plötzlich:
"Huuuch, schon sooo spät! Nein, wie ist die Zeit vergangen!
Aber so angeregt unterhalten habe ich mich schon lange nicht mehr!
Aber nun muß ich unbedingt los! Ich muß mich nämlich
noch ein bißchen stylen für heute Nacht, in diesem
Aufzug kriege ich ja nun wirklich keinen Kerl ins Bett! Meine
liebste Else, ich hoffe, Sie bleiben noch recht lange in Berlin.
Wir müssen unbedingt mal etwas zusammen unternehmen! Vielleicht
gehen wir ein bißchen Shopping? Glauben Sie mir, da kenne
ich mich aus! Till, bringst du mich noch zur Tür?"
Froh, endlich wieder in Aktion treten zu dürfen, stand ich
auf und begleitete Charlotte hinaus. Draußen meinte sie
zu mir:
"Also wirklich, deine Mutter ist ja ganz reizend! Manchmal
etwas einfach strukturiert, aber gerade das macht ihren Charme
aus. Wenn sie mal einkaufen gehen will, ruf' mich an, aber nicht
vor zwölf! Ich gehe dann besser mit, sonst kauft sie noch
etwas von Betty Barclay! Uaaaahh! Also, mach's gut, chérie!"
Damit war sie entschwunden.
"Also weißt du, dein Freund ist ja etwas gewöhnungsbedürftig,
aber im Grunde ist er - also ich meine - sie wirklich nett!"
"Ja, Mutter, das ist sie!"